Zwinglis gefährdetes Erbe. Hans Peter Treichler

Zwinglis gefährdetes Erbe - Hans Peter Treichler


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einander nit anneme, belade noch gebruche, es syg des fleischessens, des predigens, oder derglich sachen und händlen halb, sonders mänklich fridlich und rüewig sye; dann es möchte einer so grob unvernünftig reden bruchen, man wurd in darumb hertiglich büessen. (Egli 237, S. 77)»

      Nachdem zu Beginn der diesjährigen Fastenzeit mehrere Personen ohne besonderen Anlass Fleisch assen, woraus sich viel Zank, Unruhe und Streit ergab, verkünden und mahnen der Bürgermeister, der Kleine und der Grosse Rat der Stadt Zürich jedermann, ob in der Stadt oder auf dem Land wohnhaft, dass ab sofort in der Fastenzeit niemand ohne besonderen Grund Fleisch essen solle. Dies gilt bis auf weitere Beschlüsse in dieser Sache, wie wir mit einer Delegation unseres Gnädigen Herrn in Konstanz verabredet haben. Unsere Herren wollen, dass niemand in dieser Sache mit Zank und Klagen aufwarte oder mit feindseligen und unpassenden Worten einen Streit verursache, ob es nun um das Fleischessen oder die Predigten gehe oder um ähnliche Dinge und Streitpunkte, sondern sich vielmehr ruhig und friedfertig verhalte. Sollte jemand grobe und unvernünftige Worte äussern, so wird man ihm deswegen eine harte Busse auferlegen.

       Kritisches Porträt

      In der Bevölkerung fand das Wurstessen sowohl Zustimmung wie harsche Kritik; manche feindlich gesinnte Zeitgenossen nahmen es zum Anlass für eine Generalabrechnung. Seit Zwingli hier predige, zürnte ein erboster Magister, sei die Stadt vom Glück verlassen; zuodem wäre alles erlogen, was er geseit; dann er all sin predigen us nid und hass getan hette.

      Dezenter als solche Schmähungen klingt ein kritisches Porträt aus demselben Jahr, das in seiner aufrichtig besorgten Tonlage durchaus glaubwürdig wirkt. Verfasst hat es Konrad Hofmann, einer der ältesten Chorherren am Grossmünster. Der 67-Jährige ist ein Befürworter der ersten Stunde und hat sich seinerzeit für die Berufung des Einsiedler Leutpriesters eingesetzt. Schon vorher hatte er sich mit bissigen Predigten gegen das Reislaufen und das Pensionenwesen exponiert und eine scharfe Attacke gegen den Zwang zum Zölibat geritten. Eigentlich der geborene Mitstreiter für den neuen Glauben – nur dass Zwingli in den Augen des älteren Kollegen eine viel zu forsche Gangart anschlägt. Schuld daran sind sein angeblicher Geltungsdrang und eine gewisse Überheblichkeit, mit der er sich über Andersdenkende lustig mache. Allzu oft vermittle Zwingli den Eindruck, er sei weiser und gelehrter als andere Geistliche und schöpfe als Einziger uss dem ursprünglichen brunnen, und die anderen uss den rinslinen und pfützinen.

      So jedenfalls der altgediente Chorherr in einer sogenannten Klagschrift, die er an Propst und Kapitel des Grossmünsters richtet. Sein Ziel: Die oberste geistliche Behörde soll dem unbotmässigen Pfarrherrn die Zügel straffziehen und seinen Tatendrang bremsen. Die Flausen und Unarten, die sie Zwingli womöglich austreiben soll, füllen einen grossen Teil von Hofmanns 26-seitigem Memorandum. Es beginnt mit Zwinglis angeblichem Missbrauch seines Platzes auf der Kanzel: Da würden in der Predigt namentlich genannte Personen geschänzelet, geschmächt, verlümdet und gelaidet und persönliche Fehden in aller Öffentlichkeit ausgetragen – zum Gaudi der Gemeinde, die derbe Sprüche natürlich über alles liebe. Diese Vorliebe nütze Meister Ulrich nur allzu gerne aus mit drastischen Schilderungen von sünd, laster und unfuog in gassen, trinkstuben, wirtshus, kloster oder geistlichen stätten und deroglichen. Kurz, unter dem Vorwand, das Laster zu bekämpfen, halte er das Publikum mit der Schilderung ebendieser Laster bei der Stange, vermische überhaupt ernste Anliegen immer wieder mit groben Spässen. Wer aber«wie Kunz hinter dem Ofen» so volkstümlich argumentiere, lasse keinen Platz für Besinnlichkeit und innere Einkehr. Überhaupt spreche Zwingli vor der Gemeinde viel zu schnell, wolle durch schnelligkeit des redens bi ungelertem volk sich wunderbar machen.

      Diese Effekthascherei mache auch nicht halt vor den ehrwürdigen Kirchenvätern. Manche nenne Zwingli ungeniert tolle fantasten, die ihre Lehren aus wüest pfützen oder mistlachen schöpften und einfach kurz niedergeschrieben hätten, was ihnen gerade in die grind sye kommen. Damit aber untergrabe er die Autorität der Kirche als Ganzes, stifte Unheil für die Propstei und die gesamte Glaubensgemeinschaft. Höchste Zeit, dass Propst und Kapitel diesem Treiben den Riegel schöben!

       Wie klingt Zürich?

      Über das vorreformatorische Zürich gibt es zahlreiche ausführliche Abhandlungen; vielfach beschrieben wird die einzigartige Regierungsform mit ihrer anderswo unbekannten Machtstellung der Handwerkerzünfte. Rege diskutiert wird auch die Sachlage der politischen Vorrangstellung der Stadt als «Vorort» der Eidgenossenschaft, die in wirtschaftlicher Hinsicht aber keine Entsprechung findet: Ökonomisch gesehen fehlt es der Limmatstadt an Ausstrahlungskraft. Was den städtischen Alltag um 1500 betrifft, so liegen kaum zusammenhängende Untersuchungen vor. Rund um Zwinglis erste Amtsjahre interessieren hier aber auch Themen jenseits der theologischen oder politischen Fragestellung. Was fällt einem Neuankömmling wie Zwingli auf, was befremdet, was fasziniert ihn an dieser Stadt?

      Zwingli hat in Wien studiert, in Basel seinen Magister gemacht und an der Universität gelehrt. Im städtischen Umfeld, mit städtischen Umgangsformen und Hierarchien kennt er sich aus, ja er bringt eine gewisse Weltläufigkeit mit, die manchen aus ländlichen Verhältnissen stammenden Reformatoren abgeht. Trotzdem muss er sich mit vielem erst vertraut machen, was diese Stadt von anderen Städten der Eidgenossenschaft abhebt. Unübersehbar ist die Rolle der Klöster, allein schon wegen des Terrains, das Franziskaner und Prediger für sich beanspruchen: Mehr als ein Zehntel der rechtsufrigen Stadt belegen die reich gewordenen Bettelorden. Das Fraumünsterstift herrscht nicht nur über die gegenüberliegende Stadthälfte; vielmehr ist die Fürstäbtissin die grösste Grundbesitzerin der Region und Inhaberin zahlreicher Rechte, die sie – in der Theorie – zum Stadtoberhaupt machen.

      Vor allem aber: Zürich lebt am Wasser, mit dem Wasser, viel ausgeprägter als etwa das in einer Aareschlaufe liegende Bern oder Basel mit seinen Rheinhäfen. Etwa ein Fünftel der 5000 Seelen zählenden Einwohnerschaft Zürichs lebt von der Schifffahrt und verwandten Berufen. Der See und der Fluss sind überall präsent, als wichtiger Teil des Wasserwegs, der von Basel über Rhein, Limmat und Zürichsee, weiter über Linth und Walensee zu den Alpenübergängen führt. Als wichtigste Station dieser Route ist die Stadt Zielort oder Umschlagplatz und weist entsprechend zahlreiche Landestellen auf. Schwere Lastkähne mit Steinfuhren vom Obersee machen unweit des Fraumünsters fest, die Marktschiffe der Seegemeinden an der Schifflände beim Raben, und hier warten auch Pilgerschiffe auf Gläubige, die nach Einsiedeln wallfahren. Die Kornschiffe landen vor dem Kornhaus, und gegenüber, in der Staad beim Rathaus, wird Fracht auf die leichteren Limmatschiffe umgeladen, von denen manche ihre Fahrt Richtung Norden erst in einem holländischen Hafen beenden. Selbst der Fröschengraben, der Wassergraben ausserhalb der westlichen Stadtmauer, ist schiffbar, und die Sihl speist im Oetenbachquartier zwei Kanäle, an denen mehrere Mühlen betrieben werden. Das Plätschern, Rauschen, Brausen und Ziehen des Wassers bildet die Geräuschkulisse des Alltags, untermischt mit den Zurufen und Fluchworten der Schiffleute. Es ist ein raues Volk, bestehend aus unzimperlichen Meistern und Gesellen. Dasgeht hervor aus den ständig neu aufgelegten Satzungen, die das Fluchen unter Strafe stellen und die Schiffer anhalten, sie hätten


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