Essentielles Sein. A.H. Almaas
mich kenne, weil das wirkliche Selbst immer da ist. Aber für meinen Körper und meinen Geist (mind) gibt es mehr Ruhe, gibt es mehr Frieden, gibt es mehr Lust und mehr Entspannung, wenn ein Wissen (knowingness) da ist, daß ich jenseits von all dem bin.
Ob es für irgendetwas gut ist, ist vollkommen irrelevant. Die Frage stellt sich aufgrund der einfachen Tatsache, daß ihr nicht wißt. Diese Frage ist eine Aussage, und die Aussage lautet, daß ihr nicht wißt, wer ihr seid. Ihr könnt nicht nicht wissen, wer ihr seid, und nicht diese Frage stellen. Es ist unmöglich. Ihr könnt so tun, als wüßtet ihr, um die Frage für eine Weile zum Schweigen zu bringen, aber solange ihr nicht wißt, ist die Frage immer da. Wir versuchen oft, uns gegenüber der Unausgefülltheit, die mit der Frage verbunden ist, abzustumpfen. Aber das kann man nur um einen hohen Preis tun – eine Verminderung des Lebens.
Die Leute würden die Frage abwürgen, sie zum Schweigen bringen. Es gibt zwei Motive hinter diesem Begehren: nicht leiden wollen, und das tiefere Motiv, daß die Frage beantwortet werden muß. Die Frage stellt sich, weil ihr die Antwort nicht wißt. Und sie wird sich weiter stellen, sie wird euch begleiten, bis sie beantwortet ist. Sie hat eine eigene Kraft. Das ist eine Tatsache, ein Naturgesetz. Das Fragen ist immer da, bis es schließlich keine Frage mehr gibt.
Der Abgrund
Jeder von uns hat ein zentrales Bedürfnis: in seinem Leben einen Sinn zu finden. Dieser Trieb liegt vielleicht nicht offen zutage, er ist vielleicht nicht einmal bewußt. Aber wenn ihr die Situation untersucht, dann werdet ihr den Einfluß dieses Triebes bei den meisten Aktivitäten und Sorgen in eurem Lebens erkennen. Philosophie, besonders die Philosophie des Zwanzigsten Jahrhunderts in Form des Existentialismus und der Phänomenologie, befaßt sich zum großen Teil mit der Frage der Leere und der Sinnlosigkeit des Lebens. Ich glaube, daß dieses Interesse in der Philosophie – wie auch in der Literatur und den Künsten – ein zunehmendes allgemeines Bewußtsein des Sinnthemas widerspiegelt.
Manchmal stellt ein Mensch den Sinn des Lebens ausdrücklich in Frage. Meistens aber sind die Menschen mit den Aktivitäten und Unternehmungen beschäftigt, die ihrem Leben vermeintlich Sinn und Bedeutung geben. Selten gelangen wir zu dem Punkt, in Frage zu stellen, weil wir gewöhnlich versuchen so zu tun, als wüßten wir die Antwort bereits. In der Hoffnung, daß sie ihrem Leben Sinn geben, kreieren die Menschen alle möglichen Ziele. Zu diesen Zielen gehören im allgemeinen Pläne, in der Zukunft etwas zu erreichen, wie zum Beispiel kreativ, erfolgreich und reich sein, reisen können, gewinnen und so weiter. Denkt an die Liedzeile: „What’s it all about, Alfie? Is it just for the moment we live?“ (“Und wozu das alles, Alfie? Ist das alles nur für den Moment, den wir leben?“) Vielleicht. Vielleicht leben wir nur für den Augenblick. Philosophie ist ein Versuch, diese Frage zu beantworten. Letztlich kann man Philosophie als die Wissenschaft vom Sinn sehen. Doch die Frage nach dem Sinn des Lebens ist nicht nur eine intellektuelle Übung. Wenn ein Mensch wirklich sein Leben in Frage stellt, dann fühlt sich das nicht intellektuell an. Es fühlt sich an, als hätte das Leben keinen Wert, keinen Sinn. Auch wenn wir uns dieses Themas nicht bewußt sind, haben wir dauernd damit zu tun, selbst bei unseren alltäglichen Aktivitäten. Auch wenn wir andere Sorgen haben, ist dieses Thema zentral und liegt unseren offensichtlicheren Sorgen oft zugrunde.
Eine andere Möglichkeit, die Frage „Was ist der Sinn des Lebens?“ zu betrachten, könnte sein: „Was ist die Bedeutung des Lebens? Warum tue ich das, was ich jeden Tag tue? Wozu morgens aufwachen, auf die Toilette gehen, meine Zähne putzen, mich waschen, frühstücken, zur Arbeit gehen, mit Menschen sprechen, nachhause kommen, zu Abend essen, mich gut unterhalten, schlafen gehen? Jeden Tag mache ich diese Dinge. Wozu das alles? Ein Tag reicht, wenn ich diese Dinge kennenlernen will. Ich brauche nur einmal zu essen, um zu wissen, wie essen ist. Warum mache ich dann immer weiter? Was habe ich davon?“
Ich stelle eine fundamentale Frage, damit ihr darüber nachdenkt und – wenn dieses Thema für euch aktuell wird – bei der Frage bleiben könnt, ohne sie mit einer oberflächlichen Antwort abzutun. Damit ein Mensch zu diesem Thema des Sinns gelangt, muß er in seinem Leben schon enttäuscht worden sein, entweder dadurch, daß er seine Ziele erreicht hat oder dadurch, daß er in seinen Träumen enttäuscht worden ist. „Meine Mutter wollte, daß ich einen Arzt heirate, und mein Vater wollte, daß ich Erfolg habe, und das habe ich erreicht. Ich habe zwei Kinder und alles, wovon ich geglaubt habe, daß ich es will. Aber nichts ist gelöst, ich fühle mich immer noch genauso. Ich warte immer noch, ich suche etwas. Ich habe die Dinge erreicht, die ich mir vorgenommen habe, und ich bin nicht zufrieden.“
Das ist oft der Punkt, an dem ein Mensch anfängt, Fragen zu stellen – wenn die Träume verwirklicht sind, sich aber keine Zufriedenheit einstellt. Vielleicht habt ihr über diese Fragen ja auch in der Schule nachgedacht, als eure Lehrer oder eure Eltern das durchgemacht haben und desillusioniert wurden. Euer Lehrer wirft also diese Frage auf, und ihr fangt an, euch intellektuell dafür zu interessieren. Klingt interessant. Ihr seid jung, ihr wollt alles in Erfahrung bringen – oder vielleicht wollt ihr nur eine Eins im Fach „Sinn des Lebens“.
Ihr schließt also die Schule ab, beginnt eine Familie zu gründen und eure Karriere aufzubauen, auf eure Erfolge hinzuarbeiten und eure Ideale zu verwirklichen, was immer sie sind. Manche Menschen erreichen ihre Ideale oder verwirklichen ihre Pläne niemals; dann hoffen sie immer noch, daß der große Triumph noch kommt. Vielleicht schieben sie den Erfolg sogar hinaus, damit sie sich dem Bewußtsein nicht stellen müssen, daß er ihnen keine Erfüllung bringt. Wenn sie ihre Ziele niemals erreichen, brauchen sie den Sinn ihres Lebens nicht zu hinterfragen. Ein paar glückliche Menschen verwirklichen ihre Träume, und diese Frage stellt sich für sie ganz natürlich. Wenn sie empfindsam sind, lassen sie sich dann nicht mehr so leicht von dieser Frage ablenken.
Es ist nicht leicht, jemanden, der noch Träume, Pläne und Ideale hat, die noch nicht verwirklicht wurden, davon zu überzeugen, daß die Frage des Sinns wichtig ist und daß sie nichts mit all diesen Dingen zu tun hat, ganz gleich ob sie verwirklicht wurden oder nicht. Aus diesem Grund wurden in Schulen innerer Arbeit früher nur Menschen in reiferem Alter angenommen. Jüngere Menschen hielt man nicht für fähig, die Hoffnung darauf aufzugeben, daß die Verwirklichung ihrer Träume sie befriedigen würde, außer sie waren vielleicht schon sehr früh enttäuscht worden.
Wie ihr wahrscheinlich beobachtet habt, sind die meisten von uns noch so gestrickt, hoffen wir immer noch, daß dieser oder jener Plan es bringen wird. Es ist völlig in Ordnung, Kinder, einen Job, bestimmte Ideale zu haben, nach denen man leben will. Aber diese Dinge beantworten die Sinnfrage nicht. Sie haben eine anderen Zweck: sie unterhalten euch, füllen euch den Bauch, wärmen euer Bett, leisten euch Gesellschaft und schenken euch Intimität, liefern etwas, womit man sich beschäftigen kann. Aber sie liefern euch nicht den Sinn des Lebens.
Es hängt von vielen Dingen ab, ob man sich dieser essentiellen Frage stellt. Es hängt davon ab, wie intelligent man ist, wieviel Erfahrung man in seinem Leben gesammelt hat, von der Erziehung in den frühen Jahren der Kindheit, von vielen Faktoren. Und Menschen benutzen viele Tricks und Ablenkungen, um die Konfrontation mit dieser Frage zu vermeiden.
Manchmal strengt sich ein Mensch aus ganzem Herzen und mit seiner ganzen Energie zwanzig oder vierzig Jahre lang an, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Etwas treibt ihn dazu, seine Ideale zu verwirklichen. Er braucht dieses Ziel nicht zu erreichen, um zu überleben oder um seine aktuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Was bedeutet ihm dann sein Erfolg? Vielleicht ein wenig mehr Geld, als er vorher hatte. Aber ist es das, was ihn antreibt? Ist das der Sinn von Erfolg? „Also, ich werde mich mit mir selbst besser fühlen, es wird mir dann gut gehen, ich werde das Gefühl haben, daß ich wertvoll bin.“ Es gibt seinem Leben also eine Art Bedeutung, Wichtigkeit und Sinn, und das ist die treibende Kraft. Wir idealisieren bestimmte Dinge, und dann glauben wir, daß diese Ideale unseren Aktivitäten Sinn und Bedeutung verleihen. Um zu fühlen, daß das, was wir tun, bedeutsam ist, klammern wir uns an ein Ideal, projizieren Vollkommenheit in die Zukunft und arbeiten darauf hin.
Die Suche nach Bedeutung, nach dem Gefühl, das Leben, das wir leben, lohne sich, ist also die wirkliche Basis all unserer Träume. Wenn ihr euch einer Gruppe innerer Arbeit anschließt, dann macht ihr vielleicht die Selbstverwirklichung zu eurem Ideal. Das ist immer noch