Mythen, Macht + Menschen durchschaut!. Christoph Zollinger
eindrückliche Recherchearbeit der beiden Autoren. Mit der Schilderung des rasenden Tempos der Kommunikationsentwicklung beginnt ihr Tour d’horizon. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts explodierte die Zahl der mit dem Internet verbundenen Menschen von 350 Millionen auf mehr als 2 Milliarden. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Smartphonenutzer von 750 Millionen auf weit über 5 Milliarden (aktuell: 6 Milliarden). Im Jahr 2025 wird die Mehrheit der Erdbevölkerung — innerhalb einer Generation — Zugang zu praktisch allen öffentlichen Informationen der Welt haben. Dannzumal werden geschätzte 8 Milliarden Erdbewohner online sein. Aufgrund des »Mooreschen Gesetzes« verdoppelt sich die Geschwindigkeit der integrierten Schaltkreise (chips) alle 18 Monate. Das heißt nichts anderes, als dass die Computer des Jahres 2025 64-mal schneller sein werden als unsere heutigen.
Das Internet ist das größte Experiment der Geschichte. Hunderte von Millionen Menschen erschaffen und konsumieren jede Minute digitale Inhalte in der neuen Welt ohne territoriale Grenzen und Gesetze. Damit ist das Internet der Welt größter »unregierter« Raum. In der Folge werden sich fast alle Aspekte unseres Lebens verändern. Jahrhundertealte Kommunikationsbarrieren verschwinden. Im Gegensatz zu früheren »Revolutionen« wird dies die erste sein, die es praktisch allen Menschen erlaubt, an Informationen und Wissen zu gelangen und dieses weiterzuentwickeln, ohne auf »Zwischenhändler« angewiesen zu sein. (Unserem rührigen Datenschützer in Bern muss es schwindlig werden.)
Mit dem beispiellosen Vorrücken der globalen Online-Welt werden viele herkömmliche Gebilde und Hierarchien Gefahr laufen, in der modernen Gesellschaft obsolet oder irrelevant zu werden. Es sei denn, sie adaptierten sich rechtzeitig. Gleichzeitig werden sich die alten Machtstrukturen von Staaten und Institutionen weg und hin zu Individuen verlagern. (Einen Vorgeschmack dessen erleben wir zurzeit mit den Volksaufständen im Mittelmeerraum.) Für autoritäre Regierungen wird es schwieriger werden, ihre online-informierte Bevölkerung zu kontrollieren. Demokratisch regierte Staaten werden in Betracht ziehen müssen, dass viele neue Stimmen (neben den »alten« politischen Parteien und Verbänden) mitreden werden. Die alten Machtzirkel zerfallen.
Natürlich werden die neuen Technologieplattformen von Google, Facebook, Amazon, Apple dazu führen, dass diese Konzerne immer mehr subtile Macht ausüben können. Umso wichtiger scheint, dass der technologische Wandel rechtzeitig einigen humanverbindlichen Richtlinien unterstellt wird. Schließlich wird davon abhängen, wieweit die guten, aufbauenden Resultate gegenüber den schlechten, zerstörerischen Einflüssen Oberhand behalten werden.
In der Pipeline ist bereits der nächste Entwicklungsschritt. Verbesserte voice recognition (Spracherkennungssoftware) wird zur Sofort(v)erfassung von E-Mails, Notizen, Reden führen. Diese erneute Effizienzsteigerung (die meisten Menschen reden schneller, als sie schreiben – allerdings oft auch, als sie denken) wird das Eintippen auf der Tastatur ablösen. Ins gleiche Kapitel gehören die stark verbesserten tools, die Sprachen sofort in gewünschte, andere Sprachen übersetzen. Dies wiederum wird die Interaktivität in Firmen und Organisationen mit ihren Kunden, Partnern und Mitarbeitern revolutionieren.
Und natürlich: Das Bildungswesen wird erneut durchgeschüttelt. Individuelle Lehrprogramme, die sich selbst anpassen an die Lernfähigkeit einzelner Kinder (statt des Lehrers Lehrfähigkeit), werden Tatsache.
Was das Autofahren betrifft, tut sich bekanntlich einiges. Einen Vorgeschmack dessen, wie es dereinst auf unseren Straßen zugehen wird, gibt Google’s Flotte von driverless cars, die von einem Team in Zusammenarbeit mit Ingenieuren der Stanford University entwickelt wurde. Diese führerlosen Pilotautos haben bereits Hunderttausende von Kilometern auf Straßen und Autobahnen ohne Zwischenfälle absolviert.
Die Autoren sind keinesfalls blinde Verfechter ihrer Theorien. Ausdrücklich verweisen sie in den einzelnen Kapiteln (Zukunft für Gesellschaft, Staat, Revolution, Terrorismus, Konflikt und Krieg) auf neue Gefahren, die mit der Entwicklung einhergehen. Ihre Zuversicht für die Chancenseite der Medaille (Rückseite: Gefahren) ist intakt. Im neuen Transparenzgebot weltweit sehen sie alte, gesellschaftliche Forderungen erfüllt. (Das schweizerische Bankgeheimnis lässt grüßen.) In der brave new world werden bereits heute innert zweier Tage mehr digitale Aussagen (digital contents) gemacht als seit Beginn der Menschheitsgeschichte bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ob dieser quantitative Informationstsunami die Welt vorwärtsbringt? Ich hoffe, zumindest in Ansätzen.
Abschließend, sozusagen als Verdauungshilfe, hier die Schilderung eines durchschnittlichen Morgens zuhause: »Statt des Weckers wird dich das feine Aroma des automatisch frischgebrühten Kaffees sanft aufwecken. Während die Rollläden hochgehen, wird dir das High-tech-Bett noch eine subtile Rückenmassage applizieren. Du wirst erfrischt ans Tageswerk gehen, da ein in der Matratze eingebauter Sensor in Übereinstimmung mit den REM-Phasen deinen Schlafrhythmus reguliert hat. Per Handklick oder verbale Aufforderung werden Temperatur, Feuchtigkeit, Licht und Hintergrundmusik gesteuert …«
Wie der Tag weitergehen wird, lesen Sie am besten selbst. Denn in dieser Kolumne kann ja nur rudimentär und selektiv berichtet werden. Sicher wird auch bald eine deutsche Übersetzung des Buches vorliegen.
15. Juni 2013
Nr. 87
Transparenz als System
Philosophisches Update nach 2500 Jahren (Teil 5)
Die Geburtsstunde der Demokratie liegt 2500 Jahre zurück. Transparenz und Information, jene Grundlagen dieses Systems und die Anforderungen an Politiker, sind geradezu beunruhigend modern.
»Programme entwerfen, Perspektiven aufzeigen, Visionen eröffnen. Dies ist die Domäne der Politiker. Transparenz bildet die selbstverständliche Grundlage dieses Systems. Hohe Anforderungen gelten für jene, die das Wort ergreifen. Zu diesen Tugenden zählen: Intelligenz, Schlagfertigkeit, Sachkunde, Selbstbewusstsein. Die guten Rhetoriker sind gewaltig im Vorteil. Allerdings: Die Redefertigkeit von Demagogen, Volksführern ohne Rechenschaftspflicht, kann dazu führen, dass in Lebensfragen Rhetorik statt Sachverstand und Karrieredenken statt Verantwortungsbewusstsein den Ausschlag geben« (»Perikles«, Carl Wilhelm Weber).
Kurz und bündig, hochaktuell und unbestritten, liest sich diese »zeitgemäße« Charakterisierung eines demokratischen Systems. Doch Achtung! Formuliert wurde sie zur Glanzzeit Athens, als die einzigartige Kultur der griechischen Antike erblühte. Vor 2500 Jahren …
Perikles hat jener Epoche den politischen Stempel aufgedrückt. In dieser Kolumne ist diesmal nicht die Rede von den Überlieferungen der großen Philosophen. Vielmehr geht es um den umstrittenen Politiker und Strategen – jenen Menschen, der sich während 40 Jahren an der Spitze des Staates bewegte, davon 15 als Stratege – im Besitz der höchsten Macht und Gewalt. Obwohl die Amtsdauer nur ein Jahr betrug. Für eine Wiederwahl mussten die Wahlberechtigten einverstanden sein.
Seit 451 v. Chr. stand Perikles im Vordergrund der attischen Politik. Er verfügte über eine quasi monarchische Position innerhalb der jungen Demokratie. Doch nochmals: In aller Offenheit und Öffentlichkeit hatte das Volk einverstanden zu sein mit seiner Amtsführung. Neidlos mussten die Korinther eingestehen: Wenn man es mit einer Stadt wie Athen zu tun hat, die ständig Neues hervorbringt, kann man nicht am Alten festhalten. Man muss sich vielmehr seinerseits verändern. Zweifellos eine kluge Einschätzung.
Als Visionär und Macher ging Perikles in die Geschichte ein. Er ließ die Akropolis erbauen, jenes Monument Athens, das einer steinernen Staatsidee gleichkommt. Er machte Ernst mit der Demokratie (allerdings nicht vergleichbar mit unserem heutigen demokratischen Verständnis) und sein Name stand für ein liberales, kunstliebendes und wohlhabendes Gemeinwesen. Gleichzeitig haftete Perikles ein Negativbild an. Als glänzender Ideologe zeichnete er 431 v. Chr. hauptverantwortlich für den Bruderkrieg gegen Sparta, später bekannt als der Peloponnesische Krieg. Dieser endete nach dreissig Jahren mit dem Sieg Spartas, was gleichbedeutend war mit dem Ende des klassischen Zeitalters Athens und der attischen Demokratie.
Perikles war ein begnadeter Rhetoriker. »Reden zu können wurde in der Demokratie zur wichtigsten Erfordernis einer politischen Karriere« (Carl Wilhelm Weber). Perikles fühlte die Stimmung im Volk und setzte diese geschickt zum eigenen Vorteil ein. Er bezahlte Taggelder und machte so Geschworene und Richter