Mythen, Macht + Menschen durchschaut!. Christoph Zollinger
und Nassim Nicholas Taleb): »Wir müssen nicht den Menschen ändern, sondern die ökonomischen Theorien, die sein Verhalten angeblich abbilden, es in Wahrheit jedoch konditionieren. Die Ökonomie ist zu einem Fetisch geworden. Die Utopie von heute ist ständiges Wachstum. Das ständige Wachstum hat mittlerweile die Züge eines religiösen Glaubens angenommen« (Schweizer Monat, Ausgabe 1008).
Ökonomen, Politiker, ja die ganze Gesellschaft, wir sind alle gefordert. An erster Stelle wohl die Ökonomen, jene an den Universitäten und jene im Tagesgeschäft. Nicht wenige von ihnen ignorieren gerne das Thema »Stagnation des Wirtschaftswachstums« ganz nach dem Motto: Was nicht sein kann, darf nicht sein. Menschen ändern ungern ihre Meinungen, das ist bekannt. »Instinktfalle« nennen das die Neurologen. Wir tendieren dazu, bei unseren alten Meinungen zu verharren, auch wenn viele neue Faktoren dagegen sprechen. Da sind die Exponenten der Finanzindustrie gefordert. Diese funktionierte in den letzten Jahrzehnten nicht rational, wie man uns weismachen wollte, eher verstieg sich dieser Zweig der Nationalökonomie in längst überwunden geglaubte Sphären. Sie mutierte zurück zu einer Art Religion (religio = zurück) – einem Weltbild des Mittelalters. In den Himmel kommen ihre Gefolgsleute allerdings nicht.
Halten wir uns vor Augen: Zwischen Christi Geburt und dem Jahr 1820 ist das Durchschnittseinkommen der Menschen nur um die Hälfte gestiegen. Ein Wachstum in dieser Größe haben wir in einigen europäischen Ländern, darunter der Schweiz, in den vergangenen 25 Jahren realisiert. Dieses enorme Wachstum beruht auf einem hohen Verbrauch natürlicher Ressourcen.
Wird das Wirtschaftswachstum der Zukunft aus anderen Quellen alimentiert werden? Ein wichtiger Rohstoff ist Wissen. Im Gegensatz zu anderen Ressourcen ist Wissen nicht endlich. Wenn wir heute nicht wissen, worin zukünftige Lösungen bestehen werden: Die Forschung nach – zumindest weniger ökologisch belastenden – Impulsen beruht auf einer Denkwende und diese auf neuem Wissen.
Für unser Land im Speziellen stellt sich die Frage, ob und wie lange wir die Zuwanderung als eine Art Perpetuum mobile verstehen, einem einlullenden Konstrukt »Wachstum generierenden Wohlstandstreibers«. Ein Dilemma, das wir nicht gedankenlos der nächsten Generation überlassen sollten. Vorerst halten Illusionen die Motivation für Wachstum – dem Doping unserer Zeit – aufrecht und gleichzeitig den gut geschmierten Wachstumsmotor in Gang. Sind Illusionen einmal verflogen, kommen sie nicht wieder.
Peter Sloterdijk meinte 2011, dass wir weltweit der Frage nachzugehen hätten, wie die Leerformel vom unbegrenzten Wirtschaftswachstum, diese Wunsch-Praktiken auf der Basis der modernen Ökonomie, mit dem Überleben der Gattung auf dem Planeten verträglich wäre.
Wir sind alle gefordert. Nachdenken ist nicht umweltbelastend und nicht Bestandteil des Bruttosozialprodukts. Trotzdem ist nur die Gesellschaft als Ganzes in der Lage, eine Trend- und Denkwende zu bewirken.
14. August 2013
Nr. 93
Die Macht des Wortes
Philosophisches Update nach 2500 Jahren (Teil 6)
Erfolgreiche Politiker bedienen sich der Rederezepte aus dem antiken Griechenland. Mit persönlichem Erfolg, jedoch nicht immer zum Wohl des Landes.
(In loser Folge sind diese Updates jeweils auf eine herausragende Figur der Antike fokussiert und sollen auf besonders aktuelle Bezüge zur Gegenwart hinweisen.)
Demosthenes von Athen gilt als bedeutendster Redner der Antike. Seine Reden aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert waren über zwei Jahrtausende fester Bestandteil des abendländischen Bildungskanons. Neben Perikles, dem Strategen, ist der Rückblick auf diese eher tragische Figur aus drei Gründen besonders aufschlussreich:
– Entscheidende Macht des Wortes
– Fatale Polarisierung zwischen zwei Parteilagern
– Inflationsgefahr als Folge der Geldmengenausweitung
Es geht ja bei diesen Updates in erster Linie darum, festzustellen, was die Welt des 21. Jahrhunderts als Relikte jener die Demokratie prägenden Zeit auffindet. Und was nach über 2000 Jahren als Erkenntnis heute noch geortet, gelobt oder verdrängt wird. Geradezu überraschend ist die Entdeckung, dass clevere Politiker sich heute mit großem Erfolg nach den Regeln ihrer antiken Redner-Vordenker verhalten. In jedem europäischen Land gibt es sie ja, in Deutschland rufen sie nach der Kavallerie, in der Schweiz – besonders laut polternd – nach »Sicherheit für alle«. In Italien – ach, lassen wir das.
Bevor die drei oben genannten Gründe beleuchtet werden, ist dem Weg Demosthenes’ zum Meister der Rhetorik nachzugehen. Der begnadete Redner investierte in jungen Jahren viel Geld in ein spezielles Trainingsprogramm, um dereinst den Herausforderungen der politischen Agora gewachsen zu sein. Bei seinem Joggingtraining machte er Sprechübungen und deklamierte lange Texte mit einem Kieselstein im Mund. Damit legte er den Grundstein zum Redenschreiber, der ersten Station auf dem Weg zum erfolgreichen, öffentlich auftretenden Rhetores. Im Unterschied zu weniger redegewandten Politikern – diese mussten die eingekauften Reden vor ihrem Auftritt auswendig lernen – brillierte Demosthenes später mit Eigenproduktionen. Die ersten Auftritte erfolgten in Zivilprozessen. »Der Sprecher hatte sich als einfacher und ruhiger, im Gerichtswesen unerfahrener Bürger vorzustellen. Zornige, persönliche Attacken auf den Prozessgegner waren unerlässlich, wobei es bei der Pointierung weitaus weniger auf den Wahrheitsgehalt als auf den aktuellen Unterhaltungswert ankam. […] Zusammenfassung der gesamten Argumentation und ein gut inszenierter Appell an die Emotionen der Richter durften nicht fehlen« (Gustav Adolf Lehmann: »Demosthenes von Athen. Ein Leben für die Freiheit«). Mit der Politik vertraute Schweizerinnen und Schweizer entdecken da zweifellos die Parallelen zu heutigen Redenschreibern, auch mit universitärem Hintergrund.
Die entscheidende Macht des Wortes
Wer als Politiker reüssieren wollte, musste also reden können, ausgezeichnet, polemisch, faszinierend. Seine Gesellenstücke lieferte Demosthenes mit Anklagen gegen Spitzenpolitiker (heute: »die da oben«). Gestritten wurde u.a. über … die Reform des Sozialstaates.
Fatale Polarisierung zwischen zwei Parteilagern
In den 350er-Jahren waren Politik und Öffentlichkeit von einer für das Gemeinwohl fatalen Polarisierung zwischen zwei Parteilagern erfasst worden, die sich gegenseitig blockierten. Demosthenes distanzierte sich deutlich und grundsätzlich von dieser Haltung. Er erkannte die Systemwidrigkeit einer ausgeprägten und dauerhaften polarisierenden Lagerbildung im Rahmen einer direkten Demokratie. Diese wäre – so fand er – auf eine kontinuierliche und loyale Zusammenarbeit aller Kräfte und einen beständigen, offenen Wettbewerb unter ihren Politikern besonders angewiesen. Dass man sich in Athen schon in der Ära Perikles gegen den Versuch einer politischen Fraktionsbildung in den Versammlungen gewehrt hatte – eine interessante Erkenntnis, auch heute noch.
Inflationsgefahr als Folge der Geldmengenausweitung
In unserer Zeit, da Nationalbanken und europäische Rettungsschirme Milliarden in die darbenden Volkswirtschaften pumpen, ist eine Passage in den historischen Unterlagen besonders brisant. In den frühen 350er-Jahren wurden Athen und ganz Hellas von den Spätfolgen des Alexanderzugs in Mitleidenschaft gezogen. (Heute würden wir sagen: Die Vergangenheit hatte sie eingeholt.) Alexander der Große hatte die von den Persern angelegten gewaltigen Goldvorräte planmässig ausmünzen und in den Wirtschaftskreislauf einfließen lassen. Diese Maßnahme, vorerst hochgepriesen aus Kreisen der Geldwirtschaft und des Kreditwesens (heute Groß- und Investmentbanken genannt), hatte sich als äußerst segensreich und belebend ausgewirkt. In der Folge führte sie jedoch in der griechischen Staatswelt zu einem raschen, allgemeinen Anstieg des Preisniveaus, Teuerung grassierte (heute Inflation genannt). Importgetreide und einzelne Lebensmittel wurden zudem Mangelware, da sie in neu entstandene Verbrauchermärkte geflossen waren (heute Importsog aufstrebender Märkte).
War Demosthenes ein verantwortungsbewusster, weitsichtiger Politiker und geschickter Taktiker, der flexibel auf immer neue Herausforderungen reagierte? Dem politische Lagerbildung zuwider war und der eine lösungsorientierte Zusammenarbeit aller demokratischen Kräfte forderte? Oder war er der glücklose Verteidiger von Freiheit und Demokratie, wie es auf der Bronzestatue hieß, die