Mythen, Macht + Menschen durchschaut!. Christoph Zollinger
neuen Ideen zum Durchbruch verhelfen könnte.
Den Einwand, diese Zweiteilung sei willkürlich und vereinfachend, lasse ich voll und ganz gelten. Ich werde ihn später erklären. Denn vorerst gilt es, zwei weitere Tatsachen zu akzeptieren.
Auch beim weltweit wichtigsten Anliegen der heutigen Zeit – dem Gebot der Nachhaltigkeit – ist exakt dieses dualistische Weltbild ein großes Problem. Wer sich fundiert mit Alternativenergien, Umweltanliegen und sich daraus ableitenden, dringenden Strukturreformen beschäftigt, wird zustimmen. Konservative Kreise verharmlosen im Allgemeinen die Erderwärmung, belächeln Alternativenergien, bekämpfen grüne Anliegen und strengere Raumplanungsgesetze. Ihre Kampagnen werden finanziert durch ebenso konservative wie finanzkräftige Interessengruppen (in erster Linie die Erdöl-, Bergbau-, Bau- und Atomlobbys). Sie alle schöpfen ihren Reichtum aus einst erfolgreichen Modellen, deren Problematik inzwischen erkannt ist. Dass sie diese Einwände verharmlosen oder verleugnen, ist menschlich. Sie wenden dafür weltweit Hunderte von Millionen Dollar auf. In der kleinen Schweiz sind es Dutzende von Millionen Schweizerfranken.
In den Medien ist es üblich, die politische Landschaft in links und rechts einzuteilen. Auch diese Zweiteilung ist natürlich willkürlich und vereinfachend. Sie entspringt in ihrer heutigen Einfältigkeit dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts. Doch, man hat es seither immer so gemacht. Proletariat hier, Kapitalismus dort in zeitgemässe Definitionen gekleidet. Solange die Republikaner in den USA ihren Präsidenten Barack Obama als »linken Europäer« diffamieren und Demokraten das vereinfachte Bild der Republikaner als »nimmersatte Steuerhinterzieher und Staatsabbauer« klischieren, wird sich daran kurzfristig wenig ändern. Tatsächlich aber gibt es in der Politik weder Linke noch Rechte. Der Mensch lässt sich so unbedacht nicht zuweisen.
Eigenartigerweise sind es gerade Politologen und Journalisten, die überholte Schlagworte verwenden, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich selbst bin ein ausgesprochen liberaler Mensch, der gleichzeitig ökologisch und ökonomisch denkt. Ich trete ein für sorgfältigen und bewussten Ressourcenverbrauch, für starke Privatinitiative und zurückhaltende, staatliche Regulierung. Bin ich jetzt links oder rechts? Das soll mir mal einer erklären.
Diese Beispiele stehen stellvertretend für die Krankheit unserer Zeit. Konservative bekämpfen Liberale. Ewiggestrige streiten für ihre Atomkraftwerke gegen Pioniere von Alternativenergien. Rechte politisieren an Linken vorbei, als seien diese Aussätzige. Warum? Weil das immer so war?
Gottlieb Duttweiler, ein wahrer Pionier der Schweiz, entwickelte im letzten Jahrhundert Ansätze zur Überwindung dieses überholten Dualismus. Er war ein kaufmännisches Genie, also ein »Kapitalist«. Er entwickelte kühne Ideen, um in der Zukunft erfolgreich zu bestehen. Und er entzog sich nicht einer ausgesprochen ehrlichen sozialen Verantwortung. Als Kapitalist verschenkte er seinen Besitz, mit revolutionären Ideen erneuerte er von Grund auf den Lebensmitteldetailhandel (und zerstörte aus Wut mit einem Stein eine Glasscheibe im Bundeshaus) und er trat ein für die Arbeitenden aller Schichten. Duttweiler dachte, plante und handelte ganzheitlich. Er realisierte, dass Kooperation wichtiger ist als Kampf. Die von ihm gegründete Migros ist eine erfolgreiche Genossenschaft. Die von ihm seinerzeit lancierte Tageszeitung trug den Namen »Die Tat« – die Wochenzeitung nannte er »Wir Brückenbauer«. Selbstredend. Die von ihm gegründete politische Partei trug den etwas verklärten Namen »Landesring der Unabhängigen«. Zu seiner Zeit ein Erfolgsmodell.
Ein Visionär. Inzwischen hat das Migros-Management viele seiner Ideen »modernisiert«, dem Zeitgeist geopfert. Aus dem Brückenbauer wurde das Migros-Magazin. »Die Tat« ist längst eingestellt, mangels Auflage (oder mangels Professionalität?). Brückenbauer zu sein ist nicht mehr zeitgemäß. Kurzsichtige Optik professionell geschulter Ökonomen?
Die Glaskugel-Gesellschaft
Die fragile Glaskugel als Signatur einer transparenten, globalisierten und selbstverantwortlichen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht für die vom All her gesehene Erdkugel von verletzlicher Schönheit und zerbrechlichem Gleichgewicht, von endlicher Größe, aber ohne Grenzen. Die rotierende Glaskugel symbolisiert gleichzeitig das integrale Zukunftsbild: kein dualistisches Links oder Rechts, Oben oder Unten, sondern ein ganzheitlich wahrgenommenes, durchsichtiges Ganzes, das in einem nachhaltigen Netzwerk von Natur und Mensch den Durchblick wahrt.
www.glaskugel-gesellschaft.ch
100 × Internetkolumne durchschaut!
www.glaskugel-gesellschaft.ch (2013 – 2009) www.journal21.ch (2013 – 2012)
Fokus
Schreiben ist meine Passion. Das Internet ist da eine exzellente Plattform, um – als Ergänzung zu den Printmedien und abseits des Mainstreams – Gedanken zu entwickeln, vornehmlich zur Lage der Nation, doch nicht nur. Die Leserschaft wuchs über die Jahre kontinuierlich und belieferte mich mit spannenden Rückmeldungen. Ab 2012 übernahm zudem die führende Internetzeitung der Schweiz, das »Journal 21«, viele meiner Kolumnen. So sind im Laufe der Jahre 100 Beiträge entstanden, von denen aus Platzgründen hier nicht alle aufgeführt sind.
Um die Lesbarkeit zu verbessern, sind alle Fußnoten der ursprünglichen Kolumnen weggelassen. Wer sich im Einzelnen für Präzisierungen interessiert, findet diese auf meiner Homepage www.glaskugel-gesellschaft.ch (unter der Rubrik durchschaut!).
23. Oktober 2013
Nr. 100
Mythen, Macht + Menschen durchschaut!
Unsere Lebensreise in die Zukunft ist spannend und überraschend. Ein lohnendes, gemeinsames Ziel: unsere Mitmenschen besser verstehen zu wollen.
Durchschaut! Es ist von entscheidender Bedeutung, diesen Begriff zwischen Leserschaft und Autor auf eine einheitliche Basis zu stellen: durchschaut! ist vergleichbar mit dem Aha-Erlebnis einer überraschenden Erkenntnis. Einen Menschen zu durchschauen heißt, dessen wahre Gestalt, getarnte Motivationen oder vertuschte Zielsetzungen durch den äußeren Schein hindurch aufzudecken. Dieser Mensch mag sich der Mythen bedienen, um seine Machtbasis zu stärken. Somit sind zwei weitere Erklärungen angebracht.
Mythen sind vergangenheitsgerichtete Geschichten oder Legenden. Jedes Land kennt seine eigenen Mythen. Wilhelm Tell, Rütlischwur, »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern« – alle Schweizerinnen und Schweizer wissen sofort, was gemeint ist. Ohne Tell gäbe es keine Armbrust als Schweizer Marke. Ohne Rütli keine AUNS. Der Mythos ist eine Erzählung, mit der Menschen und Kulturen ihr Welt- und Selbstbildnis zum Ausdruck bringen. Allerdings verfälschen Mythen die Wahrnehmung der Realität. Mythos und Wirklichkeit haben wenig miteinander zu tun. Jene, die Mythen instrumentalisieren, sind in der Regel begnadete Geschichten- und Märchenerzähler.
Macht wird gemeinhin definiert als »Befugnis, über Menschen und Verhältnisse zu bestimmen, Herrschaft auszuüben«. Schon das Wort Herrschaft weist diskret darauf hin, dass Machtausübung eine eher männliche Domäne darstellt. Personen, die Macht suchen und haben, sind – dank staatlicher Machtbefugnis oder großer privater, finanzieller Machtbasis – in der Lage, das Handeln von anderen zu steuern oder zumindest zu beeinflussen. Nachdem nun der gemeinsame Startort der Reise mithilfe dieser Klarstellungen bestimmt ist, bleibt das einheitliche Ziel festzulegen: Menschen verstehen wollen.
Vor 2500 Jahren erwachte der abendländische Mensch im antiken Griechenland zu einem neuartigen Denken und verabschiedete sich von der Götterwelt seiner Vorfahren. Seither haben sich die philosophischen Deutungsversuche unserer Welt und ihrer Bevölkerung wie Perlen auf der Kette zu einem wertvollen Schatz aneinandergereiht. Mit jener griechischen Wissensexplosion aus archaisch/mythisch geprägter Vorstellung begann sich das Streben nach Vernunft unaufhaltsam zu erweitern. Parallel dazu verfeinerte sich das menschliche Wissen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft formten und schliffen sich über die Jahrhunderte des mentalen Zeitraums. Geist, Vernunft und Verstand führten zu bemerkenswerten Entdeckungen. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, auf der Schwelle zum