Krautrock. Henning Dedekind

Krautrock - Henning Dedekind


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Michael Rother relativiert das Streben nach der eigenen musikalischen Identität, wenn es um die nationale Frage geht: »Natürlich ist der musikalische Hintergrund die europäische Klassik. Dass es unbedingt deutsch sein musste, glaube ich nicht. Für mich ging es darum, eine Michael-Rother-Musik zu machen: sehr persönlich und möglichst unabhängig von den Vorbildern, mit denen ich groß geworden bin.«

      Das ändert freilich nichts daran, dass der Krautrock vorwiegend in Westdeutschland gedeiht. Gruppen wie Kraan, die ihre Musik aus dem Jazz heraus entwickeln, begreifen sich jedoch längst als in einen weiteren Kulturkreis eingebettetes Phänomen. »Es war nicht so, dass wir gesagt haben, ab heute sind wir international drauf und reden nur noch akzentfrei Hochdeutsch«, erklärt Hellmut Hattler. »Ich habe aber immer gesagt, das ist sehr mitteleuropäisch, was wir machen.« In einer zunehmend medial geprägten Gesellschaft ist es ohnedies schwer, sich fremden Einflüssen zu entziehen. »Wir waren um eine eigene Identität bemüht, wenn sich auch in dieser Zeit schon alles sehr stark vermengte«, sagt Eloy-Kopf Frank Bornemann. »Wir waren eine deutsche Band, aber auch eine kontinentale Band.«

      Weltoffenheit wird zu einem Wesensmerkmal der Krautrockszene. Einflüsse lässt man gerne zu, solange sie die eigene Position nicht in Frage stellen. In ihren Lehrjahren lauschen die Musiker von Kraftwerk den Radio-Spätsendungen elektronischer Musik ebenso aufmerksam wie dem Sandstrand-Pop der Beach Boys – und liefern mit Autobahn (1974) schließlich ein ausgereiftes Werk neuer deutscher Internationalität ab: universell anwendbar wie ein praktisches Haushaltsgerät und doch in seinem Naturell zutiefst teutonisch.

      In Personalfragen lässt sich eine exakte Nationalitätsbestimmung ohnehin nicht immer vornehmen. Am Can-Mikrofon etwa steht anfangs der Amerikaner Malcolm Mooney, gefolgt von dem japanischen Straßensänger Damo Suzuki. Ein interessantes Beispiel für eine innereuropäische, »unechte« Krautrock-Verbindung sind Nektar: Die Gruppe wird 1969 von ehemaligen Mitgliedern britischer Bands in Hamburg gegründet und bezieht später ein Bauernhaus bei Seeheim im Odenwald, wo auch die Musik des Debütalbums entsteht. Mit seinen ausufernden Steigerungen, harten Schnitten und bedrohlichen Klangszenarien fügt sich das Science-Fiction-Konzeptalbum Journey To The Center Of The Eye (1972) nahtlos in die Reihe der Krautrock-Veröffentlichungen jener Tage ein – und lässt deutlich den Einfluss der deutschen Nachbarschaft erkennen. Weitere Veröffentlichungen orientieren sich stärker am amerikanischen Markt und verhelfen Nektar als erster aus Deutschland kommender Gruppe zu einem größeren kommerziellen Erfolg in den USA.

      8. Aus Entertainern werden Künstler

      »Ich habe mich nie als Entertainer gefühlt, da hatte mein Vater größere Talente. Ich habe mich als Musiker gefühlt – und letzten Endes als Komponist.«

      – Roman Bunka –

      Ende der Sechziger wandelt sich mit dem geistigen Überbau auch das künstlerische Selbstverständnis des Rockmusikers vom Unterhalter zum introvertierten, sensiblen Künstler. »Wenn man sich die Bands davor ansieht, die waren ja bis auf die Beatles alle sehr nett und adrett«, beschreibt Hellmut Hattler die rasante Entwicklung. »Irgendwann brach buchstäblich der Damm. Es war nicht nur, dass auf einmal alles erlaubt war, sondern, dass wir alle darauf warteten, was nun passieren würde – wohin das viele Wasser bei diesem Dammbruch fließt.« Um bei Hattlers Bild zu bleiben: Es fließt in alle Richtungen.

      Bald setzt eine groß angelegte künstlerische Nabelschau ein, welche allerdings auch die Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit mit sich bringt – und daher nicht selten in einer Ablehnung der traditionellen Künstlerrolle mündet. Hans-Joachim Irmler: »Wir haben gesagt, eigentlich gehören wir gar nicht auf die Bühne.«

      Große Gesten sind verpönt, Konzerte werden zum Gemeinschaftserlebnis von Musikern und Zuschauern. »Es war ein ganz neuer Gedanke«, erinnert sich Christian Burchard. »Die Musiker sind nicht angestrahlt worden wie Politiker, sondern waren zum Teil gar nicht mehr erkennbar.«

      Am radikalsten setzen Amon Düül diesen Gedanken um, indem sie die Schranken zwischen Künstler und Nicht-Künstler in Frage stellen und mit der ganzen Wohngemeinschaft – Freundinnen, Kinder, Dauergäste – im Schlepptau auftreten. »Das war ein kreatives Gemeinschaftserlebnis, das auf gemeinsamen Wohn- und Tournee-Erfahrungen beruht hat«, erklärt Peter Leopold. »Eine naive, kommunale, freundschaftliche Tätigkeit, so kann man es nennen. Man versucht, einen Kreis idealistischer Freunde und Freundinnen zusammenzukriegen. Wenn die dann auch noch zusammen Musik machen können, zusammen produktiv sein können und ohne ihre Eltern wenigstens noch eine Mark machen können, dann ist das wundervoll.«

      Mit ihrer ungewöhnlichen Arbeitsweise verdient sich die Münchener Gruppe den Respekt vieler Kollegen. »Großartig«, findet Irmler noch heute die künstlerisch und politisch konsequente Haltung. »Das war eine ganz wilde Band.«

      »Wir machen etwas, und ihr müsst es kapieren«:

      Publikumsreaktionen

      »Ich habe mich auf die Bühne gestellt, meine Teile runtergedroschen und mich um irgendwelche Maßstäbe einen Scheißdreck geschert.«

      – Peter Leopold –

      Die heutige Nobeldiskothek P1 in der Münchener Prinzregentenstraße wirbt im Jahre 1969 mit einer gemütlichen Bar, heißer Gulaschsuppe und Sitzpolstern im Schottenmuster. Bis drei Uhr in der Frühe spielen dort »Kapellen zum Tanz«. Die progressive Szene hingegen bevorzugt den Club PN, auf dessen Bühnenbrettern sich die neue deutsche Musikkultur vor den Augen schockierter bis begeisterter Fans selbst initiiert.

      Nicht alle, die in bunten Hemden, Parka und Jeansjacke dort abends zusammenkommen, sind für den Frontalangriff auf die Hörgewohnheiten gewappnet, der sie bei diesem gemeinsamen Experiment von Band und Publikum erwartet. Hellmut Hattler: »Wir haben die neue Freiheit ordentlich zelebriert und sind oft auch auf die Bühne gegangen, ohne zu wissen, was passieren würde. Man wusste nicht, was für Leute da waren, ob sie einen Halt brauchten, oder ob sie sich schon von einem einzigen langen Ton durchs Weltall schleppen ließen.« Die Besucher der ersten Amon-Düül-Konzerte sind vor den Kopf gestoßen. Peter Leopold später über die heute grotesk anmutende Situation:

      »Die ersten Auftritte im PN, in der Mensa und im Türkenkeller – das war für viele Studenten wie ein Erlebnis vom anderen Stern. Da rückte Düül mit langhaarigen Kindern und Frauen an und hat den Lichthof der Mensa sowas von blitzblank geputzt, das gab’s gar nicht. Die waren sprachlos, fassungslos, dass man sowas machen kann.«

      Auch Othmar Schreckeneder, der bald vom Fan zum Manager werden soll, erinnert sich mit einem Schmunzeln: »Das Publikum war auch sehr radikal und wollte ebenfalls den Bruch mit dem Althergebrachten. Bei den frühen Konzerten kam es trotzdem manchmal vor, dass in der ersten halben Stunde eine Hälfte des Publikums den Saal verlassen hat. Die andere Hälfte war dann der harte Kern, der das Konzert seines Lebens erlebt hat.«

      Die neue Rockmusik verlangt ihrem Publikum viel ab. Gulaschsuppenesser, die gemütlich beim Tanz zuschauen, sind »out« – Mitdenken statt Berieselung ist gefragt. Man fühlt sich berufen: »Nicht nur schöne Lieder, die das Herz erfreuen«, sollen die Fans hören, so Hans-Joachim Irmler, »sondern solche, die auch darüber hinaus etwas anregen. Der Kern von allem, was man künstlerisch tut, ist die Kommunikation.«

      Im gemeinsamen Experiment von Künstler und Kunstrezeptor kommt dem Zuschauer somit eine wichtige Funktion zu: Er ist nicht länger ein von der Industrie umworbener Kunde, sondern ein geistig geforderter Mit-Akteur. Der Hörer soll verstehen, mitmachen, dem Künstler ein konstruktives Feedback geben. »Der Grundsatz war: ›Wir machen etwas, und ihr müsst es kapieren‹«, fasst Othmar Schreckeneder kurz zusammen.

      Hierin liegt ein gravierender Unterschied zum kommerziellen Popgeschäft: Die Musik als Selbstzweck steht von vornherein über dem Publikumsgeschmack und muss sich nicht erst an ihm orientieren. »Ich wollte mit Musik noch nie etwas beweisen«, sagt Hellmut Hattler. »Es war keine Absicht dahinter, außer es zu tun.« Dies definiert die Zielsetzung der jungen deutschen Rockmusik, die eben Kunst


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