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Wesen des Zufalls
Theoretisch, so möchte man meinen, müsste es – so man die Gesetze der Wahrscheinlichkeit kennt – doch möglich sein, zumindest bei einigen Glücksspielen die Bank zu überlisten. Pferdekenner auf dem ganzen Globus behaupten, einen todsicheren Tipp für das nächste Rennen zu haben. Und doch ist es geradezu eine Überraschung, wenn einmal der Favorit siegt.
Hier ergeben unzählige kleine Umstände ein grosses Ganzes – genau wie im richtigen Leben, auch wenn wir es dort nicht Zufall, sondern Schicksal zu nennen pflegen, wie beispielsweise folgende Geschichte zeigt:
1992 führte die Deutsche Bahn nach einer sehr kurzen Prüfphase neue Radreifen ein. Eine Anlage für einen Dauerbelastungstest dieser Reifen gab es damals noch nicht, sodass man sich für Überlegungen hinsichtlich des Verschleisses auf die Theorie beschränken musste. Und hier versagten zunächst einmal die Ingenieure: Sie zogen nicht alle Faktoren in Betracht und verrechneten sich gründlich. Eigentlich gar kein Problem, doch dummerweise war ein Überwachungssystem, das einen Riss in einem Radreifen melden und so die Berechnung korrigieren hätte können, 1995 aus Kostengründen abgelehnt worden. Damit hing alles an einem Mechaniker, der am 2. Juni des Jahres 1998 den ICE Conrad Röntgen mit einer allerdings unzureichenden Leuchtstoffröhrenuntersuchung prüfte. Trotzdem sah er das Wesentliche: Er notierte, dass der Reifen auffällig sei. Warum er diesen Mangel dennoch nicht behob, dafür kennen wir die Gründe nicht. Sie mögen trivial gewesen sein. Als nun am folgenden Tag, dem 3. Juni 1998, eben dieser Radreifen brach, meldete ein Fahrgast den Unfall dem Zugbegleiter. Statt die Notbremse zu ziehen, ging der vorschriftsmässig zur Unglücksstelle, um die Meldung erst zu verifizieren, und wurde damit das letzte Glied in einer langen Kette von unglücklichen Umständen, die zum Tod von einhundertundeinem Menschen während des Eisenbahnunglücks von Eschede führte.
Diese Ursachenkette, die zwar komplex, aber durchaus noch nachvollziehbar erscheint, ist ein Klacks im Verhältnis zu den vielen Komponenten, die dazu führen, dass ein Pferd ein Rennen gewinnt, ein Fussballfan im Sporttoto alle richtigen Ergebnisse ankreuzt oder eine Roulettekugel auf die gesetzte Zahl fällt. Kurz, die Zahl der Faktoren, die nötig sind, um das Ergebnis eines Glücksspiels vorauszusagen, ist zu hoch, als dass eben dieses Ergebnis mit einiger Sicherheit berechnet werden könnte.
Die Berechnung des Unberechenbaren
Nicht, dass es nicht versucht worden wäre. Immer wieder hoffen clevere Physiker und Mathematiker darauf, das Glück in Formeln zu pressen. Der erfolgreichste Versuch bisher geht auf die Initiative des Astrophysikers J. Doyne Farmer (*1952) zurück. Den hatte sein Freund in die Spielcasinos von Las Vegas geschleppt. Fasziniert verstand der junge Forscher, dass er mittels des Spiels genug Geld würde verdienen können, um sich die Freiheit zu leisten, die er sich wünschte. Zusammen mit anderen jungen Wissenschaftlern wie Robert S. Shaw und Norman Packard gründete er die Gruppe der Eudaimonen. Sie planten, mithilfe der Mathematik und der angewandten Physik das Roulette von Las Vegas zu knacken. Den Gewinn wollten sie in eine freie wissenschaftliche Gemeinschaft investieren.
Die Gruppe bediente sich modernster Technik, um anhand von Messungen voraussagen zu können, wohin die Roulettekugel rollen würde: Sobald die Roulettekugel in das Rad eingeworfen wird, rotiert sie zunächst regelmässig am oberen Rand des Rades, bis sie der Luftwiderstand soweit gebremst hat, dass die Bahnen der langsamer werdenden Kugel diese tiefer in den Kessel herabgleiten lassen. Dies ist der Zeitpunkt des «Rien ne va plus» und damit der Moment, an dem der Zufall ins Spiel kommt. Je nachdem, wo und in welchem Winkel die Kugel auf welche Raute aufschlägt, wird sie nach ihrem Abprall und vielen weiteren Aufschlägen in eines der Zahlenfächer fallen. Die Eudaimonen hatten es durch unzählige Messungen nach guten zwei Jahren so weit gebracht, dass sie kurz vor dem Ruf «Rien ne va plus» berechnen konnten, auf welche Raute die Kugel zuerst aufschlagen würde. Damit konnten sie zwar nicht vorhersagen, welche Zahl fallen würde, aber immerhin, in welchen Fächern die Kugel am Ende des Spiels sicher nicht liegen würde.
Schon diese Berechnung verhalf ihnen zu einem enormen Vorteil gegenüber der Bank. Während ein Spieler beim amerikanischen Roulette nach einer Runde von einem Dollar durchschnittlich noch 95 Cent übrig hat, steigerten die Eudaimonen ihren Gewinn auf 1,40 Dollar. Die schönsten Hoffnungen aber zerplatzten, als sie eine erste Zwischenrechnung aufstellten. Die Kosten für technische Hilfsmittel deckten gerade die Gewinne, von der Energie, die in die Experimente investiert worden war, völlig zu schweigen.
Doch die Protagonisten des Unternehmens hatten einen neuen Forschungszweig begründet, die Chaosforschung, die Erforschung von Phänomenen, die so komplex sind, dass sie sich unserer herkömmlichen Berechnung entziehen. Was J. Doyne Farmer, Robert S. Shaw und Norman Packard in den späten 1970er-Jahren mithilfe des Roulettes begonnen hatten, das führen sie in ihrem Unternehmen Prediction Company bis heute erfolgreich fort. Im Auftrag der UBS berechnet diese Forschungsgruppe seit vielen Jahren die zukünftigen Bewegungen auf den Aktienmärkten.
Die Börse als Glücksspiel: Ein Vorwurf
Das Glücksspiel fand nie die Billigung der moralischen Instanzen. Alle Kirchen verurteilten es: die Katholiken, weil sie die Leichtfertigkeit missbilligten, mit der ihre Gläubigen Hab und Gut verspielten; die Protestanten, weil sie sich sorgten, ein hoher Gewinn würde den Charakter ihrer Schäflein verderben.
Solange der Adel zivilisiert sein Vermögen am Karten- oder Roulettetisch aufs Spiel gesetzt hatte, war dagegen nichts einzuwenden gewesen. Als aber die Arbeiter ihren Spargroschen zur Lotterie trugen, da schritten die Moralisten ein. Ein Balzac zum Beispiel – seinerseits mit seinen erfolglosen Spekulationen sicher nicht das Idealbild eines sparsamen Familienvaters – wetterte vehement über das Lotto als «Opium der Armut». Nicht wenige sahen, dass die Hoffnungen der Unterschicht auf die Rettung durch das grosse Los viel gemeinsam hatten mit der Besessenheit, mit der manch ein Unternehmer auf dem jungen Aktienmarkt spekulierte. Joseph De la Vega schrieb im Jahr 1688 – auf dem Höhepunkt der Lotterien und Lottos – das erste Buch über die Börse. Darin lässt er einen Philosophen, einen Händler und einen Aktionär miteinander diskutieren. Zurück bleibt die Vorstellung, der Börsenhandel sei nichts als ein Glücksspiel, der Spekulant der Spieler. Seitdem wird dieser Vorwurf immer wieder aufgegriffen. «Die Börsenspiele haben den Reiz aller Lotterien: den Reiz, den ein schneller Gewinn für den Spieler darstellt», so Jean-Baptiste Say (*1767, †1832), ein einflussreicher Wirtschaftstheoretiker des beginnenden 19. Jahrhunderts. Ähnlich Clément Juglar (*1819, †1905), der das Verhalten der Spekulanten bei einer Hausse folgendermassen schildert: «Der Geschmack am Spiel bei anhaltender Hausse ergreift die Einbildungen mit dem Verlangen, in kurzer Zeit reich zu werden wie in einer Lotterie.» Da ist der Schritt nicht mehr weit, Spekulanten als Zocker oder Finanzjongleure zu bezeichnen, wie es in heutigen Schlagzeilen häufig geschieht.
Was will diese Publikation?
Was ist Vorurteil, was Realität? Inwieweit liegt es in der Natur des Menschen zu spielen? Warum wenden sich die einen angewidert von jeder Form des Glücksspiels ab, während andere fasziniert ihr Vermögen aufs Spiel setzen?
Diese Publikation und die damit verbundene Ausstellung «Das Spiel mit dem Glück» möchten zu genauem Hinsehen anregen, zum Wahrnehmen der feinen Unterschiede und dazu, den eigenen Umgang mit dem Spiel des Lebens zu überdenken.
Ursula Kampmann
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