Der Seelenwexler. Kaspar Wolfensberger

Der Seelenwexler - Kaspar Wolfensberger


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Sie mir mehr von der Klosterschule», forderte Seidenbast ihn auf. «Das interessiert mich.»

      Phil tauchte noch einmal in gymnasiale Erinnerungen ein. Seidenbast hörte aufmerksam zu, als er aus dem Internatsnähkästchen zu plaudern begann. Doch Phil wählte sorgfältig aus, welche von diesen Erinnerungen er seinem Boss erzählte und welche nicht.

      Ein Jahr lang war er der Trottel, der Tgutg, aus dem Seitental gewesen, von fast zuhinterst. Er hatte kaum mehr als seinen Hof, sein Dorf und das Nachbardorf gesehen, in dem er zur Sekundarschule ging. Einmal im Monat hatte er den alten Caduff ins Tal oder nach Ilanz begleitet, je nachdem, wo gerade Markt oder Viehmarkt war. Er sprach Rätoromanisch – seine Muttersprache, das Holländische, hatte er vergessen –, lernte in der Primar- und Sekundarschule ohne Schwierigkeiten Deutsch und verleibte sich nebenbei den Bündner Dialekt ein. Von der weiten Welt und von den Mädchen wusste er nichts, er fürchtete beide bloss ein bisschen. Das Internat war deshalb eine Offenbarung: So also konnte das Leben sein!, das hatte er nicht gewusst. Für andere mochte es ein Albtraum sein, weit weg von zuhause, fern von Mutter und Vater, ein ungewohnt geregeltes und kontrolliertes Leben führen zu müssen. Für ihn war es ein Privileg. Dass er sein Zimmer mit Guido teilen musste, war kein Problem, sondern ein Geschenk. Denn Freunde kannte er bis anhin ebenso wenig wie Mädchen. Guido war ein unkomplizierter Kerl. Er frotzelte Gion-Gieri ständig ein bisschen, und Gion-Gieri musste rasch die Spielregeln des Frotzelns lernen. Einmal entstand daraus ein handfester Streit. Auch das war etwas Neues gewesen: dass man sich streiten konnte, ohne dreinzuschlagen oder geschlagen zu werden. Eine kleine Keilerei, ein kräftiger Schubs, das war alles gewesen. Nein, mit dem Zimmerteilen hatte er keine Mühe. Zuhause im Lugnez hatte er auch kein eigenes Zimmer gehabt. Besser gesagt, überhaupt keines, nicht einmal ein eigenes Bett. Als Mutter nicht mehr da war, in deren Bett er hatte schlafen dürfen, schlug der alte Caduff im Zorn mit der Axt ihre Bettstatt auseinander und verbrannte das Holz im Ofen. Gion-Gieri hatte, wenn der Alte ihn nicht im Suff in seinem Bett haben wollte, auf der Ofenbank oder im Heu geschlafen.

      Im nächsten Schuljahr blühte Gion-Gieri auf. Seine Klassenkameraden begannen sich für ihn zu interessieren, er hatte keine Ahnung wieso. Da er keine Eltern mehr hatte – das sagte er aber keinem –, begleitete er einige von ihnen an den Wochenenden nach Hause. So lernte er andere Dörfer, aber auch Städte kennen: Chur, Bellinzona, Rapperswil und Zürich. Von Zürich hatte er nur das Schlimmste gehört, das musste ein dunkler, stinkender Moloch sein, mit Strassenschluchten, in denen man sich hoffnungslos verirrte, voll von Autos, höllischem Lärm, rauchenden Fabrikschloten und hässlichen Hochhäusern. Als er an einem wunderbaren Sommertag den See und in der Ferne die Schneeberge sah, die Kirchtürme und die vielen Bäume rundum, die Seepromenade erlebte und die Strassencafés, da wusste er, dass er hier einmal leben würde.

      Im dritten Internatsjahr begann man um ihn zu buhlen. Die Mädchen, aber auch die Burschen. Und die Lehrer ebenfalls. Ein Bursche hatte als Erster Erfolg. Er war ein Jahr älter und hiess Raffi. Eine Sportskanone, die Mädchen schwärmten für ihn, aber sie blitzten alle ab. Raffi versuchte, Gion-Gieri dafür zu gewinnen, mit ihm zu trainieren. So lange, bis er schliesslich mitmachte: intensives Training, ihre Muskeln schwollen, ihre Oberkörper glänzten vor Schweiss. Gemeinsames Duschen verstand sich da von selbst. Dass Raffi sich für ihn interessierte, schmeichelte Gion-Gieri. Dass Raffi ihn auch begehrte, schmeichelte ihm noch viel mehr. Er wurde sich auf einmal bewusst, dass er gut, sogar unverschämt gut aussah. Jetzt traute er sich endlich, auf die Mädchen zuzugehen. Vorerst aber ging es mit Raffi noch eine Weile weiter: ungenierter Körperkontakt, in aller Öffentlichkeit, sie waren ja Sportler. Zärtlichkeiten, aber nur in Raffis Zimmer, ein Plaisir à deux mit jeweils spritzigem Ende. Für Gion-Gieri eine prickelnde Erfahrung, die rein nichts zu tun hatte mit den widerlichen Dingen, die er mit dem alten Caduff erlebt hatte.

      Dass auch Pater Alois, der Klassenlehrer, seine Nähe suchte, blieb ihm nicht verborgen. Der Pater beugte sich etwas weiter über ihn herab als über andere, wenn er hinter ihm stand, um ihm bei einer schwierigen Aufgabe zu helfen. Manchmal hatte Gion-Gieri den Eindruck, der Pater rieche dabei an seinem Haar. Das eine oder andere Mal stützte Pater Alois sich auf seine Schulter oder legte die Hand auf seinen Rücken oder seinen nackten Unterarm. Einmal fuhr er ihm mit der Hand durch den Haarschopf, zog sie aber blitzschnell wieder zurück, als habe er sich die Finger verbrannt. Bei solchen Berührungen fuhr ein Schauer, und gar kein unangenehmer, durch Gion-Gieri hindurch. Pater Alois rief ihn mehr als andere in sein Büro, um zu erfahren, wie es ihm gehe und ob irgendwelche Schwierigkeiten bestünden. All das störte Gion-Gieri kein bisschen. Im Gegenteil, er gab oftmals dem ihm selbst nicht ganz verständlichen Bedürfnis nach, dem Pater eine Freude zu machen, indem er ihn auch dann um Hilfe bei der Lösung einer Aufgabe bat, wenn er sie gar nicht unbedingt brauchte. Oder indem er sich ohne grössere Not zu einer Unterredung in seinem Büro meldete und ihm dann, ohne es selbst voll und ganz zu merken, schöne Augen machte. Ausser Raffi, der den Blick dafür hatte, nahm niemand an diesen diskreten Vorgängen Anstoss. Sie blieben auch ohne Folgen, wenn man von den möglichen inneren Nöten eines Paters einmal absah.

      Im letzten Jahr war Raffi nicht mehr da, er hatte seine Matura ein Jahr früher abgelegt. Jetzt waren es nur noch die Mädchen, die um Gion-Gieri warben. Oder besser gesagt um Pippo, wie sie ihn im letzten Schuljahr nannten. Und er um sie, soweit das überhaupt nötig war. Mit einem Mal war er, wenn auch nicht zum alleinigen Star, so doch zu einem von denen in der Abschlussklasse geworden, die im Mittelpunkt standen. Einer, den man sah und auf den man hörte. Seine Klassenkameraden mochten und respektierten ihn, sie missgönnten ihm weder seine guten Noten noch seine Erfolge bei den Mädchen. Abblitzen liess er kaum eine. Die Lehrer gaben ihm zu verstehen, dass sie ihm fast alles zutrauten und dass sie keinen Anlass sahen, sich um seine Zukunft zu sorgen.

      Gion-Gieris Angewohnheit, es mit der Wahrheit nicht immer so genau zu nehmen, war niemandem aufgefallen. Das Muster, auf eine Frage mit einem Geflunker, einer Halbwahrheit oder einer faustdicken Lüge zu antworten, oder auch ungefragt eine solche aufzutischen, hatte er sich unter dem Regime des alten Caduff angewöhnt. «Wo warst du?», war eine häufige Frage des Alten gewesen. «Im Stall», Gion-Gieris stereotype Antwort, um sich vor Schlägen zu schützen, dabei war er bei der Tante gewesen. «Warst du das?» – «Nein», sagte er reflexartig, selbst wenn ein Ja gar keine Sanktionen, sondern ein Lob nach sich gezogen hätte. «Wer hat das gesagt?» – «Der Lehrer», auch wenn es der Pfarrer gewesen war. «Wo ist der Schlüssel?» – «Weiss nicht», dabei hatte er ihn im Hosensack. «Liebst du Tante Senta?» – «Es geht.» Ein Nein hätte Schläge bedeutet, ein Ja ebenfalls, denn der Alte liebte seine Schwester nicht. Er hasste sie, weil er in ihrer Schuld stand. Die Antwort setzte gleichwohl eine Tracht Prügel ab. In der Klosterschule waren es dann andere Fragen. «Hast du auf die Matheprüfung gebüffelt?» – «Nein», war die Antwort, wenn er gebüffelt, «Ja», wenn er nicht gebüffelt hatte. «Was ist dein Vater?» – «Posthalter.» Posthalter war sein Vormund, Casanova, der Vorgesetzte des mittlerweile verstorbenen Postboten Wexler. «Und deine Mutter?» – «Kunstmalerin. Sie kommt aus Russland.» Der Gemeindeschreiber des Nachbardorfs hatte eine russische Kunstmalerin im Internet kennen gelernt und dann aus ihrer Heimat zu sich ins Tal geholt; das hatte sich herumgesprochen und ihm hatte es imponiert. «Ohne Scheiss?! Dann kannst du Russisch?» – «Ähm, nein, sie ist taubstumm.» Er musste lernen, seinen Kopf rasch mit einer zweiten Lüge aus der Schlinge zu ziehen, wenn die erste aufzufliegen drohte. Das erforderte eine Portion Geistesgegenwart, die hatte er, und Unverfrorenheit, die eignete er sich an. Die Gefahr, dass er eine Antwort vergass und sich später selber entlarvte, war gering, denn auch seine eigenen Worte waren in seinem Kopf gespeichert, nachdem er sie einmal ausgesprochen und also selber gehört hatte. Oft spürte Gion-Gieri auch heraus, was der andere hören wollte, und gab genau dies zur Antwort. «Gefällt dir der Schlager, Pippo?» – «Super», dabei fand er ihn kitschig. «Du hast gestern mit Vanessa geknutscht, stimmts?» – «Nicht geknutscht, ich hab sie getröstet.» – «Liebst du mich?» – «Ja, klar.» Das war dann gar nicht unbedingt gelogen. Nur hätte eine andere die gleiche Antwort bekommen.

      «Ich glaube, ich wäre auch gern in ein Internat gegangen», sagte Seidenbast, als Phil mit seiner Erzählung zu Ende war. «Wenn ich Sie so erzählen höre, werde ich fast melancholisch.» Er sah Phil lange an. Dann gab er sich einen Ruck und schickte seinen Mitarbeiter in den Feierabend.


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