Der Seelenwexler. Kaspar Wolfensberger

Der Seelenwexler - Kaspar Wolfensberger


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sie seine Empfehlung in den Wind schlagen würde.

      An einem der letzten Tage vor seinen Ferien rief eine Frau an – Krugmann mit Namen –, die an seinem letzten Nerv zerrte. Nach wenigen Sätzen war Zangger nämlich klar, dass sie einen alkoholkranken Ehemann hatte, der sich in einem bedenklichen Zustand befand. Im Augenblick handle es sich nicht um ein psychiatrisches, sondern um ein medizinisches Problem, versuchte Zangger ihr klar zu machen. Sie müsse den Hausarzt rufen, der ihren Mann ins Spital einweisen werde. Doch dafür war Frau Krugmann nicht zu haben. Zangger hatte nicht die Kraft, gegen Windmühlen zu kämpfen. Über kurz oder lang würden die Dinge ihren Lauf nehmen, dachte er. Spätestens, wenn der Notarzt kommen musste, weil der Patient im Delirium landete. Mit nur halbwegs gutem Gewissen hatte er das Telefongespräch beendet.

      Frau Stoller, eine alte Dame, war nach der akuten Verschlechterung einer seit langem bestehenden Leukämie in eine tiefe Depression gefallen. Ihr Hausarzt und der Hämatologe hatten ihr, da sie es ausdrücklich verlangte, reinen Wein eingeschenkt. Sie wusste, dass die Chemotherapie keinen Erfolg gebracht hatte und dass ihre Lebensuhr bald ablaufen würde. Sie war untröstlich darüber, dass sie das bevorstehende grosse Familienfest nicht mehr werde erleben können. Und dass sie mit ihrem vorhersehbaren Sterben den Angehörigen die Festfreude verderben könnte. Zangger hatte nach den Regeln der Kunst mit ihr gearbeitet, mit Psychotherapie in einer Form, wie sie für Todkranke angemessen war, und mit Antidepressiva, aber aufgehellt hatte sich ihr Zustand nicht wirklich. Er hatte Frau Stoller geraten, während seiner Abwesenheit die Behandlung bei einem seiner Praxisvertreter weiterzuführen. Frau Stoller hatte sich bedankt, ihm aber zu verstehen gegeben, dass sie das nicht wolle.

      Lichtblicke gab es nur wenige. Linda Larsson war so ein Lichtblick gewesen. Aber ihre Behandlung hatte er schon vor einigen Wochen abschliessen können. Das kam vor, wenn doch auch eher selten: dass die Therapie einer ernsthaften Störung nach wenigen Sitzungen erfolgreich zu Ende ging, und erst noch ohne Medikamente. Die aufgeweckte junge Frau war ihre Probleme zielstrebig angegangen und hatte sie in kürzester Zeit in den Griff bekommen. Zangger bedauerte es fast ein wenig, sie so rasch geheilt zu haben. Sie war in seiner Praxis A Breath of Fresh Air gewesen.

      Der Sunnyboy unter seinen Patienten, Gion Caduff, kam in dieser Zeit ein paar weitere Male zum Gespräch. Es war jedes Mal eine erfrischende Stunde. Der Patient beichtete offenherzig, was er Zangger in der vorherigen Stunde vorgeflunkert hatte. Es waren keine weltbewegenden Geständnisse: Er habe gar keine Freundin, er habe sich bloss in die Hotelpraktikantin Nicole verknallt. Die Stelle bei der Bank habe er nicht gekündigt, sondern er sei wegen Verstössen gegen interne Vorschriften entlassen worden. In Tat und Wahrheit sei er noch kein Informatikstudent, er werde das Studium erst im Herbst aufnehmen. Und ein paar weitere Dinge dieses Kalibers. Sie hatten gemeinsam herausgearbeitet, dass es sich bei seinen Schwindeleien um ein altes, in der Kindheit angeeignetes Muster handelte, das ursprünglich dazu gedient hatte, Prügel zu vermeiden. Mit der Zeit hatte sich das Motiv verändert, heute ging es Caduff in erster Linie darum, in den Augen der andern besser dazustehen. Schwindeln aus Geltungsdrang, so lautete die vom Patienten selbst erlangte Erkenntnis.

      Sobald Zangger allein war – in den Pausen zwischen den Patientenstunden, am Schreibtisch, im Auto oder zuhause –, musste er an Tina denken. Und an Afrika. Tina in Afrika und ich in Schottland, das gibts doch nicht!, haderte er.

      Jahrelang war er Tina damit in den Ohren gelegen, dass sie ihn auf eine Afrikareise begleite. Er hatte sie auf einer Studentenreise nach Marokko kennen gelernt, aber danach hatte es Tina immer anderswohin gezogen. Nach Skandinavien, Russland und Japan. In Städte, nicht in die Wildnis. Kultur- und Bildungsreisen waren nach ihrem Geschmack, nicht Freiluftabenteuer. Natürlich wusste er, dass Tina in Afrika war, um zu arbeiten, nicht um in die Wildnis zu fahren. Es wurmte ihn trotzdem. Maputo kannte er nicht, er war noch nie in Mosambik gewesen. Dafür in vielen andern Ländern Afrikas: Als junger Mann hatte er Ostafrika bereist, bis nach Ruanda und hinauf nach Äthiopien und Eritrea. Ein paar Jahre später war er in seinem Camper nach Nordafrika gefahren, hatte die Sahara durchquert und den Sahel und war an der Elfenbeinküste gestrandet. Nach seiner Heirat hatte er immer wieder von jenen Reisen geschwärmt, aber Tina hatte nie angebissen. Das sei etwas für Pfadfinder, hatte sie stets gesagt, nichts für sie. Sie sei keine Abenteuerin. Afrika zu zweit blieb ein Traum.

      Vor einigen Jahren, als Zangger eine Midlife-Krise durchmachte, fand Tina plötzlich, er müsse einmal richtig ausspannen. Er brauche mehr als eine Städtereise oder ein Wochenende im Hotel Therme, um sich zu erholen. Was er denn gern tun würde, um aufzutanken und auf andere Gedanken zu kommen? Vielleicht hoffte sie, er würde sich eine Reise mit der transsibirischen Eisenbahn wünschen oder ein Time-out in Japan. Aber er sagte, ohne zu zögern: das südliche Afrika bereisen. Sie sah, wie seine Augen leuchteten, und schlug ihm vor, eine Männerreise zu planen. Zuerst zögerte Zangger, aber als er merkte, dass Tina es ernst meinte und dass sie es ihm nicht übel nehmen würde, wenn er ohne sie reisen würde, ging er auf ihren Vorschlag ein. Er tat sich mit zwei alten Freunden aus dem Militär zusammen und reiste mit diesen wochenlang durch die Wildnis. Auf eigene Faust, immer auf freier Wildbahn, fernab von Safaritouristen und Luxuslodges. Mit einem robusten alten Landrover, den sie vor Ort gemietet hatten, mit Zelt und Campingausrüstung. Für mehrere Wochen Wasser, Lebensmittel und Sprit an Bord. Nacht für Nacht unter freiem Himmel. Sie folgten den Elefantenherden am Chobe, pirschten sich auf Hemingways Spuren an die Löwen von Savuti heran. Und an die Flusspferde am Unterlauf des Sambesi. Sie durchquerten die Salzwüsten Botswanas, in denen man sich hoffnungslos verirren konnte, fuhren dem Rand der Namibwüste entlang und, wo es ging, in diese hinein. Dann quer durch die Kalahari. Sie campierten unter riesigen Baobabs, scharf beobachtet von frechen Pavianen, von Erdmännchen und Gelbschnabeltukanen.

      Das alte Feuer loderte wieder auf.

      «Du hast das Afrikafieber», sagte Seidenbast nach jener Abenteuerreise. Und wirklich, der Virus hatte ihn wieder befallen. Periodisch erlitt er einen Rückfall und spürte ein unwiderstehliches Reissen. Im vergangenen Winter startete er einen neuen Versuch, Tina für eine Afrikareise zu gewinnen. Er suchte heimlich Flüge heraus, liess einen geländegängigen Camper reservieren und heckte eine nicht zu abenteuerliche Route durch Südafrika aus. Am Neujahrstag legte er Tina seine Reisepläne vor. Sie strich ihm liebevoll mit dem Handrücken über die Wange und sagte, sie wolle es sich überlegen. «Du hast recht», sagte sie am Dreikönigstag, «wir sollten wieder einmal eine Camperreise machen. Aber um ehrlich zu sein: Ich würde lieber nicht auf einen andern Kontinent fliegen, sondern von hier aus starten. Ich habe eine Idee», rief sie: «wir fahren nach Schottland! Dort ist es auch wild, das wird dir bestimmt gefallen.»

      Schottland kann mir gestohlen bleiben!, dachte Zangger. Das Afrikafieber schüttelte ihn.

      Im Alter von neun Jahren war er infiziert worden. Durch ein Buch, das er vom Grossvater geschenkt bekommen hatte. Hingerissen hatte Lukas die Bilder betrachtet, Schwarzweissfotografien von Rundhütten und Lehmbauten, Bilder von Palmen, Kamelen und Krokodilen. Und von schwarzen Menschen, schwarzen Kindern. Diese Gesichter! Die grossen schwarzen Augen. Die schwarze Haut. Die weissen Zähne. Die grossen, lachenden Münder. Nichts konnte ihn mehr faszinieren und mehr anziehen als diese Gesichter und die nackten oder halbnackten dunkelhäutigen Körper. Er entwickelte eine unbändige Sehnsucht nach dem Kontinent, auf dem solche Menschen lebten. Es war die Zeit, als man Schwarzer statt Neger zu sagen begann, aber davon wusste Lukas nichts. Für ihn war Neger der Inbegriff eines wundersamen Wesens aus einer fremden, zauberhaften Welt. Wie Indianer. Wie Krieger oder Jäger. Nur noch abenteuerlicher: Neger!

      Endgültig war es um ihn geschehen, als er, zehnjährig, in den Sommerferien Khalid und Driss begegnete, zwei Buben aus Afrika. Lukas verbrachte die Sommerferien wie immer im Ferienheim Büel. Er traute seinen Augen kaum, als eines Abends ein grosser Citroën vorfuhr, dem eine Negerfamilie entstieg. Das heisst, der Vater war ein Neger, die Mutter sah ganz gewöhnlich aus. Sie redeten in einer fremden Sprache und luden zwei Buben aus, einen Neger und einen halben. Der ältere, Khalid, war fast schwarz und hätte Grossvaters Buch entsprungen sein können. Er war etwa gleich alt und gleich gross wie Lukas. Der jüngere, Driss, war bloss kaffeebraun, ein feingliedriges Bürschchen, nach Lukas’ Schätzung ein Zweit- oder Drittklässler, Khalid wie er ein Viertklässler. Lukas war fasziniert, vor allem von Khalid. Da die meisten andern Kinder vor ihnen fremdelten, packte Lukas seine Chance.


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