Der Seelenwexler. Kaspar Wolfensberger

Der Seelenwexler - Kaspar Wolfensberger


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      «Mit Ihrer Studie.»

      «Ach so, danke.»

      Phil winkte ihr lässig nach.

      Dann schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn. Teufel auch!, dachte er. Schon wieder!

      Er zog ein schwarzes Wachstuchheft aus der Jacke, die neben ihm auf der Bank lag. Er hatte sich vorgenommen, Zanggers Anweisungen strikt zu befolgen. Er hatte Zangger denn auch gleich zu Beginn der heutigen Stunde gesagt, dass das mit Nicole nicht stimme. Dass er gar keine Freundin habe. Sondern ihn, Zangger, angeschwindelt habe, weil er ihn nicht ein zweites Mal habe enttäuschen wollen, nachdem er ihm schon die Angeberei mit den Heiratsplänen hatte eingestehen müssen.

      Jetzt notierte er die Begegnung mit Linda Larsson, und was er ihr vorgeflunkert hatte, in sein Heft. Als Motiv nannte er: Eindruck machen. Es blieb noch die Frage nach der Scham. Phil brauchte nicht lange zu überlegen. Nein, trug er ins Tagebuch ein. Er schämte sich keine Spur. Im Gegenteil, es machte ihm Spass. Er schloss das Heft, versorgte es in der Jacke und schickte sich an zu gehen.

      Da sah er Zangger aus der Praxis kommen. Er zog die Haustür hinter sich zu, setzte seinen Hut auf und ging durch den winzigen Vorgarten auf die Strasse hinaus. Abrupt blieb er stehen, griff in seine Manteltasche, ging zum Haus zurück und schloss die Tür ab. Dann öffnete er das Zeitungsfach unter dem Briefkasten und langte hinein. Jetzt trat er wieder auf die Strasse und eilte davon.

      Ich glaubs nicht!, dachte Phil. Versteckt er dort den Praxisschlüssel? Er erhob sich, schlenderte zum Haus hinüber, drückte pro forma auf die Klingel und tat, als warte er darauf, eingelassen zu werden. Dann öffnete er das Zeitungsfach und tastete die Wände des Fachs ab. An der oberen Innenwand fühlte er den kleinen, magnetischen Behälter, löste ihn mit einem Ruck von der Blechwand und steckte ihn ein. Zum nächsten Mister Minit waren es keine zehn Minuten zu Fuss. Unterwegs zog Phil den Behälter aus seiner Hosentasche und öffnete ihn. Gewöhnlicher alter Kaba, stellte er fest, kein codierter. Das geht. Der Mann an der Mister-Minit-Theke besah sich den Schlüssel genau. Dann setzte er sich an seine Maschine. Die Anfertigung des Nachschlüssels dauerte keine drei Minuten. Phil versorgte das Original im Behälter und steckte die Kopie in sein Portemonnaie. Dann spazierte er zurück, deponierte den Behälter mit Zanggers Hausschlüssel, wo er ihn gefunden hatte, und machte sich auf den Weg zu MacMax.

      Er schaute nach, ob dringende Dinge auf ihn warteten, aber viel gab es nicht zu erledigen. Linda Larsson ging ihm während der ganzen Zeit nicht aus dem Kopf. Die Frau gefiel ihm. Sie gefiel ihm noch besser als Nicole.

      Tja, Nicole, dachte Phil. Er war noch zwei-, dreimal in den Schweizerhof gegangen – nicht zum Frühstück, das wäre zu gewagt gewesen – und hatte nach der niedlichen Praktikantin Ausschau gehalten. Einmal war er nachmittags, als einziger männlicher Gast unter lauter älteren Damen, die ihn unverhohlen musterten und diskrete Signale aussandten, zum Afternoon Tea gegangen. Nicole war tatsächlich dort gewesen und hatte ihn bedient. Er hatte nicht den Eindruck gewonnen, dass sie ihn wiedererkannte. Das hatte ihn ein klein wenig gekränkt. Er hatte den Studenten, nicht den Hotelgast, gemimt und hatte eine ganze Weile mit ihr geplaudert. Missbilligend hatten die Damen rundum in ihren Teetassen gerührt. Er hatte Nicole die Würmer aus der Nase gezogen und einiges über sie erfahren. Sie war erst achtzehnjährig. So gern er sich unter anderen Umständen auf sie eingelassen hätte, ein unerfahrenes Mädchen kam jetzt nicht in Frage. Dafür musste man sich Zeit nehmen, und die hatte er leider nicht. Er hatte deshalb beschlossen, auf weitere Aktionen zu verzichten und das schöne Kind abzuschreiben.

      Linda gehörte in eine andere Liga. Sie brauchte er auch nicht in einem Hotel aufzuspüren. Er konnte sie ganz einfach nach ihrer Therapiestunde bei Zangger abfangen. Oder darauf warten, dass sie ihn anrief.

      Die muss ich ins Bett kriegen, dachte er. Die koche ich weich, wenigstens für einen One-Day-Stand. Denn Night lag vorderhand nicht drin. Er hatte schon eine ganze Weile keine Freundin mehr gehabt. In den vergangenen sechs, sieben Monaten hatte er weiss Gott keine Gelegenheit gehabt, eine kennen zu lernen, geschweige denn, eine abzuschleppen. Er musste sich mit regelmässigen Abstechern nach Oerlikon behelfen. Die Girls an der Langstrasse waren ihm zu billig, diejenigen in Unterstrass und Wollishofen zu teuer. Eine feste Freundin wäre ihm aber lieber gewesen.

      Um fünf schob Phil seine American Express Card zusammen mit Zanggers Praxisschlüssel an ihren Platz und klemmte das vor zwei Wochen eröffnete Lügenjournal unter der Schublade fest. Diese Dinge konnte er nicht gut in sein derzeitiges Logis mitnehmen. Im Bahnhof Hardbrücke kaufte er sich zwei Zeitschriften, «Psychologie Heute» und den Spiegel, der eine Serie über moderne Psychotherapieverfahren brachte. Er dachte keinen Augenblick daran, die Magazine mitzunehmen ohne zu zahlen. Der gelegentliche Tagi-Klau war mehr Sport als Notwendigkeit, und wegen einer gedankenlos unter den Arm geklemmten Zeitung würde man ihm schon keinen Strick drehen. Aber bei einem richtigen Ladendiebstahl erwischt zu werden, konnte er sich zurzeit ganz und gar nicht leisten.

      In seinem Logis legte sich Phil auf die Pritsche und sah an die Zellendecke hinauf. Er neigte nicht zum Hadern. Im grossen Ganzen vermied er es, über sein Leben nachzudenken. Ein Psychiater hatte einmal zu ihm gesagt, er sei ein Meister im Verdrängen. Na und? Er schmiedete eben lieber Zukunftspläne als über die Vergangenheit zu grübeln, die er ohnehin nicht ändern konnte. Er war mit seinem Leben eigentlich ganz zufrieden. Auch wenn ein paar Dinge dumm gelaufen waren. Das mit seiner Mutter zum Beispiel und das mit dem alten Caduff, doch darüber wollte er sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Die Sache, deretwegen er jetzt acht Monate sitzen musste, hätte eine Erfolgsstory werden können. Doch der Crash hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Reines Pech. Sein Chef bei der Bank Wittmann hatte gefunden, er habe Talent, und hatte ihn energisch gefördert. Bald liess er Phil die Depots einiger vermögender Privatkunden verwalten. Einer hielt grosse Stücke auf ihn und liess ihm in der Bewirtschaftung seines Portfolios freie Hand. Phil hatte ihm nämlich einmal eine Hightechaktie und einen EmergingMarkets-Fonds empfohlen, die beide innert Wochen um vierzig Prozent gestiegen waren. Das hatte dem Kunden gewaltig imponiert. Dass Phil kurz darauf auf dessen Depot fast Zweihunderttausend Verlust einfuhr, konnte man ihm bestimmt nicht ankreiden. Das war die Börse gewesen, hätte jedem passieren können. Nur hatte er dummerweise die Idee gehabt, seinem Mandanten den Verlust zu verschweigen. Er wollte ihn nicht beunruhigen. Über Wochen und Monate vertröstete er ihn mit optimistischen Prognosen, schickte ihm beschönigte Depotauszüge und auch sonst nicht ganz einwandfreie Dokumente. Derweil spekulierte er mit den in seinem Depot verbleibenden Werten weiter. Einzig in der Absicht, den erlittenen Verlust wettzumachen. Er hoffte die ganze Zeit, nein, er war absolut überzeugt, dass er seinem Mandanten schliesslich einen fetten Gewinn werde präsentieren können. Denn die Anerkennung dieses Kunden war Balsam für seine Seele. Er hatte bei ihm das Image eines gewieften Börsencracks, und das wollte er auf keinen Fall verlieren. Wie hätte der Kunde sich gefreut, wenn sich der Wert seines Depots verdoppelt hätte! Dumm gelaufen war es dann bloss insofern, als am Schluss nichts mehr übrig blieb, womit er hätte spekulieren können. Resultat: Totalverlust, mehr als zwei Millionen Franken. Betrug war es nicht, das bestätigte man ihm vor Gericht ausdrücklich. Er hatte keinen Franken in die eigene Tasche abgezweigt. Selbst der Staatsanwalt staunte: «Sie hatten ja nicht einmal etwas davon. Wieso tun Sie denn so etwas?» Nun, im psychiatrischen Gutachten stand etwas von Geltungsdrang. Vielleicht auch von Geltungssucht. In einem späteren Gutachten, das wegen der anderen Sache in Auftrag gegeben worden war, hiess es, er leide an gelegentlichen dissoziativen Zuständen. Einerlei, er wurde bloss wegen Urkundenfälschung und ähnlichen Delikten verurteilt. Und zwar zu einer bedingten Haftstrafe. Ausserdem wurde ihm eine Psychotherapie aufgebrummt. Dummerweise passierte ihm während der Bewährungsfrist die andere Panne: Er schlug einem, der ihn einen Hurensohn schimpfte, die Nase ein. Der Richter hätte ihm eine weitere bedingte Strafe auferlegen können. Aber er stufte ihn als unverbesserlich ein, ortete Rückfallgefahr und verweigerte ihm den bedingten Vollzug. So musste er jetzt eine Gesamtstrafe von zwölf Monaten absitzen. Gottseidank bloss in Halbgefangenschaft. Die Psychotherapie konnte deshalb ambulant erfolgen. Irgendwann würde er Zangger um einen wohlwollenden Bericht bitten. Ein Drittel der Strafe würde ihm bestimmt erlassen werden, denn er hielt sich im Knast vorbildlich. Toggweiler würde ihm bestimmt das allerbeste Zeugnis ausstellen.

      Diese Perspektive


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