Der Seelenwexler. Kaspar Wolfensberger

Der Seelenwexler - Kaspar Wolfensberger


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kraxle wieder hoch, in Panik.

      Er renne nach Hause, rufe den Vater.

      Der sehe seinen blutenden Kopf und wolle zuallererst wissen, was er angestellt habe.

      Die H-h-handgriffe l-losgelassen, wimmere er.

      Tgutg!, schimpfe der Vater und verpasse ihm eine Ohrfeige. Und wo die Mutter sei, frage er dann.

      U-unter dem Traktor, sie sei ganz w-w-weiss im Gesicht. Sie habe N-nasenbluten, schluchze er, und aus dem O-o-ohr blute sie auch.

      Atemlos kämen sie beim Traktor an. Der Motor laufe noch, die Räder drehen sich in der Luft.

      Die Mutter röchle nicht mehr.

      Tgutg!, brülle der Vater und verprügle ihn ein weiteres Mal.

      Zangger war es bei der Geschichte kalt den Rücken hinuntergelaufen. Das ist keine Schwere-Kindheit-Macke, das ist ein echtes Trauma, hatte er gedacht. Nicht die Prügel, aber die Mutter sterben sehen. Was muss der Knabe für Schuldgefühle gehabt haben! Die können einen lebenslang begleiten. Mich erstaunt bloss, dass aus ihm ein Sonnyboy geworden ist.

      «Wie alt ist er?», wollte Seidenbast wissen.

      «Ende zwanzig, Anfang dreissig. Ein Charmeur und ganz dein Typ», schmunzelte Zangger. Hin und wieder musste er auf das Einsiedlerleben seines Freundes anspielen.

      «Wie kommst du denn darauf?», fragte Seidenbast. «Er ist ja nicht einmal halb so alt wie ich.»

      «Eben. Dir gefallen doch junge, gut aussehende Kerle.»

      «Ja, ja», meinte Seidenbast, als ob ihn das Thema langweile. «Aber nur intelligente, mit dummen kann ich nichts anfangen.»

      «Das weiss ich. Ein junger, gut aussehender, intelligenter Typ. So einer ist er.»

      «Gebildet?»

      «Gut möglich.»

      «Du machst mich neugierig. Ein bisschen neurotisch darf er übrigens schon sein. Das macht mir nichts aus.»

      Ich weiss, dachte Zangger, und liess Seidenbasts Verflossene in der Erinnerung Revue passieren. Seidenbasts Freunde waren mindestens zehn, später eher zwanzig oder mehr Jahre jünger gewesen als er selbst. Er hatte stets charmante, extravertierte und etwas verrückte Freunde gehabt. Alle hatten Seidenbast für seinen scharfen Verstand und seine Bildung bewundert, aber keiner hatte sich davon einschüchtern lassen. Seidenbast hatte sich immer über beide Ohren in den gerade aktuellen Adonis verliebt. Und umgekehrt waren die Kerle auch regelrecht in ihn verknallt gewesen, wenigstens für eine gewisse Zeit. Für Zangger war es bis anhin ein Rätsel geblieben, was Seidenbast für junge Männer so anziehend machte. Immer wieder machten ihm blendend aussehende junge und nicht mehr ganz junge Typen den Hof. Kellner in einem Gourmetlokal, Buchhändler oder junge Künstler, die ihn auf einer Vernissage umschwärmten. Gewiss, Seidenbast sah nicht schlecht aus: Er hatte silbergraues, kurz geschnittenes Haar, einen diskret gebräunten Teint, und hinter den randlosen Brillengläsern funkelten wache schwarze Augen. Er war immer tadellos gekleidet, auch wenn er nur Hose und Hemd trug. Seine Sachen waren aus den feinsten Stoffen perfekt geschnitten. Manche fanden, er sehe aus wie ein älterer Filmstar, eine Mischung aus Gary Cooper und Clint Eastwood: männlich, etwas unnahbar und geheimnisvoll.

      Sich selber, da machte Zangger sich nichts vor, hätte er höchstens mit Fernandel vergleichen können. Mit Don Camillo, gross gewachsen, eher unförmig und etwas ungelenk. Mit Pferdegebiss. Und mit Bauch, obschon er sich mit Waldläufen abrackerte. Dazu eine Stirnglatze, die sich schon ziemlich ausdehnte.

      Mit seinem letzten Freund, seinem einzigen wirklichen Lebenspartner, Sven, hatte Seidenbast fast zehn Jahre zusammengelebt. Die beiden hatten sich auf dem Standesamt registrieren lassen, als dies in Zürich möglich geworden war. Sven war bald darauf an Immunschwäche gestorben. Und seither war Seidenbast keine Liaison mehr eingegangen. Zangger konnte sich vorstellen, dass er hin und wieder eine Affäre hatte, aber Seidenbast hatte nie etwas dergleichen gesagt. Und aus irgendeinem Grund hatte Zangger ihn bisher nicht danach gefragt.

      «Kannst du mich mit ihm bekannt machen?», fragte Seidenbast sachlich.

      Zangger war sich nicht sicher, ob sein Freund es ernst meinte. Er gab keine Antwort.

      «Dann eben nicht», sagte Seidenbast. «Aber Spass beiseite. Etwas ist faul an der Geschichte.»

      «Was?»

      «Er will dich um den Finger wickeln.»

      «Kann schon sein», meinte Zangger. «Das versuchen schliesslich viele. Es gehört zu meinem Beruf, unbewusste Manipulationen zu erkennen und aufzudecken.»

      «Ich meine bewusst, nicht unbewusst. Er führt dich ganz bewusst an der Nase herum, das spüre ich irgendwie.»

      «Was du nicht sagst», lachte Zangger.

      «Wie heisst er?»

      «Also bitte, ich nenne doch keine Namen.»

      «Jetzt tu nicht so. Bloss den Vornamen, den willst du ja auch wissen, wenn dir ein Supervisand einen Patienten vorstellt.»

      «Na gut, Gion heisst er.»

      «John? Ein Ami?», forschte Seidenbast weiter.

      «Wieso?», fragte Zangger zurück. Dann begriff er, aber er fühlte sich nicht verpflichtet, den Irrtum aufzuklären. «Nein. Und jetzt sage ich kein Wort mehr.»

      «Doch, sag mir eins», lachte sein Freund. «Wann geht es los? Wann fliegt ihr nach Afrika?»

      «Überhaupt nicht», erwiderte Zangger. «Wir fahren nach Schottland.»

      «Nach Schottland? Wie kommt denn das?»

      «Tina will einfach nicht nach Afrika. Ein für allemal nicht, sagt sie.»

      «Wieso eigentlich nicht?»

      «Ich weiss nicht. Ein Vorurteil. Oder vielleicht hat sie Angst. Wie auch immer, schliesslich überzeugte sie mich von Schottland. In sechs Wochen geht es los.»

      «Für wie lange?»

      «Den ganzen Juni. Oder ein, zwei Wochen länger.»

      «Das ist die beste Zeit für Schottland. Ich beneide dich.»

      «Ich habe die Pause auch dringend nötig.»

      «Sage ich ja. Ausgebrannt, wie du bist. Kommen die beiden Jungs mit?»

      «Nein, die Zeiten sind vorbei.»

      «Dann also Honeymoon mit Tina?»

      Schön wärs, dachte Zangger. «Ich hoffe es», sagte er und kniff ein Auge zu.

      «Wer schaut zu deiner Schule? Und wer zur Praxis?»

      Ein Seminar werde er noch halten, sagte er, für das folgende habe er einen Gastdozenten eingeladen, danach beginne die Sommerpause. Seinen Patienten werde er für den Notfall die Adressen zweier Kollegen angeben. Dann kehrte er den Spiess um: «Und du, Marius? Wie gehts eigentlich dir?»

      Seidenbast sagte, er wolle nicht klagen. Mit dem Alleinsein sei er noch immer nicht glücklich, aber das Geschäft laufe besser als je. Zangger packte die Gelegenheit beim Schopf, und noch ehe Seidenbast übers Geschäft reden konnte, fragte er:

      «Lachst du dir denn nie einen Lover an?»

      Seidenbast sah ihn nachdenklich an. Zangger hatte eine witzige Antwort erwartet.

      «Das geht nicht mehr wie früher», sagte er schliesslich.

      Ach, komm, wollte Zangger schon sagen, ich sehe doch, wie dich die jungen Kerle anhimmeln. Aber er liess es bleiben. Eine oberflächliche Aufmunterung war jetzt nicht das Richtige.

      «Natürlich könnte ich in der Szene einen aufgabeln», fuhr Seidenbast fort. «Für eine Nacht. Aber ich bin kein grosser Szenegänger. Nie gewesen, das weisst du. Und überhaupt ist mir nicht nach Affären zumute.» Er blickte zum Fenster hinaus und sagte lange nichts. Dann sah er Zangger an und fragte: «Weisst


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