Der Seelenwexler. Kaspar Wolfensberger

Der Seelenwexler - Kaspar Wolfensberger


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die Lukas seinerseits mit einer Verbeugung, einer tieferen, erwiderte. Der Heiler nahm das Amulett von Lukas’ Hals, füllte den eingekochten Rest des Heiltrunks in ein grünes, gläsernes Flakon, schraubte einen Deckel drauf und steckte ihm das Flakon zu. Félix erklärte ihm, die Worte des Guérisseurs übersetzend, dass er das Konzentrat mit Wasser aufkochen und zu sich nehmen müsse, sollte unterwegs das Fieber wieder auftreten.

      Der Marsch zurück durch den Urwald dauerte zwei Stunden. Der Camper, Lukas traute seinen Augen kaum, stand unversehrt dort, wo er ihn drei Tage zuvor hatte stehen lassen. Er setzte sich ans Steuer, nahm Félix an Bord und fuhr los. Bei der Fähre nach Grand-Lahou, die sie nach drei, vier Kilometer Fahrt erreichten, liess er ihn aussteigen. Aus dem kleinen Lederbeutel, den er Tag und Nacht unter seiner Kleidung auf dem Leib trug, klaubte er die Münze, die er als Notbatzen bei sich gehabt hatte, ein Goldvreneli. Er gab Félix das Goldstück und schüttelte ihm lange die Hand. Wie ein älterer Bruder dem jüngeren, klopfte er ihm zum Abschied auf die Schulter. Der zurückhaltende Junge wagte die Geste nicht zu erwidern. Sie sagten sich Adieu und Lukas fuhr weiter.

      Félix winkte ihm lange nach.

      Lukas Zangger streckte den Arm weit durch das offene Fenster und winkte zurück, bis er den Jungen, der ihn gerettet hatte, im Rückspiegel nicht mehr sah.

      1.

      Fast alles an ihm war fake. Das Weiss seiner Zähne war zwar echt, der sportliche Bronzeteint auch, aber die Farbe seines trendig geschnittenen Haarschopfs war nicht ganz naturbelassen: dunkles, goldenes Blond mit frechen, silbergrau melierten Strähnen. Er trug eine gefälschte Rolex am Handgelenk, die ArmaniJeans hatte er sich ausgeliehen. Seine Füsse steckten in Timberlands, die ebenso wenig ihm gehörten. Nur wenn es sein musste, nannte er seinen richtigen Namen. Doch der, der in seinem Pass stand, stimmte im Grunde genommen auch nicht.

      «Jeu sun buc tiu bab, ti bastard!», hatte der alte Caduff dem Jungen ins Gesicht geschrien, Schnapsschwaden in seinem Atem. Damals, unter der Stalltür, in jenem verfluchten Bergkaff. Es waren seine letzten Worte gewesen. Ihr letzter fürchterlicher Streit: Gion-Gieri draussen vor dem Stall, den Zappun in der Hand. Der Alte, im Zorn die Mistgabel erhoben, wie schon viele Male. Doch dieses Mal hatte sich der Junge nicht verdreschen lassen. Die Erinnerung daran, wie der Streit geendet hatte, war in seinem Kopf gelöscht. Einfach weg. Oder gar nie vorhanden gewesen. Er wusste bloss noch, dass der Amtsarzt aus Ilanz gekommen war. Dieser hatte den Alten, der tot in seiner blutdurchtränkten Stallhose neben dem Misthaufen lag, untersucht. Lange hatte er den Jungen angesehen. Dann hatte er den Schluss gezogen, der Alte, ein notorischer Grobian, sei von seinem Muni, der losgebunden im Stall stand, auf die Hörner genommen worden und an seiner Leistenverletzung verblutet. Gion-Gieri hatte nichts dazu zu sagen gewusst. Traurig war er nicht gewesen – keiner in der ganzen Talschaft war traurig gewesen –, aber er hatte wieder zu stottern begonnen. Das hatte ihn genervt, denn er hatte geglaubt, das Übel überwunden zu haben, das ihn als Kind geplagt hatte. Das Geständnis, das der Alte herausgeschrien hatte wie einen Fluch, hatte er für sich behalten. Doch seither wusste er, dass er in Wahrheit gar kein Caduff war. Sein doppelter Taufname passte ihm auch nicht mehr, im Unterland nannte er sich Gion, wenn er nicht als Phil auftrat. Und meistens war ihm nach Phil zumute. Immerhin, die Augenfarbe in seinem Pass stimmte – wenigstens zur Hälfte: braun stand da, sein linkes Auge aber war grün –, die Körpergrösse ebenfalls: einseinundneunzig. Auch das Geburtsdatum, aber jenes auf der Legi der Klosterschule, die er immer noch auf sich trug, war getürkt. Er hatte eine fremde American Express Card dabei und fast alles, was er sagte, war gelogen.

      Phil stieg aus der S-Bahn, fuhr mit der Rolltreppe in die Bahnhofhalle hoch und steuerte den Kiosk in der Mitte der Halle an. Die Kioskfrau bediente gerade einen Kunden, Phil griff sich einen Tages-Anzeiger vom Stapel, faltete ihn zusammen und klemmte ihn unter seinen Arm. Als die Frau hinter der Theke zu ihm herübersah, nahm er ein Motorsportmagazin von der Ablage und hielt es ihr entgegen.

      «Neun achtzig», sagte die Frau.

      Phil wendete das Magazin hin und her, legte, als die Frau mit einem gleichgültigen Blick die Hand ausstreckte, das Heft, als sei es ihm zu teuer, zurück und ging mit dem Tages-Anzeiger unter dem Arm weg. Gemächlich schlenderte er durch die Bahnhofstrasse seewärts. Er hatte Lust auf ein währschaftes Frühstück. Der Termin bei Zangger war erst um elf, er hatte also noch genügend Zeit. Der Florhof und das Claridge waren in der Nähe von Zanggers Praxis. Aber mit ihren bloss etwa zehn oder zwanzig Zimmern kamen sie nicht in Frage. Wenn er zu Fuss ging, lagen das Savoy Baur en Ville, das Baur au Lac und das Eden au Lac an seinem Weg. Phil blickte zum Himmel hinauf. Es sah nach Regen aus, er würde also besser gleich jetzt frühstücken und dann das Tram nehmen. Um zwei Ecken ging er zum Bahnhof zurück. Im Schweizerhof war er noch nie gewesen. Er vermied es, den Türsteher anzusehen und durchquerte zügig die Eingangshalle. Den Lift liess er links liegen und stieg die Treppe hoch. Die Frühstücksräume befanden sich in Stadthotels gewöhnlich im ersten Stock. Er betrachtete das Buffet. Da war alles, was es für ein anständiges Frühstück brauchte. Er suchte sich einen Tisch beim Fenster und setzte sich. Als die Serviererin näher kam, zückte er sein Handy, klappte es auf und hielt es ans Ohr.

      «Kaffee oder Tee?», fragte sie leise.

      «Latte Macchiato», sagte er, mit amerikanischem Akzent, neben dem Handy vorbei.

      «Ihre Zimmernummer, bitte?», fragte sie.

      «Pardon me?»

      «Your room number, please.»

      «Two-two-four», nuschelte Phil und nahm das vorgegaukelte Telefongespräch wieder auf.

      Mit Fremdsprachen hatte er keine Probleme. Im Gegenteil, da war er in seinem Element. Schon in der Klosterschule hatte er alle mit seinen Imitationskünsten unterhalten: Englisch wie ein Franzose oder wie der Kondukteur der Rhätischen Bahn. Französisch wie ein Deutscher und Deutsch wie der Prorektor. Schweizerdeutsch wie ein Jugo. Deutsch wie ein Deutscher oder Italienisch wie ein Italiener, das war für ihn sowieso ein Kinderspiel. Er war mehrsprachig aufgewachsen: Holländisch mit der Mutter, jedenfalls die paar wenigen Jahre. Rätoromanisch, genauer gesagt Surselvisch, mit dem alten Caduff und mit der Tante, im Kindergarten und im Schulzimmer. Bündner Dialekt auf dem Pausenplatz der Sekundarschule und in Ilanz. Und Deutsch in den höheren Schulklassen. Er war einmal darauf gekommen, dass er sich eine neue Sprache am besten aneignete, indem er einen Fremdsprachigen spielte. Er hatte nicht nur das Ohr, er hatte auch das Auge für fremde Sprachen. Er schaute den Fremden buchstäblich aufs Maul. Und auf Arme, Hände, Finger. Er imitierte Mimik, Gesten und Manieren. Er richtete sich auf, hielt die Oberlippe steif und sog die Luft ein wie ein Engländer, gestikulierte wie ein Italiener, sprach mit halbvollem Mund und gurgelte mit Lauten wie ein Franzose, kaute amerikanischen Slang wie Chewing-Gum. Er ahmte ganz einfach nach, wie er Hotelgäste, Skifahrerinnen und Wanderer, Kellner, Pizzaioli und Zimmermädchen hatte reden hören. Da war er ein Naturtalent. Wenn es sein musste, konnte er sogar seinen Bündner Akzent vollständig ablegen. Und er hatte die überraschende Feststellung gemacht, dass er kein bisschen stotterte, sobald er dieses Sprachenspiel spielte.

      «Sorry», flüsterte die junge Frau und zog sich zurück.

      Phil hob beschwichtigend eine Hand. No problem, formte er lautlos mit seinen Lippen.

      Nach einer Weile klappte er das Handy zu, holte sich Brötchen, Butter, Käse und Konfitüre und kehrte an seinen Tisch zurück. Die Serviererin brachte den Macchiato. Als sie weg war, schlug er den Tages-Anzeiger auf und begann die Kleinannoncen zu studieren. Da waren zwei, drei Angebote, die ihn interessierten. Er markierte sich die Inserate mit einem Kugelschreiber. Schliesslich ging er noch einmal am Buffet vorbei, packte zwei Muffins in eine Papierserviette und steckte sie in die Tasche seiner Regenjacke. Er schlenderte um ein paar Tische herum, um sich die Serviererin noch einmal aus der Nähe anzusehen. Sie sah niedlich aus, Rehaugen, Pagenschnitt und Grübchen in den Wangen. Nicole, Praktikantin, stand auf ihrem Namensschild.

      «Have a nice day», hauchte sie.

      Ostschweizer Akzent, stellte er fest. Er lächelte ihr zu und verliess das gastliche Haus.

      Der hintere Wagen des Elfers war nur halb voll, er machte es sich auf einem freien Sitz bequem. Am Stadelhofen stieg er aus,


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