Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner. Морис Леблан
Lupin selbst gegen Arsène Lupin; der Kampf wurde interessant!
Er zog sich zwei Tage hin.
Wir sahen Rozaine überall herumsuchen, sahen, wie er sich unter das Personal mischte, fragte und schnüffelte. Wir sahen seinen Schatten in der Nacht herumirren.
Der Kommandant entwickelte seinerseits eine energische Tätigkeit. Die »Provence« wurde von oben nach unten gekehrt, in allen Winkeln durchforscht. Man durchsuchte ausnahmsweise die Kabinen mit dem begründeten Vorwand, dass die Schmuckstücke an irgendeinem Ort versteckt sein müssten, nur eben nicht in der Kabine des Schuldigen.
»Man wird doch etwas finden?« fragte mich Miss Nelly. »Mag er auch ein noch so großer Hexenmeister sein, so gelingt es ihm doch nicht, Diamanten und Perlen unsichtbar zu machen.«
»Sicher«, antwortete ich, »aber man müsste unser Hutfutter, das Futter unserer Jacken und alles, was wir mit uns herumtragen, untersuchen.«
Ich zeigte ihr meine Kodak, einen 9×12-Apparat, mit dem ich sie, so oft es ging, in den verschiedensten Posen fotografierte.
»Nehmen Sie einen nicht größeren Apparat als diesen, glauben Sie nicht, dass darin Platz für alle kostbaren Steine der Lady Jerland wäre? Man tut so, als ob man Aufnahmen macht, und das Spiel ist gewonnen.«
»Ich habe aber gehört, dass es keinen Dieb gibt, der nicht irgendeine Spur hinterlässt.«
»Es gibt einen: Arsène Lupin.«
»Warum?«
»Warum? Weil er nicht nur an den Diebstahl denkt, den er begeht, sondern an alle Umstände, die ihn verraten könnten.«
»Zu Anfang waren Sie zuversichtlicher. «
»Aber seitdem habe ich ihn am Werk gesehen.«
»Was sollte man nach Ihrer Ansicht tun?«
»Meiner Ansicht nach ist alles Tun Zeitverschwendung.«
Und tatsächlich verlief die Suche ergebnislos oder wenigstens entsprach das Ergebnis nicht der allgemeinen Anstrengung: Dem Kommandanten wurde die Uhr gestohlen.
Wütend verdoppelte er seinen Eifer und überwachte Rozaine, mit dem er mehrere Unterredungen hatte, noch intensiver. Am folgenden Tag – was für eine umwerfende Ironie – fand man die Uhr zwischen den falschen Kragen des zweiten Kommandanten.
Alles das grenzte an ein Wunder und zeigte die humoristische Art Arsène Lupins, sein berufliches Können als Einbrecher, aber auch den Dilettanten. Er arbeitete nach Geschmack und Berufung, sicher, aber auch aus Vergnügen. Er machte den Eindruck eines Herrn, der sich über das Stück amüsiert, das er spielen lässt, und der hinter den Kulissen herzhaft über die Geistesblitze und Situationen lacht, die er erfand.
Er war entschieden ein Künstler in seinem Fach, und als ich den finsteren und hartnäckigen Rozaine beobachtete und an die doppelte Rolle dachte, die dieser eigenartige Mensch spielte, konnte ich nicht mehr ohne eine gewisse Bewunderung von ihm sprechen.
In der vorletzten Nacht hörte der vierte Offizier an der dunkelsten Stelle der Brücke einen Menschen stöhnen. Er trat näher. Ein Mann lag lang hingestreckt, sein Kopf war in eine graue feste Schärpe gehüllt, die Handgelenke mit Hilfe einer feinen Schnur gefesselt.
Man befreite ihn von den Fesseln, hob ihn auf und leistete Erste Hilfe.
Der Mann war Rozaine.
Es war Rozaine, der im Laufe einer seiner Expeditionen überfallen, niedergeschlagen und ausgeplündert worden war. Eine mit einer Nadel an seinem Jackett befestigte Visitenkarte enthielt folgende Worte:
»Arsène Lupin nimmt von Herrn Rozaine dankbar die zehntausend Francs an.«
In Wirklichkeit enthielt das gestohlene Portefeuille zwanzig Tausendfrancscheine.
Natürlich beschuldigte man den Unglücklichen, diesen Angriff gegen sich selbst vorgetäuscht zu haben. Aber außer der Tatsache, dass es ihm unmöglich gewesen wäre, sich so zu fesseln, wurde festgestellt, dass die Schrift auf der Karte entschieden von der Handschrift Rozaines abwich und der Arsène Lupins, die man in einer alten Zeitung fand, zum Verwechseln ähnelte.
So war also Rozaine nicht mehr Arsène Lupin. Rozaine war Rozaine, der Sohn eines Kaufmanns aus Bordeaux! Und die Gegenwart Arsène Lupins wurde von Neuem, und durch was für eine fürchterliche Tat, bestätigt.
Schrecken brach aus. Man wagte nicht mehr, allein in seiner Kabine zu bleiben, noch weniger sich an zu abseits gelegenen Stellen der Gefahr auszusetzen. Vorsorglich gesellte man sich zu Menschen, die sich voreinander sicher glaubten. Und trotzdem trennte ein instinktiver Argwohn auch die enger befreundeten. Das rührte daher, dass die Bedrohung jetzt nicht mehr von einem einzigen Individuum ausging und dadurch weniger gefährlich war. Arsène Lupin war jetzt … waren jetzt alle. Unsere überspitzte Fantasie gab ihm eine unbegrenzte, wunderbare Macht. Man hielt ihn für fähig, die überraschendsten Verkleidungen vorzunehmen, so konnte er nacheinander der achtbare Major Rawson oder der adlige Marquis de Raverdan oder sogar, denn man hielt sich nicht mehr an den anklagenden Anfangsbuchstaben, diese oder jene Person sein, die alle kannten und die eine Frau, Kinder und Dienstboten hatte. Die ersten Depeschen brachten keine Neuigkeit. Wenigstens teilte der Kommandant sie uns nicht mit, und dieses Schweigen beruhigte uns nicht gerade.
So schien der Tag ohne Ende zu sein. Man lebte in der ängstlichen Erwartung eines Unglücks. Dieses Mal würde es kein Diebstahl, kein einfacher Angriff mehr sein, es würde ein Verbrechen, ein Mord geschehen. Man glaubte nicht, dass sich Arsène Lupin mit den beiden unbedeutenden Diebstählen begnügen würde. Während die Behörden zur Untätigkeit verdammt waren, brauchte er als absoluter Herr des Schiffes nur zu wollen; alles war ihm möglich: Er konnte über die Habe und das Leben verfügen.
Für mich, ich gebe es zu, waren es zauberhafte Stunden, denn ich gewann das Vertrauen von Miss Nelly. Sie, die durch so viele Ereignisse beeindruckt und von Natur aus schon nervös war, suchte freiwillig an meiner Seite Schutz und Sicherheit. Ich war glücklich, für sie da sein zu können.
Innerlich pries ich Arsène Lupin. War er es nicht, der uns einander näherbrachte? Verdankte ich es nicht ihm, dass ich das Recht hatte, mich den schönsten Träumen hinzugeben? Träumen der Liebe, warum soll ich es nicht zugeben? Die Andrézys sind von gutem Geschlecht aus Poitiers, aber ihr Wappen hat ein wenig an Vergoldung verloren, und es scheint mir eines Kavaliers nicht unwürdig, daran zu denken, seinem Namen den verlorenen Glanz wiederzugeben.
Und diese Träume, das fühlte ich, missfielen Miss Nelly nicht. Ihre lächelnden Augen erlaubten mir, sie zu träumen. Ihre sanfte Stimme gab mir das Recht, zu hoffen.
Bis zum letzten Augenblick blieben wir, auf die Reling gestützt, beisammen, während die Linie der amerikanischen Küste vor uns auftauchte.
Man hatte die Nachforschungen unterbrochen. Man wartete. Von der ersten Klasse bis zum Zwischendeck, auf dem die Auswanderer herumwimmelten, wartete man auf die erhebende Minute, da sich endlich das unlösbare Rätsel klären würde. Wer war Arsène Lupin? Hinter welchem Namen, hinter welcher Maske versteckte sich der berühmte Arsène Lupin?
Und die überwältigende Minute kam. Wenn ich hundert Jahre leben sollte, so werde ich keine Einzelheit vergessen.
»Wie bleich Sie sind, Miss Nelly«, sagte ich zu meiner Gefährtin, die sich halb ohnmächtig auf meinen Arm stützte.
»Und Sie!« antwortete sie mir. »Oh! Sie sind so verändert!«
»Bedenken Sie doch! Diese Minute ist so ergreifend, und ich bin glücklich, sie an Ihrer Seite zu erleben, Miss Nelly. Ich glaube, dass Ihre Erinnerung manchmal bei diesem Augenblick …«
Sie, aufgeregt und fiebrig nervös, wie sie war, hörte nicht zu. Die Gangway wurde heruntergelassen. Bevor wir die Erlaubnis bekamen, sie zu überschreiten, stiegen Leute an Bord, Zollbeamte, Männer in Uniform, Briefträger.
Miss Nelly stammelte:
»Wenn man feststellt, dass Arsène Lupin während der Überfahrt geflohen ist, wäre ich nicht