GLOBALE PROVINZ. Georg Rainer Hofmann

GLOBALE PROVINZ - Georg Rainer Hofmann


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      Am 24. und 25. Mai 1988 fand ein Symposium der Herbert-von-Karajan-Stiftung bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien statt. Wir hatten dort einen Vortrag zur Präsentation des MDZ71 eingereicht. Guerino Mazzola hatte es zudem arrangiert, dass sich Herbert von Karajan, der im Jahr 1988 der wohl bekannteste Musiker der Welt war, den MDZ71 persönlich und exklusiv vorführen lassen wollte. Wir hatten den MDZ71 für den Termin in einem Büro des Wiener Musikvereinsgebäudes aufgebaut. Herbert von Karajan »rauschte heran« mit seinem Hofstaat von der Deutschen Grammophon. Karajan hatte ein irrwitziges Auto, einen Porsche 959. Das könnte damals das wohl schnellste Serienauto der Welt gewesen sein. Unvergesslich ist mir unsere MDZ71-Vorführung. Der bereits schwer gehbehinderte von Karajan trug einen dunkelblauen ausgebeulten Trainingsanzug. Wir durften bei dieser Begegnung leider keine Erinnerungsfotos aufnehmen, die Herbert von Karajan persönlich gezeigt hätten.

       Dr. Christof Blum, Eschborn

       Exkurs – Über Musik mit Menschen und Maschinen

      Wenn man das so liest, so wird einem bewusst, wie gut sich die Geschichte der Digitalisierung mit ihren verschiedenen Entwicklungsstufen der vergangenen 40 Jahre anhand der technischen Entwicklungen in der Musik erzählen lässt.

      Im MDZ71 wurden Tonereignisse verarbeitet, deren Merkmale nahe an der Notenschrift liegen. Ein Ereignis wird durch Tonhöhe, Einsatzzeit, Dauer und Lautstärke beschrieben. Der angeschlossene Synthesizer erzeugte hieraus Klänge mithilfe von Schwingungsgeneratoren. In gleicher Weise, wie sich die graphische Datenverarbeitung der 1980er-Jahre in Richtung digitaler Bildverarbeitung entwickelte, zog die digitale Signalverarbeitung in der Musik ein. Das Pendant des Pixels ist das Sample. Digitale Signalverarbeitung ermöglicht nicht nur die Reproduktion beliebiger natürlicher Klänge sondern auch eine stark komprimierte Signalspeicherung, wie sie dem MP3-Format zugrunde liegt.

      Wie kein weiteres Kürzel steht »MP3« für den digitaltechnikbedingten Umbruch einer ganzen Branche. Physische Tonträger gehören seitdem der Vergangenheit an. Musik ist immateriell geworden. Nein, die MP3-Erfinder kommen nicht aus dem Silicon Valley, sondern vom Fraunhofer-Institut in Erlangen. Freilich hat effiziente Signalverarbeitung nichts mit »Verstehen« zu tun. Auch dies kann am Beispiel der Musik gut illustriert werden. Die populäre Shazam-App »erkennt« in Sekundenschnelle gespielte Musiktitel und nennt Interpreten und Namen des Stückes. Schier endlos scheint die Musikdatenbank zu sein, auf die hier zugegriffen wird. Und der Abgleich erfolgt beeindruckend schnell. Wer aber meint, die App verstehe etwas von Musik, der irrt.

      Das Thema »Computer machen Musik« ist heute so spannend wie in den 1980er-Jahren. Technische Innovationen und geändertes Nutzungsverhalten sind grundsätzlich eher lose miteinander gekoppelt. Das soll heißen, dass nicht jeder technologische Quantensprung unmittelbar die Welt verändert, aber im Einzelfall können vergleichsweise kleine technische Fortschritte eine Lawine an Verhaltensänderung hervorrufen. Die Flut an Bildern und Tönen, von denen wir heute umgeben sind, war vor 40 Jahren so nicht vorstellbar. Auch wenn auf Technikebene in weiten Teilen »nur« quantitative Effekte (Netzbandbreite, Prozessorleistung) die Entwicklung prägten, auf Nutzungsebene vollzogen sich fundamentale Veränderungen. Jedem Hobbymusiker steht heute im Internet eine weltweite Bühne bereit. Die Explosion an Kreativität ist spürbar. Musik ist überall. Und mit dem neuen Licht kommt auch ein neuer Schatten, denn die Musik ist nicht mehr ortsgebunden. Die weltweite Bühne steht in weltweiter Konkurrenz. Musik ist billig. Ist sie damit auch »wertlos« geworden? Wie kann ihr Wert geschützt werden?

      Freilich ist die Flut an Quellen und Kanälen und die Überwindung von Ortsgebundenheit und klassischen Redaktionsprozessen in der Musik vergleichsweise die kleinere Herausforderung für die Menschheit, bedenkt man die sich im Zeitalter der »Fake News« zuspitzende Frage der Vertrauenswürdigkeit von Nachrichtenkanälen. Hätten wir uns vor 40 Jahren die gesellschaftliche Brisanz vorstellen können, die von Kurznachrichtendiensten ausgeht? Es scheint, als liege trotz Informationsflut der Höhepunkt der Aufklärung bereits hinter uns. Musik hilft zur Beruhigung und Versöhnung. Heute wie damals. Digital wie analog.¶

      Der MDZ71 spielte in Wien das Stück »Der Dichter spricht« aus dem Zyklus »Kinderlieder« von Robert Schumann. Guerino Mazzola hatte die Papier-Partitur – Ton per Ton – in den MDZ71 eingetippt. Aber bevor wir zur eigentlichen Vorführung der Möglichkeiten des MDZ71 kommen konnten, den geometrischen Manipulationen der »Score«, schritt von Karajan bereits nach den ersten Takten heftig ein. »Das ist falsch, das Stück ist ja ganz falsch gespielt!« Er hatte das Stück in der Originaltonart h-moll erwartet. Offenbar hatte er insoweit ein absolutes Gehör. Guerino Mazzola zeigte, dass es dem MDZ71 per lineare Translation sehr einfach möglich ist, die Tonart eines Stücks komplett zu ändern. Der durchaus Technik-affine Herbert von Karajan war am Ende der Vorführung schon beeindruckt, er meinte, mit dem System MDZ71 könnte man ihn »die ganze Nacht allein lassen«.

      Abends dann saßen Guerino Mazzola, Christof Blum und ich auf den allerbesten Plätzen »Balkon Mitte« im großen Goldenen Saal im Musikvereinsgebäude in Wien. Wir hatten für den Abend eine Einladung der Herbert-von-Karajan-Stiftung erhalten. Diesen Saal kennt das internationale Publikum als den Aufführungsort der berühmten Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker. Wir hörten die Berliner(!) Philharmoniker in Wien(!) mit »Ein Heldenleben« von Richard Strauss. Von Karajan hatte einen Fahrradsattel als einen Sitz am Dirigentenplatz montieren lassen, weil er nicht mehr so gut stehen konnte. Einer der Einsätze der Posaunen nach einer Generalpause misslang, das Dirigat des Perfektionisten Herbert von Karajan war an dieser Stelle einfach zu unpräzise. Diesen Fehler sollte ich als Amateur-Musiker – der aber immerhin das Strauss-Stück einigermaßen kannte – mein Leben lang im Ohr behalten. Der große Herbert von Karajan war offenbar auch nicht unfehlbar – er hatte sich im Dirigat vertan.

      Der MDZ71 erfuhr durchaus eine seriöse Rezeption. Am 3. September 1988 wurde das Stück »Der Saitensprung des Ludwig van B« des US-amerikanisch-tschechischen Komponisten Jan Beran im Kunsthaus Zürich uraufgeführt. Es war ein »multimediales« Klavierkonzert, extra für den MDZ71 komponiert. Parallel zu den Tonereignissen lief eine Diashow mit Bildern des Schweizer Künstlers Jakob Sollberger, die dieser dafür ebenfalls extra erstellt hatte. Die Vorführung musste per »full-size panic action« noch einmal neu gestartet werden, weil sie von einem – in Zürich wirklich sehr seltenen – Stromausfall unterbrochen worden war.

       Professor Dr. Guerino Mazzola, Minneapolis

       Exkurs – Über Musik-Computer auf CD und auf der Bühne

      Wenn ich das so lese, dann werde ich an die Episode vom bestandenen »Turing-Test« für Musik-Computer erinnert.

      Für mich als Protagonisten des MDZ71 war Jan Berans Komposition für meinen Musikcomputer ein großer Erfolg, ein »proof of concept«, wie man zu sagen pflegt. Aber sie war stilistisch »far out«. Eine Kritik in einer namhaften deutschen Musikzeitung meinte, es würde einem beim Anhören »ganz blümerant«. Zudem war es für mich als Jazz-Pianisten ohnehin wünschenswert, den MDZ71 für den Jazz einzusetzen.

      Natürlich war diese Idee damals noch problematisch, da improvisierende Musiksoftware noch nicht entwickelt war. Und auch im Jahr 2020 funktioniert sie noch nicht noch nicht befriedigend. Daher entschied ich mich für das Stück mit dem Titel »Synthesis« für eine Lösung, wo alles Nichtimprovisierte vom MDZ71 übernommen würde, während ich die Improvisationen auf dem Klavier vorzutragen hätte. Der MDZ71 sollte alle Perkussionsinstrumente und den Bass übernehmen. Mit den Synthesizern von Yamaha RX5, TX802 und Roland R-8M wurden so 122 Instrumente angesteuert. Die vier Sätze der Komposition mit den Bezeichnungen »Earthquake«, »Liquid Colors«, »Poem of Wind« und »Burning Spears« wurden alle nach einem motivischen Prinzip, einer Art Leitmotiv, gestaltet, nämlich der mathematischen Klassifikation aller drei-elementigen Motive in 26 Klassen. Die Details kann man in meinem Buch »The Topos of Music« aus dem Jahr 2018 (Band II, Kapitel 51) nachlesen. Diese Motive wurden als melodische Elemente, aber auch rhythmisch als Perkussionsgestalten benutzt.

      Im Frühjahr 1990 benötigte ich für die Ausarbeitung der MDZ71-Komposition »Synthesis« vier Monate. Die gleichnamige CD wurde in einem einzigen »Take« im Studio aufgenommen und dann veröffentlicht, ohne irgendeinen


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