"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!". Meinhard Saremba
und Erbauliches · Geistige Anregungen · Eine politische Rheinwanderung · Meriten, Musik und Merkantiles · Liebe auf den ersten Ton · Die Bürde der Anerkennung · Der Kampf um die Thronfolge · Melancholie mit Wahn, schöne Schwermut
Ich kann es mir wohl denken, daß Leute, die mich nicht kennen, mich für exaltiert halten können.11
Clara Schumann
Das öffentliche Lob, das Sie mir spendeten, wird die Erwartung des Publikums auf meine Leistungen so außerordentlich gespannt haben, daß ich nicht weiß, wie ich denselben einigermaßen gerecht werden kann.12
Johannes Brahms
Erste Annäherungsversuche
Es ist nicht zuverlässig überliefert, ob der 16-jährige Johannes Brahms die Konzerte der 30-jährigen Clara Schumann besuchte, als sie im März 1850 in seiner Heimatstadt Hamburg gastierte. Für ihn war es nicht die erste Gelegenheit, die berühmteste Pianistin Europas – damals gleichbedeutend mit der ganzen Welt – zu erleben. Als sie 1835 und 1837 in der alten Hansestadt auftrat, war er noch zu jung; aber 1840 und 1842 hätte sich bei einer ihrer Tourneen in Norddeutschland durchaus die Gelegenheit geboten. Johannes war den Umgang mit Musikern von Jugend an gewohnt: Er selbst hatte bereits von seinem Vater den ersten Geigenunterricht erhalten, bevor er ab seinem siebten Lebensjahr Klavier spielte. Einer der Größten ihrer Zunft unmittelbar zu begegnen, war für viele angehende Künstler eine gewaltige Inspiration. Johannes stammte wie Clara aus einer Musikerfamilie, allerdings keiner wohlhabenden. Sein Vater war zwar mittlerweile vom Unterhaltungsmusiker an der Alster zum Kontrabassisten im Orchester aufgestiegen, dennoch wären Eintrittskarten wahrscheinlich zu kostspielig gewesen. Schon als Jugendlicher war Johannes zu stolz, seine Verbindungen in Musikerkreisen zu nutzen, um Freikarten zu ergattern – ein Grundsatz, dem er sein Leben lang treu blieb. Den Kompositionen Robert Schumanns, die Clara immer wieder in ihre Programme einschmuggelte, stand er damals äußerst skeptisch gegenüber. Seine sieben Jahre ältere Jugendfreundin Louise Japha, die er beim Klavierüben in der Pianofortefabrik Schröder in der Katharinenstraße kennengelernt hatte, schwärmte ihm von den fantasievollen, poetischen Klavierstücken des in Zwickau geborenen Sachsen vor. Doch der von dem Hamburger Komponisten und Pädagogen Eduard Marxsen geschulte Johannes fand keinen Zugang zu den in Klavierkapriolen flirrenden Papillons und Carnaval. »Bach und Beethoven waren seine obersten Götter«, erinnerte sich Louise Japha, »meine Schumann-Schwärmerei konnte er nicht teilen. Als ich ihm eines Tages entzückt Paradies und Peri und den schönen Anfang des ersten Peri-Gesanges ›Wie glücklich sie wandeln, die seligen Geister‹ zeigte, wies er das kurz ab mit der Bemerkung, es sei unrichtig, mit dem Septimenakkord anzufangen.«13
Als Lehrmeister war Eduard Marxsen für Johannes ebenso bedeutsam wie Friedrich Wieck für seine Tochter Clara. Marxsen bewunderte nicht nur die Klassiker, sondern schätzte zudem die Musik von Franz Schubert außerordentlich. Er besaß einen weiten Horizont und beschäftigte sich auch mit sinfonischen Arbeiten.14 Als Johannes fünf Jahre nach Louise Japha dann 1843 erstmals selbst vor Publikum auftrat, bestand sein Repertoire aus dem Klavierpart in Beethovens Bläserquintett op. 16 und einem der beiden Mozartschen Klavierquartette; hinzu kam als einziges Stück eines zeitgenössischen Künstlers eine Etüde von Henry Herz, einem komponierenden Klaviervirtuosen, dessen Werke auch Clara bis in die 1840er-Jahre in ihrem Repertoire behielt. Für Robert Schumanns Geschmack war Musik dieser Art zu seicht, Clara hingegen sah als Interpretin auch in der leichteren Muse eine Herausforderung, zumal sie selbst gelegentlich Präludien und Fugen, Tänze, Variationen, Piècen und Romanzen komponierte.
Als angehende Pianistin wollte sich zumindest Louise Japha im Frühjahr 1850 das Hamburger Gastspiel Clara Schumanns nicht entgehen lassen. Möglicherweise nutzte sie eine der Soireen im Rahmen des Besuchs, um die namhafte Künstlerin persönlich darauf anzusprechen, ihrer Ausbildung den letzten Schliff zu verleihen. An dem Abend im Hause des Spiritus Rector des Hamburger Musiklebens, Theodor Avé-Lallemant, mag Johannes die Schumanns persönlich erlebt haben. Allerdings blieb in den spärlichen Berichten unerwähnt, ob er mit seinem Vater oder Marxsen dort war. »Er hatte damals keinen großen Kreis musikalischer Freunde«, versicherte Louise Japha, »war meist auf seinen Lehrer angewiesen und wollte mir nicht glauben, wenn ich ihm versicherte, er gehe einer großen Zukunft entgegen.«15 An Brahms gibt es eine späte Erinnerung der damals siebenjährigen Tochter des Hausherrn, Charlotte Nölting, geborene Avé-Lallemant, die einen flüchtigen Moment schildert: »Er stand verlegen an unserem Flügel, jung wie ein Primaner aussehend, mit langem Haar. Mein Vater hatte ihn Schumann vorgestellt.«16 Da die Beteiligten später nie mehr Bezug auf dieses Ereignis nahmen, muss die Begegnung zu flüchtig gewesen sein, um Eindruck zu hinterlassen. Was hätten die Schumanns auch mit einem fast 17-jährigen Eleven inmitten des gesellschaftlichen Trubels anfangen sollen? Zudem sah Johannes jünger aus und war von seinem Status her kaum mehr als ein höfliches Zunicken wert.
Am Samstag, dem 16. März 1850, fand der erste Auftritt der Gäste beim 78. Konzert der Hamburger Philharmonischen Gesellschaft im Apollo-Saal an der Großen Drehbahn statt. Dies war die regelmäßige Auftrittsstätte, bis 1853 der Conventgarten in der Fuhlentwiete gebaut wurde. Clara Schumann galt als Liebling der Hamburger: Sie hatte sich ihren Ruhm in einer mittlerweile 20-jährigen Pianistinnenlaufbahn erworben und auf den Plakaten seit zehn Jahren den Zusatz »geborene Wieck« einfügen lassen, damit jeder wusste, dass man einen gern gesehenen Gast erlebte. Auf den Namen Schumann war sie indes sehr stolz: »Clara Schumann – oh, welch ein Name wundersüß!«, hatte sie einst ihrem Robert geschrieben.17 In dem wie seinerzeit üblich langen, gemischten Programm spielte sie Mendelssohns Variations sérieuses op. 54 und unterstützte ihren Mann als Interpretin seines Klavierkonzerts. Robert Schumann leitete das Orchester und stellte auch die Ouvertüre zu seiner Oper Genoveva vor, die drei Monate später in Claras Geburtsstadt Leipzig uraufgeführt werden sollte. Seine Musik wurde mehr mit Respekt als Zuneigung aufgenommen. Falls Johannes nicht selbst dabei war, wird ihm Louise von dem Abend vorgeschwärmt haben. Sie und seine Familie ermunterten ihn auch, den Schumanns eigene Kompositionen vorzulegen. Im Hotel der namhaften Gäste am Jungfernstieg gab er ein Bündel mit seinen Manuskripten ab, in der Hoffnung, einen Kommentar, eine Rückmeldung, zumindest eine Empfangsbestätigung zu erhalten. Immerhin weilten die Schumanns längere Zeit in Hamburg. Zwei Tage nach dem großen Konzert gab Clara eine Soiree zusammen mit dem Hafner-Quartett, bei der sie das Klavierquintett ihres Mannes sowie seine Variationen für zwei Klaviere vortrug. Ihr Partner war Otto Goldschmidt, der Gatte ihrer Freundin, der Sopranistin Jenny Lind. Der Opernstar erschloss sich erst ganz allmählich den Liedgesang, aber da die gefeierte Sängerin zumeist mehr Konzertbesucher anlockte als Soloauftritte von Clara – vor allem, wenn sie Roberts Werke ansetzte – traten die beiden Künstlerinnen am 21. und 23. März noch gemeinsam auf.
Von den anregenden Erlebnissen war Louise Japha so begeistert, dass für sie endgültig feststand: Sie musste bei Clara Schumann in Düsseldorf ihre pianistische Ausbildung vervollkommnen. Johannes hingegen war entmutigt: Das berühmte Künstlerpaar ließ das Päckchen mit den Jugendwerken eines Unbekannten ungelesen an den Absender zurückgehen.
Gefangen in Zeit und Raum
Die Umwege, die Clara und Johannes zunächst gingen, machten später das intensive Kennenlernen und die lebenslange Freundschaft erst möglich. Jeder hatte für sich ausreichend Erlebnisse gesammelt, um den anderen daran teilhaben zu lassen, und es hatten sich Grundhaltungen herausgebildet, die den gemeinsamen Weg durch das weitere