Die Schneckeninsel. Urs Schaub

Die Schneckeninsel - Urs Schaub


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      Innerhalb von neun Jahren haben sich drei Frauen im No­belinternat für Mädchen in den Bergen ­umgebracht, da ist etwas faul, so viel ist Serge Michel von der Berner Mordkommission, früher Abteilung Leib und Leben, klar. Da dort gerade eine Ferien­vertretung des Kochs gesucht wird, bittet er seinen Freund Simon Tanner, als solche anzuheu­ern und sich um­zusehen.

      Es klappt. Als erstes putzt Tanner die Küche und krempelt den Speiseplan um, zur augenblicklichen Begeis­terung aller. Dann steht schon der nächste Tote ins Haus.

Foto Urs Schaub

      Foto Yvonne Boehler

      Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspielregisseur und war Schauspieldirektor in Darmstadt und Bern. Als Dozent arbeitete er an Theaterhochschulen in Zürich, Berlin und Salzburg. 2003–2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006–2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. Urs Schaub lebt in Basel.

      Urs Schaub

      Die

      Schneckeninsel

      TatortSchweiz

      Limmat Verlag

      Zürich

      Prolog

      Er würde sich nur mit seinem Tod zufriedengeben.

      Aber wo hatte er dieses Gesicht schon einmal gesehen? Ein breiter Schädel mit hohen Wangenknochen, niedriger Stirn und wild wuchernden Augenbrauen. Die Wangen blau schimmernd. Um die Augen und die Nase flechtenartig rote Äderchen. Seine Lippen wie Lefzen eines Bluthundes.

      Er hatte bereits seit dem Betreten des Museums das Gefühl, beobachtet zu werden. Er tat es als Hirngespinst ab und konzentrierte sich auf die Sammlung, die er seit seiner Jugendzeit nicht mehr gesehen hatte. Unglaublich, diese Massen an Knochen von gigantischen Walfischen, von mächtigen Dinosauriern mit Wirbeln so dick wie Bäume bis zu den kleinsten Le­be­wesen mit winzigen zierlichen Skeletten.

      Bei einem Schaukasten mit eingelegten Herzen und Hirnen starrten ihn unvermittelt die stechenden Augen aus einer verwüsteten Gesichtslandschaft an. Im ersten Augenblick dachte er, die Gestalt gehöre zur Ausstellung: ein Frühmensch, ein Neandertaler vielleicht. Aber sie zeigte plötzlich mit einem riesigen Buschmesser auf ihn und öffnete den Mund, als ob er einen Schrei ausstoßen wollte. Aber er blieb stumm. Er blickte sich um, ob jemand hinter ihm gemeint sein könnte, da war niemand. Im selben Moment stürmte der Mann los – und jetzt war es eindeutig: Der Mann meinte ihn. Er drehte sich auf dem Absatz und stürmte los, hoffte auf Personal zu stoßen, aber der riesige Saal leer. Er kurvte, so schnell es das rutschige Parkett zuließ, um einige Schaukästen voller Tierskelette, schlug einige Haken, sprang über die Absperrungen zwischen den Schaukästen und erreichte die geschwungene Treppe an der Längsseite des Saales. Er nahm zwei Tritte aufeinmal und gelangte schwer atmend zu einem Balkon, von dem man einen Überblick über die ganze Sammlung im Saal hatte. Er sah seinen Verfolger, wie er direkt unter ihm in dasselbe Treppenhaus einbog, durch das er eben hochgekommen war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ein blaues Arbeitsgewand trug, genau wie sein Vater. Er raste weiter, nahm die Treppe ins erste Stockwerk. Auch dieser Saal war leer. Keine Besucher – und weit und breit keine Aufsicht.

      Er schwitzte, und sein Herz schlug einen beängstigend rasenden Rhythmus. Waren hier nicht eben noch unzählige Besucher gewesen? Wohin waren die alle verschwunden?

      Auf einer glitschigen Stelle des Parkettbodens rutschte er aus und fiel hin. Seine Hände waren voll zähen Schleims. Angewidert versuchte er sie an seinen Hosen abzuwischen und bemerkte, dass der ganze Boden mit diesem Schleim bedeckt war. Der Ekel packte ihn. Da kam der Mann mit einem gewaltigen Sprung um die Ecke, das Buschmesser hielt er hoch in die Luft. Er warf sich blitzschnell um die Ecke, das Messer kam mit einem üblen Zischen herangeflogen und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Es fraß sich mit einem knirschenden Geräusch tief ins Holz. Er griff nach dem Messer und zog mit aller Kraft, aber er rutschte auf dem glitschigen Boden aus. Er hörte, wie auch sein Verfolger ausrutschte und hart auf den Boden fiel. Das verschaffte ihm erneut einen kleinen Vorsprung. Er kroch durch die Halle, überquerte einige Absperrungen und befand sich kurz darauf im Haupttreppenhaus. Dort versteckte er sich schwer atmend hinter einem frei stehenden Korpus und lauschte nach seinem Angreifer. Der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht. Er zog sich die Jacke aus. Auf einen Schlag roch es so stark nach Lavendel, als hätte ihn jemand mit einer Sprühdose eingenebelt. Er griff in seine Hosentasche. Sie war voller Lavendelblüten. Auch die zweite Tasche war voll. Wie um alles in der Welt kamen die Lavendelblüten in seine Hosentaschen? Er leerte sie und suchte hektisch nach irgendeiner Waffe zu seiner Verteidigung. Er fand eine Schachtel und öffnete sie. Sie war voll mit wunderbar farbig verzierten Schneckenhäusern. Er nahm ein besonders schönes Exemplar in die Hand. Es war überraschend schwer. Plötzlich streckten sich Fühler aus dem Haus, dann erschien der ganze Schneckenkopf. Der Schneckenkopf besaß ein menschliches Antlitz. Vor Schreck ließ er sie in die Schachtel zurückfallen. Daraufhin fingen alle anderen Schneckenhäuser an, sich zu bewegen. Er schloss die Schachtel und warf sie mit aller Kraft in den Saal. Sie krachte irgendwo in einen Schaukasten, der mit ohrenbetäubendem Lärm zu Bruch ging. Oh Gott, was kostet wohl so ein Schaukasten? Und was passierte jetzt mit den Schnecken? Er schlich zum Treppenhaus, schwang sich aufs Holzgeländer und rutschte in einem halsbrecherischen Tempo herun­ter. Auch das Geländer war glitschig. Wo kam plötzlich dieser Schleim her?

      Er erreichte mit wenigen Schritten die Eingangstür. Sie war verschlossen.

      Wieso das denn?

      Jetzt sah er, dass es draußen bereits Nacht war. Panik überfiel ihn. Vom oberen Stockwerk hörte er urtümliche Laute. Er schwang sich hinter den Informationskorpus. Er suchte erneut hektisch nach irgendeiner Art Waffe, fand aber nichts außer einem ziemlich langen Verlängerungskabel. Er lauschte nach oben. Noch war der Feind offenbar weiter weg. Er überquerte leise die Treppe, verknotete das Kabel an einem mächtigen gusseisernen Heizkörper und zog es zurück bis hinter die Säule auf der anderen Seite der Treppe. Er ließ das Kabel schlaff auf der Treppe liegen, kauerte sich hinter die Säule und wartete auf seinen Verfolger. Er wusste, dass er nur einen einzigen Versuch hatte.

      Bald schon hörte er seine schweren Schritte auf der Treppe. Er drückte sich hinter die Säule und hoffte inständig, dass sie ihn ganz verbarg. Die Schritte kamen näher und näher. Und dann kam der Moment: Er schoss in die Höhe und zog wie verrückt am Kabel. Die schwere Gestalt ächzte auf und stürzte, drehte sich um ihre eigene Achse, fiel wie in Zeitlupe, aber unerbittlich – und schlug schwer mit dem Genick auf die unterste Treppenstufe. Es gab ein hässliches Geräusch, als ob trockenes Holz brechen würde. Das lange Messer schepperte über den Marmorboden. Die weit aufgerissenen Augen des Mannes waren gebrochen.

      Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren, griff nach einem schweren Eisenständer, holte gewaltig aus und durchbrach die Scheibe der Eingangstür. Einen Augenblick später schrillte die Alarmglocke. Er rannte wie ein Verrückter – wie er nach Hause gekommen war, war ihm ein Rätsel. Aber er schaffte es, zog sich aus und legte sich sofort ins Bett. Er konnte nur noch eines denken: Jetzt bin ich ein Mörder. Jetzt bin ich ein Mörder. Ich habe einen Menschen umgebracht – auch wenn es Notwehr war. Ich bin ein Mörder – auch wenn es Notwehr war. Ich bin ein Mörder …

      Als er aufwachte, schrillte die Alarmglocke immer noch. Schweißgebadet lag er in seinem Bett. Dann schreckte er plötzlich hoch und griff sich an seine Stirn.

      Das ist die Hausglocke!

      Er rannte ins Bad und holte seinen Morgenmantel.

      Dann fiel ihm ein, dass er seine Jacke im Museum hatte liegen lassen.

      Mein Gott! Das ist die Polizei. Die haben mich anhand der Jacke identifiziert. Ein Kinderspiel!

      Er eilte zur Tür, dabei fiel sein Blick auf die Garderobe, und da – da hing seine Jacke.

      Ein Traum! Es war ein Traum gewesen!

      Die Hausglocke schwieg. Er ging die alte Steintreppe des Maison Blanche hinunter, drehte den mächtigen Schlüssel und riss die schwere Holztür auf.

      Mist!

      Er


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