Die Schneckeninsel. Urs Schaub
Sprache etwas leicht Arrogantes verlieh. Seine Zunge huschte dauernd über seine Lippen, als müsste er sie permanent anfeuchten.
Nach zwei Jahren ohne Urlaub. Es ist eine rechte Schinderei hier, musst du wissen. Zu wenig Leute. Ich habe zwei Kochhilfen. Die sind nur angelernt. Sind beide aus dem Dorf. Und einen Stummen fürs Geschirr und so. Den Rest musst du machen.
Er griff hinter sich nach einem Ordner.
Hier sind die Menüs für den ganzen Monat. Das meiste ist bestellt und liegt bereits im Kühlkeller oder wird nach und nach geliefert. Alles mit der hohen Leitung abgesprochen. Insofern musst du dich nicht groß mit Bestellungen und Finanzen herumschlagen. Da bist du doch sicher froh, oder?
Tanner nickte vage.
Ach ja, übrigens, der Chef, ich meine, Herr de Klerk, ist erst wieder am Dienstag oder Mittwoch da. Er ist auf einem Kongress in Schweden. Er wird durch seine Assistentin vertreten. Hast du sie bereits kennengelernt?
Tanner verneinte.
Bei wichtigen Entscheidungen ist auch seine Mutter dabei, Madame de Klerk.
Er verdrehte die Augen.
Sie will partout Madame de Klerk genannt werden. Und sie benimmt sich auch so. Mit ihr musst du dich gutstellen, sonst hast du verloren. Alles klar?
Tanner nickte wieder.
Da ich jetzt Zimmerstunde habe, schlage ich vor, dass du den Ordner studierst, dich in der Küche umsiehst, sodass du mir später eventuell noch Fragen stellen kannst. Morgen früh wäre es dann zu spät. Wir sehen uns ab vier Uhr hier zum Appell.
Er kicherte, salutierte und schlug die Hacken zusammen.
Abtreten!
Dann ging er aus der Küche.
Tanner setzte sich auf den einzigen Stuhl in der Küche und betrachtete seinen Arbeitsplatz der nächsten vier Wochen. Er wusste jetzt schon, was er morgen früh tun würde – also sobald Keller weg war: Putzen, putzen und nochmals putzen.
Er seufzte. Er war gespannt auf seine sogenannten Kochhilfen.
Schnelle Schritte kamen die Treppen herunter.
Ach, schau an. Unser neuer Koch. Guten Tag, Herr Tanner. Ich bin Teresa Wunder, die Assistentin von Dr. de Klerk. Ich bin auch relativ neu hier, also haben wir mindestens etwas gemeinsam. Herr de Klerk kommt am Mittwoch, vielleicht auch erst am Donnerstag. Für alle möglichen Fragen wenden Sie sich also an mich. Ich wünsche ihnen einen guten Anfang und hoffe auf eine gute Zusammenarbeit.
Tanner drückte ihre Hand und bedankte sich.
Sie war das, was man im Volksmund eine kühle Blonde aus dem hohen Norden nennen würde. Der Händedruck ihrer schmalen Hand war aber angenehm kräftig. Ihre Rede klang ein wenig auswendig gelernt, aber Tanner empfand sie als aufrichtig. Sie hatte diesen schwarzen Anzug mit der obligaten weißen Bluse an wie alle aufstrebenden Assistentinnen.
Wie lange sind Sie denn schon hier, Frau Wunder?
Nennen Sie mich ruhig Teresa.
Ihre blasse Haut überzog sich mit einer leichten Röte.
Ja, das sind jetzt etwa – fünf Wochen, ja genau.
Tanner schaute sie an.
Und? Gefällt ihnen die Arbeit? Und der Ort? Fühlen Sie sich wohl hier?
Sie wich seinen Augen nicht aus, schien es aber plötzlich eilig zu haben.
Ich würde vorschlagen, dass Sie sich erst mal hier umsehen und einarbeiten, denn wir sind sehr auf Sie angewiesen, äh … also, ich meine, was unser leibliches Wohl angeht. Sie verstehen. Dann kann ich ihnen später gerne eine Übersicht über unser Institut geben. Das Abendessen wird am Sonntag um acht Uhr serviert. Unter der Woche eine halbe Stunde früher. Heute also um acht. Die Lehrerschaft werden Sie zum großen Teil erst morgen kennenlernen.
Schon war er wieder allein.
Hui, haben die’s alle eilig.
Tanner schaute sich in aller Ruhe den Herd, die Maschinen, die Werkzeuge an. Vergewisserte sich, wo all die größeren und kleineren Utensilien der Küche versorgt waren. Die Zutaten, die Gewürze usw. Die Vorräte würde er sich heute Abend mit Keller zusammen ansehen. Dann packte er besagten Ordner unter den Arm, er konnte ihn genauso gut in seinem Zimmer studieren. Er beschloss, die Treppe zu nehmen, um die verschiedenen Stockwerke zu sehen. In der Eingangshalle traf er wieder auf Ljuli.
Und? Ist Küche in Ordnung?
Ja, ja. Im großen Ganzen schon. Ich wollte dich fragen, ob du mir am Montag hilfst, sie mal gründlich zu, äh … säubern, putzen. Bis sie glänzt!
Ja, gerne. Der Herr Keller hat sich immer geweigert, dass ich putzen komme. Küche sehr schmutzig.
Tanner legte einen Finger auf seine Lippen. Sie machte es ihm nach und blickte ihn verschwörerisch an.
Bis später. Ich geh aufs Zimmer. Ich muss diesen ganzen Ordner durcharbeiten.
Sie verdrehte die Augen und lachte.
Äh, entschuldige, Ljuli, hättest du Zeit, mir noch das Haus zu zeigen?
Ja, gerne.
Also. Auf der linken Seite sind Büros. Besser anschauen mit Frau Wunder. Auf andere Seite und zum See sind Speisesäle.
Sie traten durch eine zweiflügelige Glastür, flankiert von zwei weißen Säulen, in die hohen und sehr luftig wirkenden Räume mit großen Tischen, an denen jeweils zehn Gäste sitzen konnten. An den Wänden alte Ölgemälde mit Landschafts- und Tiermotiven. In einer Ecke, nahe den Fenstern zum See, stand ein mächtiger weißer Flügel. Von den Decken hingen kostbare Jugendstil-Kronleuchter.
Hier essen Mädchen und vorne, äh … Saal für Lehrer und andere Angestellte. Im Sommer wir können essen auf Terrasse. Sehr große Terrasse. Bedeckt.
Gedeckt, sagt man. Oder überdeckt. Nicht bedeckt.
Danke. Sag mir bitte Fehler. Niemand tut es. Das ist schade.
Tanner nickte.
Sie gingen in den ersten Stock.
Im ersten und zweiten Stock sind Schulzimmer. Und Aufenthalt für Mädchen.
Ljuli öffnete eine Tür nach der anderen. Es waren alles sehr luftige und helle Räume mit wenig Tischen und alles sehr gut eingerichtet. Anscheinend wurde in sehr kleinen Klassen unterrichtet. In einem so teuren Internat war auch nichts Anderes zu erwarten gewesen.
Als sie durch alle Zimmer waren, zeigte Ljuli nach oben.
Im dritten Stock wohnen Mädchen mit Einzelzimmern und auch Herr und Frau de Klerk wohnen dort.
Aha. Wo wohnen denn die anderen Mädchen?
Es gibt noch zwei Häuser. Da wohnen Mädchen und Erzieherinnen.
Gut. Danke, Ljuli, für die Führung. Das war sehr nett. Ich geh jetzt in mein Zimmer. Arbeiten.
Er hob demonstrativ den Ordner in die Luft.
Ljuli lachte.
Viele Vergnügungen.
Als Tanner im dritten Stock ankam, hörte er, dass jemand mit einem schweren Hustenanfall zu kämpfen hatte. Ob das die alte Madame de Klerk war? Wahrscheinlich. Tanner lauschte und ging auf die Tür zu, hinter der sich das Hustendrama abspielte. Das Geräusch veränderte sich immer mehr in ein qualvolles Keuchen, als ob die betreffende Person kurz vorm Ersticken wäre. Kurz entschlossen klopfte er energisch an die Tür.
Brauchen Sie Hilfe, Madame? Soll ich Hilfe holen?
Er legte sein Ohr an die Tür. Jetzt war es eindeutig, es klang, als stünde jemand kurz vorm Ersticken. Er riss die Tür auf. Es war ein großes, salonartiges Zimmer, vollgestopft mit altmodischen Möbeln. In einer breiten Nische stand ein Himmelbett mit gedrechselten Säulen. Die Person im Bett krümmte sich und schien ihn nicht zu bemerken. In der Luft lag ein