Die Schneckeninsel. Urs Schaub

Die Schneckeninsel - Urs Schaub


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und machte sie noch schöner und sehr weich.

      Sie bemerkte seinen Blick. Und da war sie wieder – diese herrische Barschheit.

      Schauen Sie nicht mich an! Schauen Sie die Natur an.

      Sie schnaubte ungehalten, beruhigte sich aber gleich wieder.

      Ist das nicht schön? Das ist die reine Poesie. Erhaben. Ei­gentlich ist der Mond ja eine Sie. La Luna. Aber in unseren Breitengraden ist er in Gottesnamen halt ein Mann. Und jetzt – schauen Sie – jetzt legt sich die Goldstraße aufs Wasser. ­Be­trachten Sie die zitternden, diese sich fortlaufend verändernden Linien. Das ist göttliche Mathematik, finden sie nicht auch?

      Tanner war überrascht. Er getraute sich aber nicht, sie erneut anzusehen.

      Göttliche Mathematik?

      Ja, betrachten Sie jetzt zum Beispiel auch die immer schärfer hervortretende Küstenlinie des Sees. Diese wellenförmig verlaufenden Linien. Das ist wie Kurven in der Mathematik. Wie die Kurven der Aktienbörse, Zufallskurven.

      Sind Sie Mathematikerin?

      Sie lachte.

      Ich war Mathematiklehrerin, lange ist es her. Und heute beschäftige ich mich in den Morgenstunden mit Börsengeschäften, so ab vier Uhr, verstehen Sie. Wenn alle anderen noch schlafen, außer der weltweiten Börse – die ist quasi rund um die Uhr wach.

      Und? Gewinnen Sie?

      Sie drehte sich zu ihm.

      Ja. Stellen Sie sich vor. Ich gewinne – und wie. Wahrscheinlich, weil ich nichts mehr zu verlieren habe. Wovor sollte ich Angst haben?

      Sie lachte ihr raues Lachen.

      Und wenn ich gewonnen habe, schlafe ich selig wieder ein.

      Und am Nachmittag? Was machen Sie da? Spielen Sie weiter?

      Nein.

      Sie stand mit einem Ruck auf.

      Geben Sie mir ihre Hand.

      Tanner stand auf und reichte ihr die Hand.

      Sie sollen mir nicht Auf Wiedersehen sagen, sie sollen mich stützen, ich will ins Bett.

      Tanner stützte sie. Sie hatte angenehme Hände. Zart geradezu, wenn man an ihre raue Stimme dachte.

      Sie ging sehr bestimmt und fast leichtfüßig. Tanner fragte sich, warum sie seine Stütze brauchte.

      Ich kriege manchmal Schwindelanfälle, die kommen leider ohne Ankündigung.

      Konnte sie Gedanken lesen?

      Sie waren jetzt bei ihrem großen Himmelbett angekommen.

      Nehmen Sie meinen Morgenmantel.

      Das war keine Bitte, das war ein Befehl. Er trat hinter sie und griff nach dem schweren Mantel an seinem umgelegten, weichen Kragen. Sie schlüpfte aus den Ärmeln. Sie stand wortlos da, als lauschte sie auf etwas. Dann streckte sie ihre schlanken Arme nach ihren Haaren aus.

      Da Sie mich heute schon mal ohne meine Haare gesehen haben, spielt es jetzt auch keine Rolle mehr. Ich gebe Ihnen die Nadeln in die Hand.

      Sie zupfte einige Nadeln aus dem Haar und nahm ihre voluminöse Haarpracht ab. Ihre blonden Haare waren also tatsächlich eine Perücke. Sie legte sie behutsam auf den Stuhl neben ihrem Bett. Sie hatte ein sehr zartes Nachtgewand an. Der Mond schien jetzt in das Zimmer, und so schimmerte sehr zart die Silhouette ihres Körpers durch den leichten Stoff. Der Stoff war kunstvoll und fein mit zarten Rosen bestickt. Es sah fast hochzeitlich aus. Ihr Körper wirkte wie Elfenbein. Er konnte nicht umhin, sie, die sich dem Fremden, so selbstverständlich präsentierte, anzustarren. Oder war ihr vielleicht die Wirkung des Mondlichts nicht klar?

      Sie lachte ein raues Lachen.

      Sie müssen sich nicht abwenden. Was gibt es für eine Frau Schöneres, Aufregenderes als der Blick eines Fremden? Dieser Blick wird durch kein Wissen, keine irgendwie gelagerte Vorgeschichte getrübt. Es gibt keine emotionale Verwicklung. Kei­ne Belastung. Es gibt nur das Staunen über die Schönheit ihres Körpers. Es ist quasi ein unschuldiger Blick, der sich einfach am Sehen erfreut. Und dann zum Begehren wird.

      Sie gab ihm wieder ihre Hand.

      Helfen Sie mir jetzt ins Bett.

      Er legte sie ins Bett.

      Meine schönsten sexuellen Erlebnisse waren die flüchtigen, mit Unbekannten. Im Zug, auf einem Schiff, im Gang eines Hotels. Sie verstehen. Kaum hat man eine sogenannte Beziehung, fängt das Gemurkse an. Und am Schluss bringt man sich gegenseitig um.

      Sie lachte ausgiebig und streckte und dehnte sich.

      Kennen Sie Pasolini? Den italienischen Filmer?

      Tanner nickte.

      Ich war immer begeistert von seinen Filmen. Von seinem Plädoyer für eine Art der kindlichen, unschuldigen Sexualität, die natürlich eine Illusion ist.

      Sie lachte ihr raues Lachen und richtete sich auf.

      Zünden Sie mir eine Zigarette an!

      Da war er wieder, der Befehlston.

      Und Ihr Husten?

      Kaum hatte er das gesagt, bereute er es auch schon.

      Sie winkte ab. Sie zeigte in Richtung Tisch.

      Die Zigaretten liegen dort drüben.

      Er ging zum Tisch, fand Zigaretten und Feuerzeug. Es war die stärkste Marke, die man rauchen konnte. Er steckte sich eine zwischen die Lippen und zündete sie an. Er gab sie ihr in den Mund. Sie nahm einen tiefen Zug, legte ihren Kopf wieder zurück aufs Kopfkissen. Sie blies den Rauch gekonnt in Ringen gegen die Decke.

      Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen … ha, ha …

      Rilke.

      Sie schaute ihn überrascht an.

      Ein Koch, der Rilke kennt.

      Sie richtete sich auf und zeigte mit der Zigarette auf ihn.

      Sie sind nicht das, was Sie vorgeben zu sein. Ich habe Sie durchschaut.

      Wer ist schon das, was er vorgibt zu sein.

      Ja, ja, bla, bla, bla …

      Sie schloss für einen Moment ihre Augen. Draußen hörte man ein Käuzchen rufen. Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. Ihre Brust hob und senkte sich.

      Ich habe mein Leben lang geraucht. Die Leute – nicht nur die Jungen – denken immer, die Sexualität hört im Alter auf zu existieren. Sie denken, die schläft einfach ein oder nimmt ab wie das Gehör oder das Sehvermögen.

      Sie gähnte.

      Machen Sie die Zigarette für mich aus. Die hat mir jetzt geschmeckt wie lange keine mehr. Und daran sind Sie schuld. Mich zum Rauchen zu verleiten.

      Er nahm die Zigarette und ging zum Aschenbecher.

      Dort auf dem Tisch liegt ein längliches, ein weißes Lederetui. Sehen Sie es?

      Er nickte.

      Bringen Sie es mir bitte.

      Er brachte es ihr. Sie öffnete den seitlichen Reißverschluss. Dann hielt sie inne und schaute ihn an.

      Sie wissen, was das ist.

      Ich ahne es.

      Gut. Sie können jetzt gehen. Gute Nacht.

      Das Letzte, woran Tanner dachte, bevor ihn der Schlaf übermannte, war eine Sequenz aus einer chinesischen Legende.

      Ich zeige dir eine Falle, und du wirst hineinspringen.

      2. Tag — Montagmorgen

      Bereits um sechs Uhr stand Tanner wieder in der Küche. Nicht wegen der Vorbereitung des Frühstücks, das zwischen sieben und Viertel vor acht stattfinden musste, denn der Unterricht beginnt für die


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