Die Schneckeninsel. Urs Schaub

Die Schneckeninsel - Urs Schaub


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schwiegen und betrachteten den dunkel schimmernden See.

      Nach einer Weile brach Tanner das Schweigen.

      Was ist der Direktor de Klerk für ein Mensch? Ist er nett?

      Ja, er ist sehr nett. Aber sehr von Mutter, äh …

      Abhängig?

      Sie lächelte, fast entschuldigend.

      Ja. Sehr abhängig. Aber sehr nett.

      Auf was für einem Kongress ist er eigentlich in Schweden? Weiß man das im Haus?

      Ja, sicher. Das wissen alle.

      Und?

      Es treffen sich dort alle Schnecken, hm …

      Schnecken? Meinst du Schneckenexperten oder so was?

      Ja, dort ist Treffen alle Schneckenexperten aus Welt.

      De Klerk ist Schneckenexperte?

      Tanner schüttelte ungläubig den Kopf.

      Schnecken! Ist das zu glauben! Er ist doch Internatsleiter?

      Ljuli lächelte auch und flüsterte ihm ins Ohr.

      Madame leitet Internat. Er ist nur, äh … wie sagt man: Schild?

      Aushängeschild. Du meinst, er ist das Aushängeschild. Gut. Ich verstehe.

      Ljuli erhob sich.

      Ich muss jetzt ins Bett. Morgen sehr früh aufstehen. Schlaf gut, Tanner.

      Schlaf gut, Ljuli.

      Tanner blieb noch eine Weile sitzen. Er hatte das Gefühl, dass der Himmel sich immer mehr verdunkelte.

      Wo blieb denn der Mond heute?

      Er schloss die Augen. Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch.

      Tanner erschrak und drehte sich um.

      Auf den Mond warten Sie heute vergebens.

      Es war Madame, die sich ihm lautlos genähert hatte.

      Heute wird er nicht zu sehen sein. Es braut sich eine dicke Wetterfront auf. Morgen wird es regnen. Sehen Sie. Schön, dass Sie auf mich gewartet haben. Kommen Sie mit, wir gehen zum alten Fischerhaus.

      Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie voran.

      Auf sie gewartet? Er wusste nichts davon, aber vielleicht hatte sie ja trotzdem recht.

      Er folgte ihr. Er hatte das Gefühl, dass das Geheimnis, das er zu lösen hatte, ohne sie nicht zu lösen war.

      Unten am Ufer war eine dreiseitig geschlossene Hütte. Die beiden vorderen Stützen standen im Wasser. Zum Wasser hin war die Hütte offen. Es gab eine breite Bank und einen Tisch.

      Madame hatte einen Mantel an, den sie vorne mit einer Hand lose zusammenhielt. Sie setzte sich auf die Bank.

      Setzen Sie sich neben mich. Wenn es Ihnen möglich wäre, mich zu halten, wäre ich Ihnen sehr verbunden.

      Madame roch nach Lavendel und schien federleicht.

      Die Küchenmannschaft ist begeistert von ihnen. Und das Essen ist auch gut.

      Es war kein Lob. Es war nur eine trockene Feststellung.

      Sie lehnte sich noch mehr an ihn. Er spürte die Rundung ihrer Brust. Die Zartheit ihrer Haut war erstaunlich.

      Heute ist mir nicht ums Sprechen. Ich möchte einfach nur schweigen und meine Augen schließen.

      Auch gut. Tanner war froh. Er hätte sie zwar gerne gefragt, was es mit dieser kleinen Insel auf sich hatte, die da draußen lag und die ihn an Böcklins Toteninsel erinnerte, wenn auch eine liebliche Variante davon, ohne schroffe Felsen und Gebäudeteile wie auf dem Gemälde. Heute Nachmittag hat er sie von seinem Zimmer aus bewundert. Die untergehende Sonne hatte die schon farbig werdenden Blätter der Bäume durchleuchtet, und die Insel sah aus, als ob sie Teil eines surrealen Werkes von Max Ernst wäre. Geheimnis, Ewigkeit und Schönheit.

      Nach einer Weile musste Madame gähnen. Sie streckte und rekelte sich ausgiebig, wie die Katzen es gerne tun, und lehnte sich erneut an ihn.

      Tanner fühlte sich zunehmend matt und wehrlos. Er hatte immer mehr das Gefühl, als ob er allmählich aus sich heraustreten würde und sich von außen beobachten könnte. Wie ein Wissenschaftler, der eine ihm unverständliche Spezies unter Laborbedingungen Experimenten unterzog. Nur dass die Spezies, die er beobachtete, er selbst war. Und dass sich das Wesen selbständig gemacht hatte, das doch eigentlich er war, aber ihm nicht mehr gehorchte, sondern einem anderen Willen, dessen Identität er nicht lokalisieren konnte. War das seine zweite Natur? Oder war sie das, die ihm ihren Willen durch geheimnisvolle Ströme aufzwang? Durch seine neue Rolle, seine neue Identität, die er spielte, war es ihm, als ob er sich langsam in zwei Wesen aufspaltete.

      Ihn schauderte. Trotzdem war er neugierig, wie es weiter gehen würde.

      Ist Ihnen kalt?

      Nein. Es ist alles gut.

      Lange saßen sie so und mit der Zeit verwoben sich ihre Atemzüge zu einem. Er spürte die Wärme ihres Körpers. Sie war wirklich ein Rätsel. Er hörte wieder die Stimme von dem Mädchen mit den Stirnfransen. Wissen Sie, warum Madame so schön ist? Sie schmiert sich mit Schleim ein.

      Was für Schleim? Und doch, warum war ihr Körper dann so jung? Das war ganz und gar unnormal, falls sie wirklich schon so alt war, wie behauptet wurde. Das konnte alles gar nicht sein.

      Madame regte sich und erlöste Tanner von weiteren Grübeleien.

      So! Wir stehen jetzt auf. Begleiten Sie mich bitte nach oben.

      Tanners Kopf war glühend heiß. Er bemerkte es erst jetzt. Zum Glück hatte sie nichts davon gemerkt. Er stand auf und bot ihr den Arm an.

      Sie raffte den Mantel zusammen und sie stiegen langsam, geradezu majestätisch den Garten hinauf. In ihrem dunklen Zimmer angekommen, verlangte sie wie gestern eine Zigarette. Er zündete sie an und reichte sie ihr. Sie rauchte schweigend. Er wartete wortlos. Sie gab sie ihm. Er drückte die Zigarette aus.

      Reichen Sie mir jetzt dieses längliche … Sie wissen schon.

      Er reichte es ihr stumm und verließ das Zimmer.

      Er ging in sein winziges Zimmer, zog sich aus und warf einen letzten prüfenden Blick aus dem Fenster. Der Himmel war tiefschwarz, als hätte es noch nie Sterne oder einen Mond gegeben. Dort, wo sonst Wasser lag, befand sich nun ein gutgemachtes Nichts. Auch die Insel existierte nicht mehr.

      Tanner legte sich ins Bett und fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

      3. Tag — Dienstagmorgen

      Die Nacht hatte die Welt am türkisfarbenen See von Grund auf verändert. Der Regen prasselte eine große, rhythmische Symphonie auf das Dach des Weißen Schlosses. Riesige dunkelgraue Wolken hingen bauchig wie eine Herde gestrandeter Walfische über dem See. Sie sahen nicht so aus, als ob sie daran dachten, jemals wieder zu verschwinden. Die kleine In­sel war zwar wieder aus der Dunkelheit aufgetaucht, aber auf ihrer nächtlichen Reise jedweder Farbe beraubt worden. Dafür waren die Berge, die sonst so mächtig um den See herumstanden, spurlos verschwunden, wie wegradiert.

      Tanner war seit fünf Uhr in der Küche zugange. Er hatte bereits den großen Kochherd und all die kleineren Maschinen einer gründlichen Reinigung unterzogen, als die Frühstücksmannschaft auftauchte. Er frühstückte mit ihnen und half bei den Vorbereitungen für die Speisesäle, obwohl es nicht zu seinen Aufgaben gehörte. So konnten Annerös und Lydia früher Schluss machen und versprachen, dafür eher zu kommen, um Tanner bei der arabischen Vorspeise- und Falafeltafel zu un­ter­stützen, die sehr viel Handarbeit erforderte.

      Nach dem Frühstück leerte sich das Haus. Die Mädchen machten mit einem Teil der Lehrerschaft einen Ausflug in die Landeshauptstadt. Ljuli kam nun auch in die Küche und half Tanner. Bis gegen Mittag war die Küche blitzblank und von Grund auf gereinigt.


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