Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg
den betroffenen Personen der Zeitgeschichte führt. Ausserdem müsse der Historiker, also er z.B., «untendenziös» sein und arbeiten. Bonjour: «Der Historiker kommt – unvoreingenommen – aufgrund der Fakten zu einer Wertung. Meienberg hat eine – vorgefasste – Meinung und unterlegt sie mit Interviews und solchen Fakten, die seine These stützen. Das nennt man Tendenz.» Andrerseits müsse es «einem jungen Filmautor durchaus erlaubt sein, eine Tendenz zu haben, eine selbständige, von der offiziellen Meinung unabhängige, kritische Auffassung der Zeitgeschichte zu vertreten. Ein tendenziöser Film braucht keineswegs ein schlechter Film zu sein.» (Film von R. Dindo und N. Meienberg über den Landesverräter Ernst S.) also noch ein liberales Bürgertum, oder wenigstens liberale Bürger. Die Erklärungen von Edgar Bonjour gegenüber der LNN bilden einen hübschen Kontrast zu den Verunglimpfungen, Unterstellungen und Anschwärzungen, die man im Zusammenhang mit Buch und Film über den Landesverräter Ernst S. seit zwei Jahren aus dem konservativ-verstockten Teil des Bürgertums schallen hört.
Man durfte von dorther wirklich viel Schrilles vernehmen: Professoren der Universität Bern beklagen sich beim Oberbürgermeister der Stadt Mannheim über die Auszeichnung, welche «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» am Festival von Mannheim gekriegt hatte; es handle sich dabei, so schrieben die 18 Professoren, von denen 17 den Film gar nicht gesehen hatten, um «neomarxistische Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg». Und in der NZZ unterstellt uns am 7.7.77 ein gewisser Georg Kreis, wir hätten die historische Auseinandersetzung mit «unlauteren Mitteln» geführt (jeder Kaufmann, dem angelastet wird, er führe den Konkurrenzkampf mit «unlauteren Mitteln», würde notabene sofort einen Prozess anstrengen); ausserdem hätten wir unsere Interviewpartner «manipuliert» (eine Frechheit: alle von uns befragten Personen können das Gegenteil bestätigen) und stünden wir insgesamt unter «neolinkem Faschismusverdacht» und würden Elemente einer «totalitären Ideologie» verbreiten.
Der Kontrast zwischen dem aufgeklärten und dem verunklärten Flügel des Bürgertums ist enorm: Hier der suchende, offene Edgar Bonjour, der trotz (oder wegen?) seines hohen Alters immer noch forscht und weiterdenkt, mit einer gewissen Altersradikalität und ohne Rücksichten auf eine Karriere, die hinter ihm liegt, dort die sauertöpfisch-eifernden Ideologen der blockierten Bürgerlichkeit, heftige Streber, die trotz ihrer Jugend nicht mehr suchen müssen, sondern schon alles gefunden haben. Hier der Forscher, dort die Forschen. Hier die Gewissheit von Edgar Bonjour, dass die Schweiz eine unbewältigte Vergangenheit hat; dort die Behauptung, dass Vergangenheitsbewältigung nur ein Vorwand für Agitation sei.
Aber «dort» gibt es betreffs Vergangenheit und ihrer Bewältigung so viele Verrenkungen, Verstockungen und Verstopfungen, dass ein spezieller Artikel diesen Erscheinungen gewidmet werden muss. Hier nur ein paar Gedanken zur Geschichts-Konzeption von Edgar Bonjour. Das Schöne bei Bonjour liegt nämlich darin, dass man ihm widersprechen kann, ohne dass er beleidigt ist. Man kann debattieren mit ihm. Ein Liberaler, von denen die meisten heute ausgestorben sind.
Bonjour schreibt Geschichte aufgrund von schriftlichen Quellen, weil er die Geschichte der Aussenpolitik schreibt, und die kann man natürlich in klassischer Weise aufarbeiten: mit Dokumenten. Bonjour ist skeptisch gegenüber mündlichen Quellen: «Ein von mir dreimal – zum gleichen, wichtigen Gegenstand – befragter Staatsmann beispielsweise hat mir diesen Sachverhalt in drei verschiedenen Versionen geschildert.» Es ist normal, dass «Staatsmänner» ihre mündlichen Erklärungen taktisch dosieren. Ein Pilet-Golaz zum Beispiel, der die Angleichung der Schweiz ans Dritte Reich aktiv betrieb, hätte je nach politischen Umständen und Gesprächspartnern verschiedene Antworten gegeben. Nach dem Sieg der Alliierten über Hitler hatte er alles Interesse, seine Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland zu vertuschen. Wäre aber Hitler siegreich geblieben, hätte Pilet-Golaz seine Pionier-Rolle triumphierend hervorgehoben, und die dankbare Heimat hätte ihm Denkmäler errichtet, und nicht dem General Guisan das nette Reiterstandbild.
Mit schriftlichen Quellen hingegen kann nicht gemogelt werden, da steht auch nach 35 Jahren noch schwarz auf weiss, wenn auch leicht vergilbt, dass Pilet-Golaz zum Beispiel den deutschen Gesandten um Nachsicht gegenüber diesen «Bergbewohnern» bittet, welche die neuen Verhältnisse noch nicht ganz kapiert hätten, während die Regierung doch schon alles vorkehre, um die Schweiz dem «Neuen Europa» einzugliedern. Was man schwarz auf weiss besitzt, kann man getrost nach Hause tragen – aber man besitzt halt nicht mehr alles.
Bonjour erwähnt Akten, die frühere Bundesräte «kofferweise» mit nach Hause genommen haben. Und laut NZZ wurden zum Beispiel sämtliche Akten des militärischen Nachrichtendienstes nach dem Krieg im Gaswerk Fribourg verbrannt. Und Jürg Wille, zur Zeit Hausherr im Willeschen Familiengut Marienfeld, antwortete mir 1974 auf die Frage, ob nicht vielleicht doch Dokumente, die seinen Vater, den Oberstkorpskommandanten Ulrich Wille, belasten könnten, aus dem Familienarchiv verschwunden seien: «Im Prinzip nicht, aber es wäre möglich, mit allem Vorbehalt möchte ich das sagen, dass die zweite Frau meines Vaters, die enorm reinlich war und immer viel geputzt hat, einiges zufällig vernichtete» (Jürg Willes Äusserungen wurden vom Schweizer Fernsehen ausgestrahlt).
Die Nachfahren umstrittener Persönlichkeiten sind bekanntlich immer sehr putzfreudig, oder dann schliessen sie die Nachlässe ein und lassen nur solche Historiker darin «forschen», die ihre Vorfahren in einem lieben, familiären Licht beschreiben. So hat die Familie Wille zum Beispiel einem Herrn Röthlisberger Zutritt zu General Ulrich Willes Korrespondenzen mit seiner Frau (eine der äusseren Form nach private, dem Inhalt nach hochpolitische Korrespondenz) gewährt, und Herr Röthlisberger hat dann auch wirklich allerliebste Sachen über das echt demokratische Wesen des bekanntlich höchst selbstherrlichen Generals geschrieben.
Die Familie Weizsäcker (pardon, von Weizsäcker), das heisst die Nachfahren des ehemaligen Nazigesandten in der Schweiz (er hat auch nach seiner Beförderung zum Staatssekretär die Befehle Ribbentrops treu und bieder ausgeführt), dessen Sohn mit einer Tochter des Oberstkorpskommandanten Wille verheiratet wurde, hat die sogenannten «Weizsäcker Papers» einem kanadischen Historiker exklusiv überlassen, welcher den Papa weissgewaschen und bewiesen hat, dass der kultivierte Herr in seines Herzens Grunde nie ein Nazi gewesen war. Wie hätte er auch können, der Aristokrat!
Manche von diesen privaten Nachlässen sind übrigens nicht so ganz privat: Es befinden sich meist auch Staatspapiere darin, die bei der Pensionierung «kofferweise» mitgenommen wurden. Es fragt sich also, ob man «keiner Familie vorschreiben kann, was damit zu geschehen hat» (Bonjour). Vielleicht könnte mal der Herr Bundesarchivar Gauye, sozusagen als eidgenössischer Kommissar, in diesen Archiven spazierengehn und – sofern noch etwas zu finden ist – konfiszieren beziehungsweise rückverstaatlichen, was dem Staat gehört: bei Sprechers, Wetters (Bundespräsident 1941), Pilet-Golaz' etc. Denn bei uns ist die Geschichte mächtiger Familien immer auch Geschichte des Staates, und umgekehrt sind die Grundlagen des öffentlichen Bewusstseins, nämlich wichtige Archivalien, auf weite Strecken privatisiert.
Eine solche Verstaatlichung angeblich privater Dokumente böte den unschätzbaren Vorteil, dass nicht nur bürgerliche Historiker, die sich fast untertänig ins Vertrauen der herrschenden Familien einschmeicheln, Zugang zu wesentlichen Dokumenten haben. Hingegen bessert sich die lamentable Quellenlage auch dann nicht, wenn «darauf hingewirkt wird, dass solche Nachlässe möglichst unversehrt als private Deposita in öffentliche Archive gelangen» (Bonjour) und dabei die betreffende Familie immer noch selbst entscheiden kann, wer die Dokumente sehen darf: Auf diese Weise entsteht zum Beispiel die burleske Situation, dass die Familien von Wattenwyl und Egli (Abkömmlinge der in den sogenannten «Oberstenhandel» verwickelten Militärs) noch ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen die Archive sperren können. Der Historiker Schoch, Spezialist auf diesem Gebiet, weiss davon ein Liedlein zu singen, oder zwei.
Es leuchtet also nicht ganz ein, dass, wie Bonjour sagt, «vieles von dem, was so verborgen werden sollte, mit ein bisschen Spürsinn rekonstruiert und anderswo aufgetrieben beziehungsweise erfahren werden kann» (Bonjour). Wie denn? Durch Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung? (Einbruch in private Archive). Durch Rekonstruktion der Aschenteilchen der verbrannten Dokumente? Oder indem man die «Fähigkeit des Historikers zu warten» kultiviert (Bonjour)? Die «Fähigkeit zu warten» kann auch eine «Unfähigkeit zu trauern» verdecken und kann die Bewältigung der Vergangenheit auf den Sanktnimmerleinstag verschieben.
Nun