Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg

Reportagen 1+2 - Niklaus Meienberg


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manchen Historikern als Philosoph und deshalb als Unhistoriker. Man kann ihn nicht richtig in die bestehenden Schubladen versorgen, diesen Herrn Professor, der zwar anspruchsvolle und eindringliche Bücher schreibt und mit fünfundvierzig Jahren auf der Spitze der akademischen (und damit gesellschaftlichen) Pyramide angelangt ist, gibt er doch seit 1970 Vorlesungen am «Collège de France», wo einige der besten Köpfe aus ganz Frankreich und aus allen Fächern zentralisiert sind (Lévi-Strauss, Jacques Berque, Le Roy Ladurie usw.) – und der trotzdem auf die Strasse geht, agitiert, Flugblätter verteilt, von der Polizei abgeführt wird, am Rande oder jenseits der bürgerlichen Legalität funktioniert, der den Justizminister Pleven öffentlich einen Lügner genannt hat, weil er die Zustände in den Gefängnissen verschleierte, dieser Foucault, der höhnisch und wütend auf seinen Staatspräsidenten losging: Pompidou habe eine «guillotine électorale», eine Wahlguillotine, betätigt, als er Buffet und Bontemps* * Buffet und Bontemps wurden nach der Gefängnisrevolte und dem Geiselmord von Clairvaux zum Tode verurteilt. Präsident Pompidou lehnte die Begnadigung ab. Dazu das Buch von Buffets Anwalt Thierry Lévy: «L'animal judiciaire». aufs Schafott schickte, er habe sich Wählerstimmen sichern wollen, indem er den Blutdurst der aufgeputschten Kleinbürger stillte. (Wer kann sich einen solchen Professor bei uns vorstellen?)

      Dabei wird man, vor allem seit dem Erscheinen von «Surveiller et punir», aber auch schon seit «Histoire de la folie» und «Pierre Rivière» ohne Übertreibung sagen dürfen: Das Gefängnissystem in den industrialisierten Gesellschaften, die Mechanismen der subtilen oder grobschlächtigen Dressur des Menschen begreift man so wenig, wenn man Foucault nicht liest, wie man den Klassenkampf kaum versteht, wenn man Marx nicht studiert, oder wie man vom Unterbewusstsein keine rechte Ahnung hat, wenn man Freud ignoriert. Es gibt solche Bücher, um die man gar nicht herumkommt, Brenngläser, welche die Strahlen einer Epoche bündeln und im morschen Gebälk der Humanwissenschaften (wie sagt man «sciences humaines» auf deutsch?) zündeln. Jeder Filmer, der Gefängnisse filmt, jeder Journalist, Künstler, Gefangene, Politiker, der mit Käfigen und verwandten Institutionen und mit der Käfighaltung von Menschen zu tun hat und die Zerstörung aller Käfige und käfigähnlichen Einrichtungen wünscht, wird sich im Werkzeugkasten von Michel Foucault seine Instrumente holen müssen.

      Das ist jetzt ohne weiteres möglich, denn sein letztes Buch ist äusserst leserlich geraten, nicht wie das neunmalkluge «Les mots et les choses» oder das hochgestochene «Naissance de la clinique», welche (für mich) in einem undurchdringlichen Stil geschrieben und ohne einen Diktionär des Strukturalismus nicht zu entziffern waren. Damit ist nicht gesagt, dass diese hermetischen Bücher keinen Sinn abgäben, doch waren sie so grausam hochkonzentriert, dass nur noch die Eingeweihten drauskamen. Übrigens will Foucault sich heute nicht mehr «Strukturalist» nennen lassen, er hat etwas gegen Etiketten. Wie Sartre, der auch kein Existentialist mehr sein wollte, als dieser Begriff sich abgewetzt hatte.

      «Surveiller et punir» beginnt mit Bildern. Zwanzig Bildtafeln aus ganz verschiedenen Bereichen, manches scheint weit hergeholt. Es werden gezeigt: eine Anleitung für militärische Handgriffe aus dem «klassischen Zeitalter», anno 1666. Grundrisse einer Kaserne, 1719. Anleitungen für die korrekte Hand- und Körperhaltung beim Schreiben, 1760. Grundrisse von Spitälern. Anleitung für die korrekte Körperhaltung in den Schulen, 1818. Grundriss der Menagerie von Versailles. Zahlreiche Grundrisse, Aufrisse, Ansichten, Flugaufnahmen von Gefängnissen (seltsam verblüffende Ähnlichkeit zwischen der Struktur einer Menagerie und der Gefängnisstruktur!). Abbildung eines Erziehungsheims, etwa 1840, wo die Zöglinge rechts sich eben in Reih und Glied aufgestellt haben, um auf ein Zeichen des Erziehers hin sich militärisch-sträflingsmässig-spitalhaft-schulisch-fabrikartig, auf eine genau regulierte, normierte, kodifizierte Weise, in die Hängematten zu schwingen, während die Zöglinge links aussen schon alle auf Befehl schlafen.

      Damit sind wir mittendrin im Foucaultschen Generalthema, in der «grossen Einschliessung», «le grand renfermement». Die Geburt des Gefängniswesens aus dem Geist der Industrie hatte Foucault schon in seiner «Geschichte des Wahnsinns» trefflich-unübertrefflich analysiert, und in «Surveiller et punir» bohrt er weiter im gleichen Loch. Gefängnisse und gefängnishafte Einrichtungen werden von ihm als Resultat und zugleich als Bedingung der Frühindustrialisierung beschrieben. Während im Mittelalter die Bettler, Kranken, Vagabunden und Wahnsinnigen frei in der Gesellschaft zirkulierten, werden diese nichtproduktiven Elemente Ende 16./Anfang 17. Jahrhundert, bei Beginn des «klassischen Zeitalters», alle zusammen rübis und stübis eingeschlossen in Häusern, welche man je nach der Gegend «hôpital général» (z.B. die «Salpêtrière» in Paris), «Zuchthaus» oder «working house» nannte.

      Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstehen spezialisierte Einrichtungen; im Namen der angewandten Aufklärung trennt man jetzt die Wahnsinnigen, die Bettler, Kriminellen, Kranken voneinander und interniert sie gesondert in Absonderungshäusern: in Asylen, Armenhäusern, Gefängnissen, Spitälern. Nur noch verbrecherische Leute werden jetzt in eigentlichen Gefängnissen versorgt, aber zugleich beginnt sich nun der Organisationsmodus der Gefängnisse auf alle Institutionen zu erstrecken, «l'esprit carcéral», der Geist des Karzers, regiert und reguliert nebst den schon erwähnten Einrichtungen jetzt immer deutlicher auch die Fabriken, Schulen, Kasernen, Internate, Erziehungsheime. Die warenproduzierende Gesellschaft diszipliniert ihre Mitglieder, bringt ihnen genau abgezirkelte Handgriffe und Denkgriffe bei und macht den Menschen im Hinblick auf Funktionen rentabel, die er im undressierten Zustand nicht übernehmen würde. Die nicht arbeitenden Vagabunden kommen in Besserungsanstalten, die ungebärdigen Jünglinge in die Kaserne und anschliessend, flott abgerichtet, in die Fabriken usw. Den freiheitsdurstigen Kindern in der Schule, welche sich dort unschulisch-frech benehmen, kann man mit einer Verschärfung des Schulsystems drohen: «Du kommst in ein Erziehungsheim, wenn du nicht folgst», und im Erziehungsheim heisst es: «Du kommst ins Gefängnis, wenn du nicht parierst.» In der Schule kann es aber auch heissen: «Wenn du nicht genügend lernst, kannst du nicht promoviert werden, dann musst du in die Fabrik.»

      So wirkt die oberste Stufe aller Einschliessungen, das Gefängnis, als regulativ-organisatorisches Prinzip auf alle unteren Stufen zurück, und so ist das Gefängnis nur die letzte Sprosse einer Leiter, nur ein Glied aus der Serie verwandter Institutionen und also nicht qualitativ verschieden von Kasernen, Heimen, Asylen, Schulen. Gefängnis als verschärfte Schule, Schule als gemildertes Gefängnis. Die Schraube kann beliebig angezogen werden, fast übergangslos mündet eine Institution in die andere, je nach Fügsamkeit oder Widerborstigkeit des zu dressierenden Erziehungsobjekts. (Wer je in einem Internat lebte, hat das besonders deutlich gespürt.) Hier liegt das Verdienst von Michel Foucault: er hat das Gefängnis historisch begriffen, nicht nur punktuell als einen isolierten Skandal, den man mit gutem Willen und ein bisschen Reformeifer abschaffen könnte, und schon ist die Gesellschaft wieder in Ordnung. Foucault denkt diachron durch fünf Jahrhunderte, und zugleich denkt er synchron im Kontext der Institutionen. Deshalb ist er auch kein oberflächlicher Reformist, der ein paar kosmetische Verschönerungen am Gefängniswesen anbringen möchte. Denn was nützt es, wenn die Gefängnisse in ihrer heutigen, relativ brutalen Form verschwänden und trotzdem in andern Institutionen etwas subtilere, aber um so perfidere Formen der Einschliessung und des «esprit carcéral» ins Kraut schiessen? Diese Überlegung hindert ihn übrigens nicht daran, sich heftig im Kampf gegen das französische Gefängnissystem zu engagieren, er arbeitet und agitiert in der «Groupe d'information sur les prisons» (gip), welche Bewegung vor allem darauf abzielt, den Gefangenen wieder zu jener Sprache zu verhelfen, die es ihnen im Gefängnis verschlagen hat. Die Sprache der Gefangenen aber heisst Revolte, bekanntlich. Debout, les damnés de la terre! Foucault will nicht die Interessen der Gefangenen vertreten, aber er freut sich, wenn die Gefangenen ihre eigenen Interessen vertreten.* * Foucault: «Was die Intellektuellen unter dem Druck der jüngsten Ereignisse entdeckt haben, ist dies, dass die Massen sie gar nicht brauchen, um verstehen zu können; sie haben ein vollkommenes, klares und viel besseres Wissen als die Intellektuellen; und sie können es sehr gut aussprechen. Aber es gibt ein Machtsystem, das ihr Sprechen und ihr Wissen blockiert, verbietet und schwächt. Ein Machtsystem, das nicht nur in den höheren Zensurinstanzen besteht, sondern das ganze Netz der Gesellschaft sehr tief und subtil durchdringt. Die Intellektuellen sind selbst Teil dieses Machtsystems; die Vorstellung, dass sie Agenten des ‹Bewusstseins› und des Diskurses sind, gehört zu diesem System. Heute kommt es dem Intellektuellen aber nicht mehr zu, sich an die Spitze


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