Mich hat niemand gefragt. Dorothee Degen-Zimmermann

Mich hat niemand gefragt - Dorothee Degen-Zimmermann


Скачать книгу
ruf doch nicht so laut, es hören dich ja alle Leute.»

      Diesmal komme ich ohne Schläge davon.

      ÷

      Dann ziehen Buchers wieder einmal um, diesmal in ein ehemaliges Bauernhaus mitten im alten Albisrieden. Heute befindet sich die Blindenhörbücherei in dem Haus.

      Ein halbrunder Garten vor dem Stubenfenster. Ich bin ganz allein. Die Uhr schwatzt ihr ödes Ticktackticktack. Ich mag das Uhrengeschwätz nicht, es macht die Stube noch leerer. Da, ein Schatten am Fenster. Ich fahre zusammen. Eine schwarzweisse Katze ist es, mit grünschimmernden Augen starrt sie mich an. Von da an beginne ich Katzen zu fürchten.

      ÷

      Meine Sehbehinderung ist zwar offensichtlich, aber es kümmert sich vorderhand niemand darum. Ich schiele heftig und werde deswegen auch häufig ausgelacht. Manchmal gerate ich in gefährliche Situationen, weil ich so wenig sehe.

      Einmal schliesse ich mich einer Gruppe von Gvätterlischülern (Kindergartenkindern) an. Die Lehrerin beachtet mich nicht, wir gehen den Rain hinauf. Ich halte mich nicht ganz in der Reihe, und natürlich sehe ich den Velofahrer nicht, der den Rain herabschiesst. Er wirft mich um und fährt über meinen Rücken und kann erst weiter unten anhalten. Erschrocken kommt er zurück, hebt mich auf und fragt die Lehrerin nach mir, aber die kennt mich nicht, ich sei der Klasse nachgelaufen, sie wisse nicht, wo ich hingehöre. Der Mann setzt mich fürsorglich auf den Gepäckträger, fordert mich auf, ihn am Rücken festzuhalten, und fährt mich nach Hause. Der Bucherin empfiehlt er, mich ein bisschen hinzulegen.

      «Ja, ist es denn schon wieder zu weit gelaufen?» brummelt diese.

      ÷

      Wenn es geschneit hat, wird der Kirchenrain zur schönsten Schlittelbahn, die man sich denken kann. Ich gehe mit dem Marieli schlitteln, wir haben, wie die meisten Kinder, einen Kesselschlitten. Das sind ganz einfache, etwas umständliche Dinger, die die Väter oder grossen Brüder selbst herstellen. Von einer Kiste wird der Boden entfernt, unten werden zwei flache Kufen und oben ein Sitzbrettchen angebracht. Am vorderen Querbrett ist die Schnur zum Ziehen festgemacht, dazu einige eiserne Ringe, die beim Fahren einen scheppernden Lärm machen, darum der Name.

      Ein paarmal fahren wir miteinander hinunter, dann hat Marieli genug, es hat kalte Füsse und will heim.

      «Du gehst schon heim? Bleib doch noch, ich kann allein nicht lenken.» Marieli lässt sich nicht erweichen.

      «Dann fahre ich halt allein!» rufe ich trotzig und sause los.

      Lenken kann ich nicht, dazu fehlt mir die Kraft in den Beinen, und vor allem sehe ich nichts, noch dazu mit dem Fahrtwind in den Augen. Mein Schlitten schiesst die Strasse hinunter. Der Bauer sieht mich kommen und hält im Rank sein Fuhrwerk an. Ich kriege die Kurve nicht, ich sehe sie ja nicht einmal, und sause in voller Fahrt unter den Pferden durch und das Wiesenbord hinunter, wo es mich mehrmals überschlägt. Der Mann schimpft gutmütig vor sich hin – «Hab mir ja gedacht, dass das nicht gut kommt!» – und hilft mir meine Glieder einsammeln und den Schnee abklopfen. Dann lädt er mich samt dem Schlitten auf sein Fuhrwerk. «Hier kann ich nicht wenden», erklärt er, nimmt mich mit und bringt mich später nach Hause. Ist das gut, sich von den schnaubenden, dampfenden Pferden ziehen zu lassen! Aber vom Schlitteln habe ich für lange Zeit genug.

      ÷

      Mit sieben komme ich in die Schule. Lehrer Binz ist ein gütiger Mann, der mir die Buchstaben auf die Schiefertafel schreibt und meine Hand beim Schreiben führt. Mehr tut er allerdings nicht für meine schwachen Augen. Was auf der Wandtafel steht, kann ich nicht sehen.

      ÷

      Wenn ich in die Schule gehe, warte ich immer am Strassenrand auf die grossen Sekundarschülerinnen. Die lasse ich vorbeigehen und folge ihnen dann, sie sind meine Wegweiser.

      In jenem Winter fällt ziemlich viel Schnee. Vor dem letzten Schneefall hat der Bauer Jauche ausgefahren, und jetzt hat Tauwetter eingesetzt. Das Wasser sammelt sich zusammen mit der Jauche im Graben unten am Wiesenbord zu einer braunen Brühe. Ich warte am Strassenrand, mit dem Rücken zum Graben, auf die grossen Mädchen, da kommt noch vorher ein Drittklässler gelaufen. Den fürchte ich, er mag mich gar nicht, er hat mir schon oft «Schilibingg» nachgerufen. Jetzt pflanzt er sich vor mich auf, und ehe ich mich's versehe, gibt er mir einen so heftigen Stoss, dass ich rückwärts in den Graben falle. Dort bleibe ich weinend in der eiskalten, stinkenden Brühe liegen, bis mich jemand findet. Es ist jener Bauer, dessen Pferden ich zwischen den Beinen durchgefahren bin.

      «Was machst denn du hier?» fragt er und hilft mir auch jetzt wieder heraus.

      «Ein Bub hat mich gestossen», schluchze ich.

      «Nein aber auch – du gehst wohl besser heim jetzt.»

      Aber das traue ich mich nicht. Ich muss doch in die Schule! Weinend laufe ich hinter den grossen Mädchen her, die inzwischen längst an mir vorbeigegangen sind. Kurz vor dem Schulhaus hole ich sie ein.

      «Was ist mit dir passiert?» fragen sie verwundert. Auch ihnen klage ich mein Leid.

      «Aber so kannst du nicht in die Schule! Du machst ja alles schmutzig, und das ganze Schulzimmer stinkt von Jauche.»

      Zwei von den Mädchen holen sich beim Lehrer die Erlaubnis und begleiten mich nach Hause. Die Bucherin schimpft zu meinem Erstaunen nicht einmal. Sie setzt mich auf den Trog, zieht mir das Röcklein aus – es ist das handgestrickte von der Grossmutter – und wäscht mich sauber. Ich zittere am ganzen Leib. Dann werde ich ins Bett gesteckt.

      Und da bleibe ich dann mindestens drei Wochen und nehme die Welt nur noch durch Fieberschleier wahr. Doppelte Lungenentzündung. Die Beleidigung und Demütigung haben mir wohl ebenso die Widerstandskraft geraubt wie die eisige Kälte. Das Fieber geht zurück, ich stehe wieder auf, aber von der Furcht vor jenem Buben genese ich nicht.

      Ich traue mich nicht mehr in die Schule, sondern schleiche statt dessen zu den Nachbarskindern hinüber und spiele mit ihnen.

      «Wo bist du gewesen?» fragt die Bucherin barsch, als ich am Mittag heimkomme. Die Nachbarin muss es ihr gesagt haben.

      «Ich will nicht in die Schule, ich habe Angst!» klage ich. Da schlägt sie mich, und sie hätte wohl nicht so schnell aufgehört, hätte nicht der Bucher eingegriffen.

      «Lass das, sonst bekommt es wieder das Nasenbluten!» So verabreicht er mir an ihrer Stelle die Schläge, die mir seiner Meinung nach zustehen.

      Immerhin gibt man mir einen Brief für den Lehrer mit einer Erklärung, als ich am Nachmittag in die Schule gehen muss. Ich komme zu spät, ich habe mich nicht hineingetraut, die andern sind schon am Turnen. Ich kriege erst mal eins auf den Hintern.

      «Warum hast du geschwänzt?»

      «Weil ich Angst gehabt habe.»

      «Wovor hast du dich gefürchtet?»

      «Der Bape (Papa) hat gesagt, Sie sollen den Brief lesen.»

      Am andern Morgen nimmt mich der Lehrer beiseite und fragt mich genau nach jenem Vorfall aus. Der Drittklässler wird ausfindig gemacht und bekommt Schläge, bis das Lineal zerbricht. Ich gönne sie ihm.

      Bei dieser Gelegenheit wird auch nachgeforscht, wer den unheilvollen Schneeball geworfen hat, der mich einige Wochen zuvor ins linke Auge getroffen hat. Ich weiss nicht, wie jener Knabe heisst, und ich bin auch ganz sicher, dass er es nicht extra gemacht hat. Ich war versehentlich in sein Schussfeld hineingelaufen. Der Unfall sollte noch Folgen haben – das linke Auge war immerhin mein besseres gewesen –, aber das wusste damals noch niemand. Jedenfalls weist der Lehrer die grossen Mädchen an, ein bisschen mehr auf mich aufzupassen. Aber sie haben nicht mehr viel Gelegenheit dazu, denn ich werde bald wieder krank.

      ÷

      Seit der Lungenentzündung hält mich eine bleierne Müdigkeit gefangen. Ich komme abends erst spät zum Schlafen. Mein Bett steht in der Stube, und da ist häufig noch lange Betrieb, der mich vom Schlafen abhält. Hedi und Walter kommen vom Orchester heim und spielen gleich noch ein bisschen weiter, Klavier und Geige. Ich stelle mich schlafend,


Скачать книгу