Mich hat niemand gefragt. Dorothee Degen-Zimmermann

Mich hat niemand gefragt - Dorothee Degen-Zimmermann


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Bucherin weckt mich und ärgert sich, dass ich liegenbleibe. «Kommst zu spät in die Schule!» schimpft sie. Ich mag einfach nicht aus der warmen Höhle kriechen, meine Glieder, mein Kopf, alles ist so schwer. Da zerrt sie mich kurzerhand aus dem Bett – «Dich kriege ich schon wach!» –, setzt mich in die Badewanne und lässt das eiskalte Wasser über mich einlaufen. Mir bleibt die Luft weg, ich kann nicht einmal schreien. Zum Glück ist Walter auf das Schimpfen der Mutter aufmerksam geworden und kommt ins Badezimmer gelaufen.

      «Um Gottes willen, Mutter, du bringst das Kind ja um!»

      Er reisst mich aus dem Wasser und wickelt mich in ein Tuch. Was nachher geschehen ist, weiss ich nicht mehr. Die Folge ist – wieder eine doppelte Lungenentzündung.

      ÷

      Im Frühling wird aller Hausrat auf die Strasse hinaus gestellt, wir ziehen wieder einmal um, in die Stadt, an die Denzlerstrasse. Mitten zwischen den Möbeln und Kisten entdecke ich meinen heissgeliebten Puppenwagen. Ich habe oft und oft danach gefragt. «Was brauchst du den!» hat die Bucherin bloss gebrummt. Also ist er doch noch da, und sie hat ihn mir das ganze Jahr einfach nicht gegeben! Mich packt die helle Wut. Dann will ich ihn jetzt auch nicht mehr! Ich hole ihn zwischen den Kisten hervor und schiebe ihn in die Nachbarsgasse. Dort biete ich ihn einer Frau mit zwei Mädchen an:

      «Wollen Sie diesen Puppenwagen? Ich will ihn nicht mehr.»

      «Ja meinst du? Wart, ich gebe dir etwas.» Sie verschwindet im Haus, und als sie wieder herauskommt, sind wir handelseinig: Ich verkaufe meinen Puppenwagen für fünfzig Rappen und ein Konfibrot.

      Mit dem Umzug wechsle ich auch die Schule. Ich komme in eine bestehende Klasse im Ämtlerschulhaus und muss mich als «Spätling « in die hinterste Bank setzen, vorne ist kein Platz frei. Die Lehrerin ist eine gestrenge Frau. Nun soll ich schreiben.

      «Was schreiben?»

      «Dort ist das Tintenfass und der Federhalter, schreib!»

      «Ich weiss nicht, wie man das macht.» Ich habe bisher nur auf die Schiefertafel geschrieben. Sie wird ungeduldig.

      «Jetzt schreib schon!» fährt sie mich an.

      Ich suche tastend das Tintenfass, tauche die Feder ein – und habe schon den ersten Tolggen auf der Bank. Wie die Frau schimpfen kann! Merkt sie denn nicht, dass ich fast nichts sehe? Sie trägt doch selbst eine Brille. Doch, sie merkt es und verklagt mich prompt beim Schularzt. Es ist ein schlimmer Fehler, wenn man nicht gut sieht!

      An einem Nachmittag werde ich zum Schularzt befohlen. Der ist ein barscher Mann, ich kann es ihm nicht recht machen.

      «Stell dich da hinten an die Wand, was hat es vorn auf dieser Tafel?»

      Ich schüttle den Kopf:

      «Nichts.»

      Ich sehe ja kaum zwei Meter weit. Menschen, die weiter entfernt sind, kann ich nur an ihren Bewegungen erkennen. Er will mir nicht glauben, schüttelt mich:

      «Was steht da vorn auf der Tafel?»

      «Wenn ich doch sage, dass ich es nicht sehe!»

      «Wie, du gehst zur Schule und siehst nichts? Das geht doch nicht!» wettert er und schickt mich nach Hause.

      Ich weine auf dem ganzen Heimweg vor mich hin. Was habe ich bloss falsch gemacht? Was kann ich dafür, dass ich nicht sehe?

      Ich werde in eine Sonderschule umgeteilt, dort sind Schwerhörige, Schwachsichtige, vielleicht auch Schwachbegabte, ich weiss das nicht so genau. «Schwachsinnige», erzählt meine Mutter in der Verwandtschaft herum! Die Sonderschule ist im selben Schulhaus untergebracht wie meine bisherige Klasse. Die Lehrerin, Fräulein Otter, gewinnt sofort mein Herz. Sie erzählt uns das «Heidi» und singt mit uns «Da höch uf den Alpe». Wie ich das Heidi liebe! Ich bin doch auch so verlassen in der Welt, wenn ich nur einen Alpöhi hätte, der mich auf starken Armen auf die Alp trüge! Bei Fräulein Otter gehöre ich zu den Klassenbesten. Rechnen – das kann ich! Das habe ich bei Lehrer Binz gelernt.

      Die Lehrerin sorgt dafür, dass mich endlich der Augenarzt, der vom Schularztamt für Kinder mit Augenproblemen beigezogen wird, untersucht. Er verschreibt mir eine Brille, und Fräulein Otter kommt selbst an einem Samstagnachmittag mit mir zum Optiker, dort wird mir die Brille angepasst. Ich darf das kostbare Stück nach Hause nehmen.

      «Oh, dazu musst du Sorge tragen!» sagt die Bucherin und nimmt mir die Brille ab. Sie legt sie, damit ihr nichts passiere, ins Körbchen zuoberst auf dem Sekretär.

      Da stehe ich nun ohne Brille und brenne darauf, endlich zu wissen, wie die Welt durch die Zaubergläser aussieht. Hat nicht Fräulein Otter gesagt, ich solle sie schon ein wenig tragen und am Montag in die Schule mitbringen? So steige ich am Sonntag heimlich auf einen Stuhl und angle das Körbchen vom Sekretär herunter. Ehrfürchtig bestaune ich das Wunderwerk. Es ist ein Nickelgestell, die Gläser sind sehr dick, und zwar am Rand dicker als in der Mitte. «Gebrochene Linsen» nennt man das, habe ich später gelernt. Das rechte Glas ist stärker als das linke. Und was kann man nun alles sehen?

      In der Wohnung will ich nicht bleiben, da hätte mir die Bucherin die Brille gleich wieder abgenommen, also schleiche ich mich nach draussen. Das gibt ein Hallo unter den Kindern!

      «Das Trudi hat eine Brille!»

      «Brillenschaaggi, Brillenschaaggi!»

      «Komm, zeig, ich will sie auch mal probieren!»

      «Nein, pass auf, sonst geht sie kaputt!»

      Ein Bub reisst sie mir von der Nase, um sie sich selber aufzusetzen, ein anderer will sie ihm wegnehmen, er lässt sie fallen, und in dem Gerangel tritt jemand drauf. Wie ich sie aufhebe, sind die Gläser zerbrochen und das Gestell verbogen. Ich wickle sie in ein Taschentuch und lege sie in die Schultasche. Ach, wenn ich am Montag nur nicht zur Schule müsste! Wenn ich doch sterben könnte!

      «Trudeli, hast du deine Brille vergessen?» fragt die Lehrerin. Statt einer Antwort breche ich in Tränen aus.

      «Komm schon, komm, erzähl mir, was ist passiert?» beschwichtigt sie.

      Die andern Kinder kommen mir zu Hilfe und berichten, was vorgefallen ist. Fräulein Otter bringt dann die Brille eigenhändig zum Optiker und lässt auf ihre Kosten eine neue anfertigen. Sie sorgt dafür, dass ich sie ungestört tragen kann. Ich fühle mich zu Beginn recht unsicher, ich habe immerzu das Gefühl, der Boden senke sich vor meinen Füssen weg, der lange Schulhausgang sieht aus wie eine Rampe, und ich fürchte, ins Leere zu treten. Nach einigen Tagen gewöhne ich mich daran, und auch die andern Kinder vergessen, dass ich eine Brille trage. Sie verbessert meine Sehfähigkeit merklich, vor allem auf die Nähe. Von der vordersten Bank aus kann ich jetzt immerhin einigermassen erkennen, was auf der Wandtafel steht.

      ÷

      An der Denzlerstrasse wohnen viele Kinder, sie holen mich oft zum Spielen. Einmal kommen sie ganz aufgeregt:

      «Komm, das musst du sehen!»

      Sie nehmen mich in ihre Mitte und erzählen mir den schrecklichen Vorfall:

      «Ein grosser Bub hat einen Stein nach einem Kätzchen geworfen …»

      «… es ist umgefallen. Vielleicht ist es tot?»

      «… dann ist er hingegangen und hat ihm die Äuglein ausgestochen!»

      Da liegt es. Ich knie nieder und beuge mich ganz nah darüber, streichle es. Das schöne Tigerkätzchen! Ja, es ist tot. Und das Äuglein …, es hängt an der Sehne in der Augenhöhle, blutverschmiert.

      «Sieh mal, da ist ja noch der Draht!»

      Ja, ich spüre ihn. Mich schüttelt es vor Ekel, Grauen und Empörung. Die andern Kinder sind jünger als ich, sie erwarten, dass ich etwas unternehme.

      «Das müssen wir dem Polizist sagen», erkläre ich, «um drei Uhr kommt er immer hier vorbei.»

      Wir stellen uns an den Gartenzaun und warten und bereden miteinander wieder und wieder das grauenvolle Ereignis. Wer kann bloss so etwas tun? Und warum?

      Da,


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