Nach Amerika. Leo Schelbert
Hinterbliebenen. Nachbarschaftshilfe wird hier grossgeschrieben. Wir sind wirklich aufeinander angewiesen.
Unsere Familie vergrösserte sich, und wir waren überglücklich. Am 22. Juli 1969 kam unser Sohn Marc auf die Welt. Wenn wir draussen zu tun hatten, spielte der Bub im Laufgitter oder bei uns auf dem Feld. Im Oktober 1972 wurde uns Tochter Flavia geschenkt. Es lief recht knapp bei der Geburt. Gritli hatte während der Schwangerschaft bis am Tag vor der Niederkunft draussen voll mitgearbeitet, und als die ersten Wehen im Anzug waren, sah es am Himmel nach Regen aus. Ich musste unbedingt noch aufs Silo raufklettern und alles dicht machen, bevor wir ins Auto steigen konnten. Glücklicherweise reichte es noch ins Spital von Decatur.
Wir waren eine glückliche, kleine Familie, und weil wir weit draussen wohnen, wurden unsere beiden Kinder bald mit dem gelben Schulbus auf der Farm abgeholt. Im Winter gab es auf der Farm wenig zu tun, wir reisten in die Schweiz, ich arbeitete jeweils zwei, drei Monate im Büro bei der Graubündner Kantonalbank in Chur, und wir lebten bei unseren Eltern. Marc besuchte in Chur während eines Winters sogar den Kindergarten und spricht heute noch einen schönen Churerdialekt. Später studierte er in Bloomington-Normal International Business & Marketing und lebte einige Jahre in Chur und Bonaduz. Während seines Schweiz-Aufenthalts lernte er seine Frau Loes van Gent, eine holländische Physiotherapeutin, kennen. Marc und Loes haben drei Mädchen, Fiona, Hannah und Annika. Unsere Tochter Flavia wurde Krankenschwester und heiratete einen Polizisten, Andrew Pistorius. Die beiden haben einen Sohn, Blake, und leben nur eine knappe Stunde südlich von uns entfernt.
Gritli und ich haben uns vor einigen Jahren auf dem «höchsten» Punkt der Farm ein «Stöckli» gebaut. Wir haben das Land etwas aufgeschüttet, sodass wir vom Küchenfenster aus über die Maisfelder hinweg den Hof im Auge haben. Marc übernahm die Farm vor zehn Jahren und bewirtschaftet heute 1760 acres (712 Hektaren). Ich bin im Ruhestand, aber im Frühling und Herbst, wenn meine Hilfe gefragt ist, springe ich natürlich jederzeit gerne ein. Das ist mir sehr wichtig. Wir können den ganzen Ertrag einer Ernte auf dem Hof trocknen und lagern. Unsere Schwiegertochter fängt jetzt auch mit Traktorfahren an – kein einfaches Unterfangen mit den grossen Maschinen. Viele Arbeitsgänge sind computergesteuert. Heutzutage kann man sogar im Dunkeln ansäen – mit GPS.
Aber die Natur ist immer noch unberechenbar – heute wie vor vierzig Jahren. Ich frage mich manchmal, warum wir Erfolg hatten. Ich glaube, es war ein Stück weit mein Ehrgeiz. Ich wollte beweisen, dass ich im Stande bin, ein guter amerikanischer Farmer zu sein. Das spornte mich an.
Ich würde jederzeit wieder auswandern – aber nur mit Gritli. Wir sind beide amerikanische Staatsbürger; mit der Schweiz sind wir noch sehr verbunden, besuchen unsere alte Heimat jedes Jahr für mindestens drei Wochen und haben in Chur eine Wohnung. Mit Abonnements der «Schweizer Illustrierten» und der Wochenausgabe des «Tages-Anzeigers» sowie per Internet erfahren wir die Neuigkeiten in der alten Heimat. Aber wir fühlen uns sehr als Amerikaner.
Übers Altwerden machen wir uns schon Gedanken. Wir hoffen natürlich, dass wir nicht in ein Heim müssen. Wir möchten so lange wie möglich zusammenbleiben und unsere Familie geniessen. Seit unserer Hochzeit haben Gritli und ich nur wenige Tage getrennt verbracht. Vielleicht unternehmen wir noch ein paar Reisen: Alaska wäre ein Traum, oder Brasilien und Argentinien, um zu schauen, wie sie dort die Felder bestellen. Auch europäische Städte wären eine Reise wert. Aber eben: Während der Ansaat und der Ernte möchte ich immer wieder daheim sein – Mais und Sojabohnen sind ein Teil von mir geworden.
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