Nach Amerika. Leo Schelbert

Nach Amerika - Leo Schelbert


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Women») setzt dieses Buch eine Dokumentation fort, wie diese auch in Leo Schelberts «‹Alles ist ganz anders hier›. Schweizer Auswandererberichte des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten» oder in Peter Michael-Caflischs «‹Hier hört man keine Glocken›. Geschichte der Schamser Auswanderung nach Amerika und Australien» auf Grund von Briefen vorgelegt wird.

      Im Buch «Nach Amerika» berichten dreizehn Schweizer Männer von ihrem Leben im Zeichen der Auswanderung in die Vereinigten Staaten des zwanzigsten Jahrhunderts. Im ersten Teil porträtiert Susann Bosshard-Kälin acht Auswanderer und einen in den Vereinigten Staaten geborenen Sohn eines Schweizer Auswanderers. Die Geschichten zeigen, dass in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Auswanderung beruflich geprägt wurde, da die kontinentale Eroberung zu Ende war und es eigentliche Siedlungswanderungen kaum mehr gab. Die Berichte sind keine abschliessenden Biografien, sondern subjektiv geprägte Aufzeichnungen aus Erzähltem, Erinnertem, Erfahrenem – Ausdruck von Freuden, Krisen, Verlusten, Erfolgen und Träumen. Die Gespräche, die den Lebensgeschichten zugrunde liegen, waren zu Beginn oft etwas verhalten und zögernd – als Mann einer fremden Journalistin das Leben zu erzählen, ist kein Leichtes – wurden aber bald zu offenen und herzlichen Begegnungen. Oft, und oft unerwartet, rief das Erinnern Emotionen wach – ein besonderer Vertrauensbeweis.

      Die vier Texte des zweiten Teils sind eine Auswahl von Lebensberichten, die Leo Schelbert über die Jahre hin angeregt und als Herausgeber der Zeitschrift der Swiss American Historical Society in englischer Fassung veröffentlicht hatte. Vier der von ihm übersetzten Texte werden hier in einer vom Verlag revidierten und gekürzten Form vorgelegt. Die von den Autoren approbierten autobiografischen Texte (wie auch die ins Englische übertragenen Porträts von Susann Bosshard-Kälin) sind vollständig im Buch «Emigrant Paths. Encounters with 20th Century Swiss Americans» enthalten, das von der Swiss American Historical Society 2013 veröffentlicht wurde.

      «westwärts» und «westward» wie auch «Nach Amerika» und «Emigrant Paths» hoffen verschiedene Aspekte des Auswanderungsgeschehens im zwanzigsten Jahrhundert Lesern nahezubringen.

       Susann Bosshard-Kälin / Leo Schelbert, im Januar 2014

       Gesprächsprotokolle

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       Philip Gelzer, 1927

      Von Basel-Stadt nach Greensboro,

      North Carolina

      «ICH FÜHLTE MICH AUF EINMAL ZU HAUSE IN NEW YORK.»

       ‹IAG› – in Amerika gewesen! Wer das von sich sagen konnte, wurde beneidet und hatte im Berufsleben – besonders in Bankenkreisen – bessere Karten. Der Bankkaufmann Philip Gelzer schnupperte 1950 für ein Jahr USA-Luft und blieb in der Neuen Welt. Er ist Amerikaner und Heimwehbasler und kriegt heute noch feuchte Augen, wenn er in akzentfreiem Baslerdialekt von seiner Heimatstadt schwärmt. Seit ein paar Jahren bewohnt er mit seiner zweiten Frau, Joe, eine Vierzimmerwohnung in einem exklusiven Alterszentrum in Greensboro, North Carolina. Er findet, dass sich Auswanderergeschichten immer irgendwie ähneln. Ob dem so ist?

      Mein Urgrossvater Johann Heinrich Gelzer zog als Theologe und Historiker von Schaffhausen nach Basel, habilitierte an der Universität und vermählte sich mit einer Sarasin-Tochter. Damit wurde er aufgenommen in den Basler «Daig», ins vornehme Bürgertum. Später, nach Jahren als Professor in Berlin und zurück in Basel als Schriftsteller, Politiker und Diplomat, erhielt er sogar das Ehrenbürgerrecht der Stadt. Mein Vater Heinrich, Sohn von Pfarrer Karl Gelzer-Vischer, ist im Pfarrhaus der «Dalbekirche» aufgewachsen und studierte auch Theologie. Er wurde Rektor des Theologischen Seminars der Basler Missionsgesellschaft. Der junge Pfarrer wagte noch vor dem Ersten Weltkrieg den mutigen Schritt, eine deutsche Pastorentochter aus Stassfurt zu heiraten. Meine Mutter, Charlotte Luedecke, Leiterin eines von ihrem Vater gegründeten Waisenhauses und preussischen Ursprungs, wurde der Liebling in unseren weitverzweigten Basler Familien. Sie war bestrebt, sich gut zu assimilieren und sprach bald Basler Dialekt. Mutter war eine energische, aber fröhliche Frau und eine grosse Verfechterin des Frauenstimmrechts. Und sie war eine Pfarrfrau im alten Stil: «2 für 1», hiess das. Den Pfarrer stellte man ein und die Frau, die ihren Mann meist engagiert unterstützte, ohne Entlöhnung mit dazu.

      Die eine meiner Welten war im Basler Missionshaus, die andere bei der vornehmen Verwandtschaft in der «Dalbe». Die beiden Milieus hätten verschiedener nicht sein können. An den grossen Vischer-Familientagen waren die Nachkommen der «hinein-geheirateten» Gelzers sowie die Iselins, Staehelins, Burckhardts, Christs, Albrechts eingeladen. Wir waren die «Missionshäusler». Ich war als Bub sehr sensibel auf solche Zuschreibungen, auch auf den in der weiteren Familie oft zitierten Scherz: «Alle Jahre wieder kommt ein Gelzer-Kind!» Als zehnköpfige Familie stachen wir in der Verwandtschaft heraus. Am ersten Januar machte man nach altem Basler Brauch Neujahrsbesuche bei der «oberen Generation», den Grosseltern, Onkeln und Tanten. Das ganze «Gelzer-Zygli» – mein Vater mit Zylinder – machte sich zu Fuss auf den Weg in ihre Stadtvillen – meine Eltern sowie Michael (1916), Monika (1918), David (1919), Jakobea (1921), Lea Barbara (1924), Priscilla Rahel (1925), ich (1927) und Justus (1929). «Gutzi», warme «Baschtetli» und Wermut waren die Höhepunkte und die Belohnung bei diesen Pflichtbesuchen. Meine Grosseltern hatten überdies ein Landgut oberhalb von Eptingen. Es gehörte sich, dass man ein Sommerhaus besass, mit einem «Lärchenmann», der auf dem Gut lebte und dieses betrieb. Wir durften einen Teil der Sommerferien dort verbringen. Ich weiss heute, dass Onkel Benedikt Vischer, Associé bei der Bank Sarasin, meinen Eltern finanziell immer wieder unter die Arme griff. Ich denke, ohne seine Hilfe hätten sie die grosse Kinderschar nicht durchgebracht.

      Als siebtes und zweitletztes Kind der Familie kam ich am 4. Oktober 1927 im Frauenspital in Basel zur Welt und wurde Philipp Christian Renatus getauft – nach Philipp Melanchthon, einem Kollegen Martin Luthers, und nach Christian Renatus Zinzendorf, dem Sohn des Gründers der Herrnhuter Brüdergemeine. Unsere Familie wohnte im Missionshaus beim Spalentor, dort wo auch die Administration der weltweit tätigen reformierten Mission, heute Mission 21, ist. Die Basler Mission war ein Gemeinschaftswerk deutscher, elsässischer und Schweizer Missionsleute und bot eine Ausbildung für Missionare in aller Welt. Leitende der Mission und die Lehrer am Seminar lebten mit ihren Familien im Komplex, und natürlich auch die Seminaristen. Einer meiner besten Freunde war der Sohn eines Mitarbeiters meines Vaters, und auch meine erste Sandkastenfreundin kam aus einer Missionarsfamilie. Eine Tür führte von unserer Wohnung direkt ins Seminar, und die künftigen Missionare konnten bei uns jederzeit an die Tür klopfen, sei es auch nur, um von Mutter einen Knopf angenäht zu bekommen. In unserer Wohnung gab es eine einzige primitive Toilette für die ganze Familie, kein Badezimmer, nur eine kleine Badewanne in einem Kasten drin. Es war alles sehr einfach. Aber wir kannten nichts anderes.

      Wir hatten ein offenes Haus, ein von der Religion geprägtes Daheim. Die Fasnacht war tabu. Den Seminaristen war sie verboten und leider auch uns Kindern. Ich durfte nie eine Larve anziehen, «drummeln» oder pfeifen. Mutter erzog uns mit preussischer Konsequenz. Sie hatte ab und zu eine lose Hand, und wenn man sich in Vaters Studierstube stellen musste, wusste man, was es geschlagen hatte. Ausschliesslich als Familie sassen wir selten am Esstisch. Oft waren Leute aus den Missionen, deutsche Verwandte, Hilfsbedürftige oder Flüchtlinge da, und immer natürlich unsere Donna, das «Dienstmädchen». Sie war als Bedienstete Teil der Familie, was damals in den besseren Basler Kreisen nicht üblich war.

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      Bei Verwandten in Mürren im Winter 1934; Philip bei der Mutter sowie Justus und Priscilla.

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      Philip, Lea und Justus 1937 (von links nach rechts).

      Vater hat uns seine Anspruchslosigkeit für alles Weltliche und Materielle vorgelebt. Das Gegenteil von dem, was heute in Amerika praktiziert wird. Er trank keinen Alkohol und brauchte wenig für sich selber.


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