Deutsche Gebärdensprache. Claudia Becker
wird. Die Förderung der Gebärdensprache dient lediglich als Notnagel, auf den zurückgegriffen wird, wenn die lautsprachliche Entwicklung ins Stocken gerät. Der Gewinn, den eine bimodale Mehrsprachigkeit von Anfang an für die gesamte Entwicklung eines Kindes haben kann, wird bei dieser Sichtweise häufig außen vor gelassen (s. Kap. 3).
Gehörlosigkeit: eine soziale Behinderung?
Eine etwas anders gelagerte Perspektive sieht in Gehörlosigkeit in erster Linie nicht ein individuelles, sondern ein soziales Problem. Die Behinderung ist keine Eigenschaft des Individuums, sondern Behinderung entsteht dann, wenn Menschen aufgrund von Barrieren nicht voll am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Auch Menschen mit einer Hörschädigung stoßen in unserer Gesellschaft immer wieder auf Barrieren, da sie vornehmlich auf Hören und Lautsprache ausgerichtet ist. Viele Fernsehsendungen sind zum Beispiel nicht barrierefrei, da sie ausschließlich in gesprochener Sprache präsentiert werden und Untertitel oder Gebärdenspracheinblendungen fehlen. Die Behinderung kann aufgehoben werden, wenn die Gesellschaft Strukturen und Bedingungen schafft, in denen Menschen mit und ohne funktionelle körperliche Beeinträchtigungen ungehindert teilhaben können. Aus dieser Perspektive liegt es deshalb in gesellschaftlicher Hand, entsprechende Nachteilsausgleiche zu schaffen, um Barrieren, die Menschen mit einer Hörschädigung erleben, auszugleichen oder am besten ganz abzubauen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Bereitstellung und Finanzierung von Dolmetschern auch in der Schule relevant.
In der Tat empfinden viele gehörlose Personen ihre Hörschädigung gar nicht als Behinderung per se. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie sich in Kontexten bewegen, in denen beispielsweise alle Beteiligten in der Lage sind, gebärdensprachlich zu kommunizieren. In dem Moment, wo ungehinderte Kommunikation möglich ist, spielt die An- oder Abwesenheit des Hörvermögens schlichtweg keine Rolle.
Gehörlosigkeit: ein kulturell-sprachliches Phänomen?
Obwohl Gehörlosigkeit in gewisser Hinsicht immer etwas mit einer physischen Kondition zu tun hat, die konkrete Implikationen für das soziale Miteinander von hörenden und gehörlosen Menschen hat, gibt es darüber hinaus aber auch noch andere Aspekte, die für viele gehörlose Personen den Kern ihrer sozialen Identität ausmachen. Sie sehen sich als Mitglied einer sprachlich-kulturellen Minderheit. Im Mittelpunkt steht hier die gelebte Erfahrung einer Gemeinschaft, die sich über eigene kulturelle Normen und Formen definiert. Obwohl der Begriff „Gehörlosenkultur“ erst in den 1980ern aufkam, reicht die Erfahrung einer gemeinschaftlich entstandenen Kultur weit zurück. Dies lässt sich beispielsweise an dem im 19. Jahrhundert entstandenen Vereinswesen ablesen, in dem sich gehörlose Menschen zusammengetan haben, um gemeinsam sportlichen Aktivitäten nachzugehen oder andere geteilte Interessen zu pflegen und zu vertreten.
Die Gebärdensprachgemeinschaft ermöglicht es gehörlosen Menschen, sich mit anderen auszutauschen, deren Alltagsrealität der eigenen in vielerlei Hinsicht oft sehr ähnlich ist. Dazu gehören zum Beispiel Erfahrungen, die häufig von kommunikativen Barrieren bis hin zu Diskriminierungen in der hörenden Mehrheitsgesellschaft geprägt sind. Die Gehörlosen- bzw. Gebärdensprachgemeinschaft spielt für viele gehörlose Personen auch heute noch eine wichtige Rolle, was sich nach wie vor u.a. im organisierten Sport zeigt. Hier wird in besonderer Weise der soziale Austausch auf regionaler und überregionaler Ebene ge- und erlebt. Darüber hinaus versteht sich die Gehörlosengemeinschaft aber auch als Interessensgemeinschaft. So setzt sich der Deutsche Gehörlosenbund aktiv auf politischer Ebene dafür ein, Behinderungen in der Gesellschaft abzubauen.
Zur Gehörlosenkultur selbst werden verschiedene Umgangsformen und ‑normen gezählt. Wenn man das Gegenüber auf sich aufmerksam machen möchte, ist es üblich, gezielt zu winken oder dies mit einem sanften Antippen der Schultern zu signalisieren. Dem Begriff Gehörlosenkultur werden außerdem auch eigene Kunstformen und Textsorten zugeschrieben, die einen stark visuellen und gebärdensprachlichen Charakter haben. An visuell-räumlich ausgerichteten Reimen in der Gebärdensprachpoesie zeigt sich, dass sich literarische Finessen keineswegs auf Laute beschränken. Geschichten haben in dem DGS-Kulturkanon ebenso ihren Platz wie Witze, deren Pointen häufig schlichtweg nur versteht, wer mit der Lebenswelt gehörloser Menschen vertraut ist.
Viele gehörlose Personen beschreiben ihr Leben als ein Leben in zwei Welten. Auf einer Seite ist dies nachvollziehbar, zumal sich der Alltag in einer hörenden Umgebung, allein schon aufgrund sprachlich-kommunikativer Gegebenheiten, anders gestaltet, als wenn gehörlose Personen unter sich sind. Da jedoch in der Regel beide „Welten“ Teil der Lebensrealität gehörloser Menschen sind, würden wir hier eher das Bild von zwei Seiten einer Medaille ins Feld führen.
In der Gebärdensprachpoesie werden Körper und Raum bewusst eingesetzt, um künstlerische Texte zu kreieren. Dabei gibt es eine Reihe unterschiedlicher Stilmittel: Mit der gezielten Häufung und/oder Wiederholung von Handformen lassen sich visuelle Reime gestalten, je nach Mimik, Tempo und räumlicher Ausdehnung einzelner Zeichen lassen sich unterschiedliche Stimmungen und Spannungen erzeugen. Handformen und Ausführungen einzelner Gebärdenzeichen werden dabei häufig für künstlerische Zwecke verfremdet.
Selbst gehörlos, hat der britische Deaf Studies Forscher Paddy Ladd (2003) vor einigen Jahren den Begriff Deafhood, zu deutsch: Taubsein oder Gehörlos-Sein, geprägt. Er drückt damit aus, dass Gehörlosigkeit wesentlich mehr ist – oder sein kann – als ein physisches, sprachliches oder soziales Konstrukt. Vielmehr steht hier ein holistisches Selbstverständnis im Vordergrund, das sich durch eine positive und bejahende Einstellung zum Taubsein mit all seinen Facetten und Werten auszeichnet. Ganz gut passt in diese Sichtweise auch die Beschreibung gehörloser Menschen als „people of the eye“ oder „sign language people“. Im Zentrum beider Konzepte steht das, was hörgeschädigte, gebärdensprachkompetente Menschen in besonderem Maße auszeichnet und was viele von ihnen tatsächlich als besonderes Kapital schätzen: die Welt vor allem mit den Augen zu sehen und sie sich durch visuell-räumliche Mittel sprachlich zu erschließen.
Die gelebte Realität „Gehörlosigkeit“ wird also von verschiedenen Personen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen. Wichtig ist ganz besonders für die hörende Mehrheit, eine Sensibilität für die Unterschiedlichkeit der Perspektiven zu entwickeln und das Bewusstsein darüber, dass die eigene Sichtweise eine unter anderen ist und nicht zwangsläufig vom Gegenüber in gleicher Weise geteilt wird. Auch wenn vieles auf den ersten Blick unverständlich sein mag, die Welt ist bunt – und das ist auch gut so.
1.2 Terminologie: Welche Bezeichnung ist richtig?
Es gibt viele Begriffe, die im Zusammenhang mit Menschen mit Hörschädigungen verwendet werden. Hier ist eine (unvollständige) Auflistung von Begriffen, die in diesem Kontext immer wieder auftauchen:
taub
hörgeschädigt
hörbehindert
gehörlos
Gebärdensprachnutzer
Deafie
Gerade in einer Zeit, in der politische Korrektheit großgeschrieben wird, existieren große Unsicherheiten darüber, welche Begriffe überhaupt verwendet werden dürfen, gerade angesagt sind oder auch tunlichst vermieden werden sollten. Manch einen mag das Gefühl beschleichen, dass die Wahl der richtigen Terminologie in etwa den Charme von „Topfschlagen im Minenfeld“ hat. Egal für welchen Begriff man sich entscheidet – die Sorge, ausgerechnet den falschen zu verwenden, ist gar nicht mal so unbegründet.
Das Dilemma im deutschsprachigen Raum ist, dass es zurzeit keine Bezeichnung gibt, die zufriedenstellend ist bzw. von allen Menschen in gleicher Weise akzeptiert wird. Vor allem fehlt es an einem passenden Oberbegriff, der die Gruppe von Menschen mit einer Hörschädigung beschreibt. Das Wort „hörbehindert“ ist problematisch, da es wie eine Charakterzuschreibung wirkt und den Aspekt außen vor lässt, dass eine Behinderung erst im gesellschaftlichen Miteinander entsteht. Das Wort „hörgeschädigt“ ist defizitorientiert und eher der medizinischen Sichtweise zuzuschreiben.
Die Bezeichnungen, die Menschen für sich selbst wählen, drücken häufig ihre Haltung zu ihrer Hörschädigung sowie ihre sprachlich-kulturelle Orientierung und