Deutsche Gebärdensprache. Claudia Becker
Personen, die Gebärdensprache als ihre bevorzugte Sprache betrachten, bezeichnen sich als „gehörlos“, „taub“ oder als „Gebärdensprachnutzer“, einige auch als „Deafie“. Diese Bezeichnungen werden auch verwendet, um die Zugehörigkeit zur Gehörlosenkultur bzw. der Gebärdensprachgemeinschaft zu betonen. Aus medizinischer Sichtweise gibt es wiederum weitere Unterscheidungen, die die unterschiedlichen Formen und Grade von Hörschädigungen bezeichnen (zum Beispiel „leichtgradig/mittelgradig/hochgradig hörgeschädigt, an Taubheit grenzend, gehörlos“).
Für die Pädagogik ist es wichtig, eine sprachliche Sensibilität zu entwickeln und nachzufragen, welche Termini von den betroffenen Personen präferiert werden. Wird zum Beispiel in der Schule das Thema „Hörschädigung“ aufgegriffen oder die Verwendung von Gebärdensprache thematisiert, bietet es sich an, gemeinsam mit den Schülern auszuarbeiten, welche Assoziationen mit welchen Begriffen verknüpft werden, und eine für den konkreten schulischen Kontext verbindliche Sprachregelung zu verabreden. Auf diese Weise wird nicht zuletzt auch den Schülern das Recht zugesprochen, bestimmte Bezeichnungen und damit ggf. auch Teilidentitäten für sich zu reklamieren.
Last but not least: Ein Begriff, der heutzutage absolut nicht mehr verwendet werden darf und kategorisch aus jedem Sprachgebrauch eliminiert werden sollte, ist das Wort: „taubstumm“. Dieser Begriff wird in mehrfacher Hinsicht als diskriminierend empfunden. Zum einen können gehörlose Menschen mit entsprechendem Training durchaus (akustisch) sprechen lernen. Zum anderen können sie sich in Gebärdensprache sehr wohl eloquent ausdrücken.
Im Sinne eines pragmatischen Vorgehens verwenden wir in diesem Buch eine Reihe von Begriffen, die in der Literatur gängig sind. Gleichzeitig sind wir uns natürlich des normativen Potentials der hier verwendeten Termini bewusst.
Um die gesamte Gruppe von Menschen zu beschreiben – unabhängig von der Ausprägung der Hörschädigung, der sprachlichen oder kulturellen Orientierung –, verwenden wir in diesem Buch den Begriff hörgeschädigt – wohl wissend, dass es sich hier um einen faulen Kompromiss handelt. Wenn wir Menschen bezeichnen, die einen hohen Hörverlust haben und Gebärdensprache als wichtiges Kommunikationsmittel im Alltag verwenden, benutzen wir den Terminus „gehörlos“.
1.4 Weiterführende Literatur
Wer sich fragt „Was ist Deafhood?“, wird darauf in dem gleichnamigen Buch von Paddy Ladd 2008 sehr umfassende Antworten finden. Heute wird auch der Terminus „Deaf Gain“ diskutiert. Damit wird betont, dass Gehörlosigkeit nicht als Mangel betrachtet wird, sondern als Gewinn für die Vielfalt menschlichen Daseins. Hierzu lohnt es sich, das Buch „Deaf Gain: Raising the Stakes for Human Diversity“ von Bauman und Murray von 2014 zu lesen. Einblicke in aktuelle Themen, welche die Gebärdensprachgemeinschaft bewegen, finden sich auf der Webseite „Taubenschlag“ (www.taubenschlag.de [abgerufen am 03.12.2018]).
2 Die Deutsche Gebärdensprache – Sprache im Raum
Ziele
Es gibt verschiedene Kommunikationsmittel, die zwar durchaus etwas mit gebärdensprachlicher Kommunikation zu tun haben, dennoch aber nicht mit Gebärdensprache im engeren Sinne gleichzusetzen sind. Zentrales Anliegen des folgenden Kapitels ist es darum, Einblicke in sprachliche Strukturen der Deutschen Gebärdensprache (DGS) zu geben. Zunächst greifen wir weit verbreitete, wenn auch falsche Annahmen über DGS auf. Anschließend gehen wir auf ausgewählte sprachstrukturelle Aspekte ein und zeigen daran, dass DGS weit mehr ist als „mit den Händen zu gestikulieren“. Sie ist eine vollwertige, natürliche Sprache, die über ähnliche Ebenen verfügt wie gesprochene Sprachen.
2.1 Was ist DGS nicht?
Um es gleich einmal vorwegzunehmen: DGS ist genauso strukturell komplex und funktional adäquat wie alle anderen natürlichen Sprachen auch. Dennoch gibt es immer wieder Missverständnisse, von denen wir vier besonders aufgreifen möchten: DGS ist nicht international, sie ist kein Fingeralphabet, sie ist keine Pantomime und sie ist nicht gebärdetes Deutsch.
DGS ist nicht international
Menschen, die das erste Mal mit Gebärdensprachen konfrontiert sind, stellen häufig als Erstes diese Frage: „Ist Gebärdensprache eigentlich international?“ Wenn diese dann verneint wird, wird das zumeist mit einem: „Schade, das wäre doch aber so praktisch!“ kommentiert. Der bedauernde Unterton ist dabei selten zu überhören. Dabei ist die Sache mit der Nicht-Internationalität weder verwunderlich noch bedauerlich. Die Antwort liegt darin begründet, dass DGS genau das ist, was der Name sagt: eine Sprache. Und zwar eine ganz natürliche, die (vorwiegend gehörlose – aber nicht nur) Menschen verwenden, um all die Dinge zu tun, die man so mit natürlichen Sprachen macht: Witze reißen, sich erklären, schimpfen, flirten, Geschichten erzählen, Wegbeschreibungen liefern, Pläne schmieden usw. Für die Entstehung von Gebärdensprachen spielen insbesondere solche Orte eine zentrale Rolle, an denen gehörlose Menschen zusammenkommen und gemeinsam soziales Miteinander schaffen. In der Vergangenheit waren dies oft Schulen und Internate. Das hat auch dazu geführt, dass in verschiedenen Ländern unterschiedliche Gebärdensprachen entstanden sind. So gibt es neben der Deutschen Gebärdensprache zum Beispiel auch eine Griechische, eine Amerikanische oder eine Syrische Gebärdensprache. Darüber hinaus können Gebärdensprachen aufgrund ihrer Entstehungsgeschichten auch verschiedene Dialekte haben (s. Kap. 2.2.2). So sehen einige Gebärden im Süden Deutschlands anders aus als im Norden, Westen oder Osten.
Gebärdensprachen sind wie Lautsprachen keine starren Systeme. Heute ist es möglich, auch mit Gebärdensprache Theologie, Medizin oder Quantenphysik zu studieren. Weil DGS damit in Kontexten Anwendung findet, für die gebärdensprachliche Interaktion bis vor wenigen Jahren nicht möglich war, hat dies natürlich direkte Auswirkungen auf die Entwicklung der DGS, insbesondere im Bereich des Lexikons. In der sukzessiven Weiterentwicklung zeigt sich nicht nur das Potential von Gebärdensprachen, sich sozialen Entwicklungen anzupassen, sondern sie ist auch ein Indiz für die Natürlichkeit der Sprachen.
DGS ist nicht das Fingeralphabet
Das Fingeralphabet bietet die Möglichkeit, mit Hilfe verschiedener Handzeichen die Buchstaben der deutschen Schriftsprache manuell darzustellen und auf diese Weise Wörter der deutschen Sprache in die Luft zu buchstabieren (s. Abb. 1).
Abb. 1: Das Wort ‚Haus’ im deutschen Fingeralphabet (oben) und die Gebärde HAUS in DGS (unten)
Fingeralphabete sind eine wunderbare Erfindung für solche Fälle, wenn es beispielsweise darum geht, spezielle lautsprachliche Wörter, für die es (noch) keine entsprechenden Gebärden gibt, in Gespräche zu integrieren. Auch bei Eigennamen für Orte und Personen kommt das Fingeralphabet regelmäßig zum Einsatz. So gesehen findet das Fingeralphabet durchaus seine Anwendung in gebärdensprachlicher Kommunikation. Im engeren Sinne sind Fingeralphabete jedoch künstlich entwickelte Systeme, mit deren Hilfe sich Wörter der Lautsprache räumlich-visuell darstellen lassen. Quasi ein Mittelding zwischen Laut-, Schrift- und Gebärdensprache.
Fingeralphabete eignen sich nicht dazu, sich Buchstabe für Buchstabe durch ein Gespräch zu daktylieren (= mit den Fingern buchstabieren). Wollte man dies tun, wäre das nicht nur unglaublich anstrengend, sondern würde in etwa so aussehen, wie es sich anhören würde, wenn man sich per Artikulation einzelner Laute unterhalten wollte. So nach dem Motto: „H-a-l-l-o-O-m-a-W-a-n-n-k-o-m-m-s-t-D-u-u-n-s-W-e-i-h-n-a-c-h-t-e-n-b-e-s-u-c-h-e-n?“ So redet natürlich kein Mensch! Sprache funktioniert anders. Wie wir später noch ausführen werden, machen sich Gebärdensprachen in ganz spezieller Weise die visuell-räumliche Modalität zunutze. Durch systematische Kombinationen u.a. von Handformen, Bewegung und Gesichtsausdruck können verschiedene bedeutsame Informationen simultan kommuniziert werden (s. Abb. 1).
Übrigens hat jede Gebärdensprache ihr eigenes Fingeralphabet. In manchen Sprachen wie der Deutschen