Beziehungsweisen. Elazar Benyoëtz
Von der intellektuellen Qualität der Aphorismen abgesehen, sicherlich am Zeitpunkt, aber doch nicht nur. Dedecius, KarlDedecius hatte genial die ironische Aura (W. Benjamin, WalterBenjamin) von Lec, Stanislaw JerzyLec getroffen, alles andere gehört zur Technik des Übersetzens, die man lernen kann, die Nachempfindung der Aura aber nicht, das ist eine Sache des Talents. Dedecius, KarlDedecius war von seiner Genialität fest überzeugt und hatte demnächst ganze Anthologien von Lyrik und Aphorismen selbst übersetzt, damit hatte er seine auratische Begabung entzaubert, denn alle Gedichte oder Aphorismen verschiedener Autoren aus fünf Jahrhunderten waren zuerst Dedecius, KarlDedecius und später Tuwim, JulianTuwim, Herbert, ZbigniewHerbert, Lec, Stanislaw JerzyLec oder Mrożek, SławomirMrożek. Und Lec, Stanislaw JerzyLec, der war auch ein ausgezeichneter Lyrikübersetzer (Brecht, BertoltBrecht, Celan, PaulCelan, BachBachmann, Ingeborgmann), er hatte aber niemals fremde Aphorismen übersetzt, die hatte er eher imitiert. Einiges bei ihm kommt von der Ebner-Eschenbach, Marie vonEbner, von Kraus, KarlKraus oder Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg. Canetti, EliasCanetti hat dazu einen Aphorismus gemeistert. Wie dem auch sei, Ihre Unruhe ist durchaus berechtigt, und ich möchte sie Ihnen auch nicht abnehmen.
An Stefan Kaszyński, StefanKaszyński, 5. Juli 2013 Nr. 81
Immerhin war Lec, Stanislaw JerzyLec die Geburtsstunde des Dedecius, KarlDedecius. Das kann man sagen. Wie oft? Wie war das persönliche Verhältnis der beiden zueinander? Wirkt Lec, Stanislaw JerzyLec beim Wegfallen des politischen Hintergrunds, was bei ihm allerdings mehr war als nur Hintergrund – je nach Gewebe: ob fein oder grob, ob eingefädelt oder verstrickt? Was mir – in der notwendigen, aber auch zwanghaften Vergleichung – zu schaffen machte, war, dass Lec, Stanislaw JerzyLec als deutscher Klassiker galt. Man wusste, woher er kommt und wusste vieles mehr – es half nichts, denn sagte man auch „Dedecius, KarlDedecius“, meinte man doch Lec, Stanislaw JerzyLec. Also galt seine Aphoristik als deutsches Sprachkunstwerk, er wurde als deutscher Meister rezipiert. Die Aphoristik hat zweimal die Realität bezwungen, einmal kritisch, einmal sprachlich. Und gerade im Deutschen, das ganz auf die / oder auf der Abwehr des Ostens bestand. Das ist eine besondere Stunde gewesen, und diese holt auch Willy Brandt, WillyBrandt in die Geschichte des Aphorismus. Das war die Stunde des Ostens im Westen, ein Augenblick, ein Nu in nuce.
Canetti, EliasCanetti kam danach oder hinzu. Keiner, der kam, vermochte an Lec, Stanislaw JerzyLec vorbeizugehen. Sie denken, das habe mich beunruhigt, das hat es, denn ich war allerdings um ein deutsches Sprachkunstwerk bemüht und wäre beinahe gescheitert. Das wäre der Fall, wenn ich nicht bei Hanser erscheinen könnte. Und ich konnte zuerst nicht – denn – so hieß es – „wir haben den Lec, Stanislaw JerzyLec bereits“ (das galt schon als Argument). Zum Glück gab es im Verlag Christoph SchSchlotterer, Christophlotterer, der den Unterschied zu erkennen und genau auszusprechen vermochte. Lec, Stanislaw JerzyLec wäre mir um ein Haar zum Verhängnis geworden. Und so gar nicht zu Recht, denn er war ein Meister aus Polen, aber kein Meister aus Deutschland. Und dennoch korrespondieren wir so viele Jahre danach über diesen sonderbaren, doch auch erheblichen und erhebenden Fall. Das gehört zum Lohn der Literaturliebhaber.
Von Stefan Kaszyński, Stefan Kaszyński, 5. Juli 2013 Nr. 82
Ich stimme mit allem, was Sie geschrieben haben, überein, mit einer Ausnahme. Die Geburtsstunde von Dedecius, KarlDedecius war die Lyrikanthologie „Lektion der Stille“ (1957)*. Das hat er so gesehen, und Göpfert, Herbert G.Göpfert** vom Hanser Verlag hat mir das bestätigt.
* Karl Dedecius, KarlDedecius (Hg.): Lektion der Stille. Neue polnische Lyrik. München: Hanser 1959
** Herbert G. Göpfert, Herbert G.Göpfert (1907–2007), Verlagsleiter des Hanser Verlages
An Stefan Kaszyński, StefanKaszyński, 5. Juli 2013 Nr. 83
Göpfert, Herbert G.Göpfert weiß es genau, jedermann besser. Es geht nicht um die Anfänge des Begabten – das ist Lebens- und Literaturgeschichte, es geht um das fragwürdige Wesen, das behauptet wird: heute wie gestern, wenn die Zukunft sich die Erinnerung aus Jux vornimmt. Dann heißt Dedecius, KarlDedecius Lec, Stanislaw JerzyLec, heißt Lec, Stanislaw JerzyLec Dedecius, KarlDedecius. Das meinte ich mit der „Geburtsstunde“. Dedecius, KarlDedecius hatte seine Talente, Beschäftigungen, Institute und Leistungen, sie stehen alle auf einem anderen Blatt, verdienten vielleicht oder wohl Blatt um Blatt gewürdigt zu werden. Aus der Zeit heraus und vom Himmel fiel Dedecius, KarlDedecius ein Stern mit Namen „Lec, Stanislaw JerzyLec“ in den Schoß. Er hatte keine Zeit, sich zu besinnen, so war es um ihn geschehen. Korrespondierten wir in einer anderen Sprache miteinander, nichts davon bliebe handfest oder auch nur dem Gedanken nah.
An Jürgen Stenzel, JürgenStenzel, 8. Juli 2013 Nr. 84
Paul Raabe, PaulRaabe* – ich wäre gern mit Dir bei seiner Bestattung! In jeder Hinsicht und Richtung – ein weitläufiger Mensch, vielleicht auch der Geräumigste, den ich kannte. Ein Mann voller – mitunter erlesener – Gesten. Viel Äußerliches, nach Außen gekehrtes, und das sage ich fast nur, um ergänzen zu können, daß wir („irgendwie“) innerlich verbunden waren. Ich kannte ihn so ziemlich 50 Jahre. Ich habe ihm seine Fehler weder vorgerechnet noch nachgetragen, einen großen machte er unvorsichtigerweise – ganz gegen seine Gepflogenheit: Er hat seiner – ihn abgöttisch verehrenden Schwester – meine Autobiographie zur Herausgabe empfohlen. Daraus ist „Allerwegsdahin“ geworden – zum Kummer der Elisabeth.** Und nun steht Lebensgeschichte wieder auf der Tagesordnung – und Paul Raabe, PaulRaabe ist tot. Sich mit ihm, Kopf an Kopf, an Bücher und Menschen zu erinnern, das gehörte zum Schönsten.
* Paul Raabe, PaulRaabe (1927–2013), Literaturwissenschaftler und Bibliothekar
** Elisabeth Raabe, ElisabethRaabe, Literaturwissenschaftlerin und Verlegerin
An Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser, 25. Juli 2013 Nr. 85
Ein anderes Problem – aus den Tagebüchern erwachsend: Klatsch und Tratsch. Was ist deren Funktion, wie zu behandeln? Beide Probleme, die ich eben nannte, tauchen gleichzeitig im Tagebuch auf. Zwei Freundschaften, die ich gern beschreiben oder besprechen würde, sind im Tagebuch von allerlei Klatsch umrankt, die zu H. G. Adler, Hans GünterAdler* und die zu W. H. Auden, Wystan HughAuden**. Ich steige groß in die Beziehung ein, wie es meine Art ist („ist“ musst du mit „war“ übersetzen), bestrebt, schnell die größte Nähe zu erreichen, um ebenso schnell auf Abstand zu gehen. Die Kräfte werden angespannt und nach allen Richtungen ausgedehnt, die Gespräche dauern Stunden, sie werden immer anregender: Im Tagebuch nun – müde heimkehrend oder am nächsten Tag oder noch später aufgeschrieben oder eher nur festgehalten – sieht es aus wie Aufwerfen von Themen, wie Um-sich-Werfen mit Namen, hie und da eine Auskunft, ein Geständnis, ein kluges oder giftiges Wort, eine Erinnerung, alles in allem Stichworte, die ich – es sind die Jahre meines Unterwegs – selten und wenig ausführte. Hinzu kommt, dass ich damals meine Tagebücher weitgehend auf Hebräisch führte, das müsste ich nun ins Deutsche übersetzen. Das ist aufwendig, zeitraubend, mir auch sehr oft lästig, weil nur weniges daran mich freuen könnte. Auch große Dichter führen Literatengespräche, ich hielt davon wenig, doch fast alles fest. Klatsch ist eine bewährte Gedächtnisstütze, aber auch eine Erinnerungsspeise. Das würde ich gern herausbekommen, ehe ich mich meines Klatsches erbarme oder nicht. Die Namen würden das Buch beleben, die Gefahr besteht, dass solche Quasi-Gespräche stark von meinem Stil abwichen. Die genannten kämen mir insofern entgegen, weil ich sie in einen österreichischen Kontext stellen könnte, H. G. Adler, Hans GünterAdler ist Prager, spielt in meinem damaligen Leben aber auch eine ziemliche Rolle, Auden, Wystan HughAuden war in jenen Jahren (ich weiß jetzt nicht einmal, ob bis ans Ende seines Lebens) Wahl-Österreicher, er lebte nicht nur in Österreich, er bewohnte das Haus Josef Weinheber, JosefWeinhebers, über den er damals ein langes (umstrittenes) Gedicht schrieb.
* Siehe Anm. zu Brief Nr. 20
** Auden, Wystan HughAuden übersetzte EB; vgl. Das Mehr gespalten, S. 195
An Werner Helmich, WernerHelmich, 8. August 2013 Nr. 86
Denke ich an meine Zeit und Zeitgenossen, glaube ich über Lec, Stanislaw JerzyLec und Canetti, EliasCanetti schreiben zu müssen, so wenig es mir danach ist, auch interessiert es mich kaum noch. Also beginnen wir damit, wenn Sie erlauben und dazu bereit sind: Ich lege meinen