Beziehungsweisen. Elazar Benyoëtz

Beziehungsweisen - Elazar Benyoëtz


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hervor – auch er wird umstritten wachsen, weil niemand diese Lücke ausfüllen könnte. Ob aber diese Lücke lange spürbar bliebe? Der Berg von Namen, über den er mit seinem Ruhm sitzt oder steht, wird immer kleiner, am Ende bleibt vielleicht nur ein Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki-Hügel. Er war weise genug, sein Schreiben in Ton und Bild zu retten. Aber das ist nicht das, was mich bewegen wird, sobald ich über ihn schreiben kann. Er hat viel Ergreifendes an sich, was Kritiker in der Regel ja nicht haben. Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki mit seiner Passion für Literatur gehört mehr in die Geschichte als zur Literatur. Denke ich an Deutschland (nach 1950) in der Nacht, sehe ich auch das Aufgehen dieses Sterns, den ich selbst 1963 für ein Irrlicht hielt. Ich war damals in Hamburg. Halt, da falle ich in Erinnerungen zurück. Von seinem Tod habe ich aus einer hebräischen Zeitung erfahren. Er hatte für meine Arbeit kein Verständnis, aber Respekt und war derjenige, der pünktlich für Besprechungen meiner Kleinbücher sorgte; als er wegging, herrschte lange FAZ-Stille um meine Bücher. Als er seinen ersten Vortrag hier im Goethe-Institut halten sollte, ließ er mich es Wochen davor wissen, ich sollte unbedingt dabei sein. Ich hatte es als „Bangen“ verstanden.

      An Martina Kraut, MartinaKraut, 16. Oktober 2013 Nr. 90

      Heute bekam ich einen dicken, schweren Gruß aus Weinsberg (Kerner-Haus), er enthielt u.a. eine Anthologie, in der auch ein Gedicht Kerner, JustinusKerners abgedruckt ist: Grund der Sendung, die Anthologie beschäftigt mich aber – des Titels wegen, er heißt: „Die besten deutschen Gedichte. Ausgewählt und herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki.“* Ob es diesen Titel schon gegeben hat? Ich würde gern darüber schreiben, zumal ich ohnehin an Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranickis Erscheinung denken muss.

      So einfach – „die besten“, und dies, ohne Dichter zu sein. Es gab einmal einen Poeten hohen Ranges, einen durchaus kühnen Menschen, Rudolf Borchardt, RudolfBorchardt, seine Anthologie nannte er „Ewiger Vorrat deutscher Poesie“**. Auch darüber kann man streiten, dabei hätte man’s aber mit der Ewigkeit zu tun. Für einen geheuteten wie mich schwer zu denken. Titel wie Namen, die Übereinstimmung beider, beschäftigen mich. Was mich verblüffte, ging mit dem Namen des Herausgebers auf. Der Name deckt den Titel, einzig dieser Name – Marcel Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki –, der alles enthält, was wir von ihm zu sagen wissen. Die schönsten Gedichte kennt jeder, der Gedichte liest oder liebt, die besten nur Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki. Der Titel geht zwingend aus dem Namen hervor (nicht aus seinem Vorwort).

      * Marcel Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki (Hg.): Die besten deutschen Gedichte. Frankfurt: Suhrkamp 2012

      ** Rudolf Borchardt: Ewiger Vorrat deutscher Poesie. München: Verlag der Bremer Presse 1926

      Von Werner Helmich, WernerHelmich, 8. November 2013 Nr. 91

      Seit mehr als einem Monat sitze ich nun von früh bis spat an dem erzkatholischen, aber auch wohltuend verrückten kolumbianischen Aphoristiker Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila, um meine weit auseinandergehenden Leseeindrücke zu einem einigermaßen homogenen Aufsatz zu verwursten, für den mir nicht einmal ein Seitenzahllimit vorgegeben worden ist, und das ist bei Zeitschriftenaufsätzen selten.* Die Schwierigkeit ist: Manches von ihm finde ich sehr gut (und ich bin literarisch eher streng) und vieles sehr schlecht, und beides werde ich in irgendeiner Weise auch sagen und begründen müssen (wenn auch in verschiedenen Kapiteln), auch wenn mich die stark gespaltenen Forschergemeinden dann zweifach zerreißen werden – und die kolumbianische Hausmacht obendrein, für die er ein Nationalheiliger ist, obwohl er öffentlich geschrieben hat: Lo que comparto con mis compatriotas es sólo mi pasaporte (Sie werden das sicher auch ohne Übersetzung verstehen). Zwischen alle Stühle – da gehört der Kritiker hin.

      * Werner Helmich, WernerHelmich: Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila, Skandalon und monstre sacré. Ein Klärungsversuch. In: Roman. Zs. f. Literaturgeschichte 38, 2014, S. 431–482

      An Werner Helmich, WernerHelmich, 22. November 2013 Nr. 92

      Die Lesereise war zu lang und zu wenig ergiebig, ich freue mich, zur vertrauten Landschaft meines Schreibtisches zurückgekehrt zu sein, zu meinem Briefwechsel aus Holz, zu Ihrem „erzkatholischen, aber auch wohltuend verrückten kolumbianischen Aphoristiker Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila“, der immerhin schöne Blüten zu treiben scheint zwischen Graz und Jerusalem. Ich müsste rufen: Her mit ihm, mehr von ihm! Damit geizen Sie, freilich mit Grund und Rüge: „Was Sie nicht auf Spanisch lesen können, muss Ihnen spanisch bleiben“. Ich hatte einst die Fähigkeit, alle Sprachen auf Hebräisch zu lesen. Mit dem Deutschen waren auch diese Kreise gestört. Nun denke ich mit Ihnen über die Schwierigkeit nach:

      „Manches von ihm finde ich sehr gut (und ich bin literarisch eher streng) und vieles sehr schlecht, und beides werde ich in irgendeiner Weise auch sagen und begründen müssen (wenn auch in verschiedenen Kapiteln), auch wenn mich die stark gespaltenen Forschergemeinden dann zweifach zerreißen werden – und die kolumbianische Hausmacht obendrein, für die er ein Nationalheiliger ist, obwohl er öffentlich geschrieben hat: Lo que comparto con mis compatriotas es sólo mi pasaporte (Sie werden das sicher auch ohne Übersetzung verstehen).“

      Es sieht nach „heikel“ aus, und ich gestehe, versucht gewesen zu sein, Ihren Text zu analysieren (ich fragte mich z.B., warum Sie schreiben „und ich bin literarisch eher streng“). Die schlagende Antwort geben Sie dann selbst: „Zwischen alle Stühle – da gehört der Kritiker hin.“ Genauer kann man den Ort des Kritikers nicht beschreiben, er ist der Herausgeforderte, ist es schon darum, weil er mehr und viel mehr wissen muss als der Autor, den er kritisiert. Über das Zwischen-den-Stühlen als festen Ort könnte noch weiter nachgedacht werden, hingegen kaum über: „Manches von ihm finde ich sehr gut … und vieles sehr schlecht.“ Ich schaue mir den Satz an, da steht manches gegen vieles, es ist ein Erwägen, schwer genug, auch heikel, weil es scheinbar ein Urteil enthält – allein vom Erwägen bedingt. Denn sagten Sie nur das eine oder das andere, wäre es nicht der Fall, es wäre eher das Normale „manches finde ich gut“, „vieles finde ich schlecht“. Eine Situation entsteht, die gewöhnliche eines Lesers, der nicht ohne Grund hingerissen werden will. Im Buch, das er liest, findet er „manches sehr gut“, im Buch, das er liest, findet er „vieles sehr schlecht“. Über das „sehr“ könnte man streiten. Ich ließ diese Zeilen über mich ergehen. Ich kenne nach wie vor Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila nicht, ich werde mit ihm oft zusammen genannt, demnach wäre ich so gut und so schlecht wie er, scheint auch er nicht viel anderes gemacht zu haben als Aphorismen – ein Leben lang.* Kann ein „Lebenslang“ anders verlaufen, anderes zeitigen als „manches sehr gut und vieles sehr schlecht?“ Ist es eine berechtigte Frage überhaupt? (Aber sind „gut und schlecht“ überall gleich, auf alle Formen anwendbar? Wenn schlecht aber misslungen ist, könnte man nicht sagen: nicht gut, nicht recht, nicht wohl geraten? Wer müsste nicht, wenn er nur könnte, von seinem Tun und Lassen sagen? Das Lassen im Tun, das Aus- und Weglassen im Schreiben.) Sie scheint berechtigt zu sein, doch eher im Kleinen als im Großen oder Größeren. Auf einen Romanschreiber könnte dies nicht zutreffen, mit dem ersten schlechten Roman wäre er erledigt. Im Großen sieht man den Meister am Werk, im Kleinen nicht, sieht nur das „Tag-für-Tag“ und die Routine. Blitzgescheit und blitzgescheitert.

      Fein und nobel, wie man ist, erwartete man auch vom Klugen nicht, dass er täglich weise sei, dass seine Sprüche immer träfen oder umwerfend wirkten. Das sehe ich ein, so sehr ich mich dagegen wehren möchte. Es wird mir nie gelingen, ich habe hunderte, ja tausende Einsätze geschrieben, Wortfügungen in die Welt gesetzt – alles ein Gefüge, keine Fügung. Es bleibt die ärgerliche – nicht zu umgehende, nicht zu entscheidende – Frage des Niveaus. Wie ranghoch muss man sein, um darüber entscheiden zu können. Ich bilde mir ein – und falle aus dem Rahmen.

      * Einsamkeiten. Glossen und Text in einem. Ausgewählt und aus dem Spanischen übertragen von Günther Rudolf Sigl. Wien: Karolinger 1987; Auf verlorenem Posten. Neue Scholien zu einem inbegriffenen Text. Aus dem Spanischen von Michaela Meßner. Wien: Karolinger 1992; Aufzeichnungen des Besiegten. Fortgesetzte Scholien zu einem inbegriffenen Text. Wien: Karolinger 1992; Notas. Unzeitgemäße Gedanken. Berlin: Matthes und Seitz 2006; Scholien zu einem inbegriffenen Text. Wien, Leipzig: Karolinger 2006; Scholien. Ein Nachtrag. Wien, Leipzig: Karolinger 2014

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