Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur. Manuel Caballero González
ist noch, dass das ohne Titel beschriebene Frg. 426 RadtTragica AdespotaFrg. 426 Radt und das Frg. 1a KannichtTragica AdespotaFrg. 1a Kannicht / Snell / Snell der Adespota in Verbindung mit der Tragödie von Aischylos gebracht worden sind. Das Frg. 426 RadtTragica AdespotaFrg. 426 Radt besteht nur aus einem einzigen Wort, ἠριγένεια (de leaena), worüber Radt schreibt: „ad leaenam Athamanti in aula sua uisam (Ou. MetOvidMet. IV 514. 4, 514) referendum esse coniecit Welcker (Tril. 336589) coll. Adesp. frg. 1a (quod fr. Butler‘Athamanti’ Aeschyleae adscripserat)“38. Im Hinblick auf das Frg. 1a Kannicht / SnellTragica AdespotaFrg. 1a Kannicht / Snell, das aus zwei Wörten besteht, βρυαζούσης λεαίνης, sind die Meinungen über seine Zuweisung sehr unterschiedlich. Nauck schreibt genau am Anfang seiner Analyse von Aischylos’ Athamas: „huic fabulae probabiliter adesp. fr. 1 adscribitur39“. Kannicht / Snell aber modifizieren das Fragment, βρυαζούσης λέαιν’ ὥς, und stellen klar: „Aeschyli Athamas … dici uidetur’ Nck., sed e uariis poetis qui fabulas cognomines scripserunt … ap. Hesychium aequo iure alterum de Sophocleo … uel etiam Antiphanis ‘Athamantem’ … dici conicias“40; folglich füge sich dieses Fragment im zweiten Band von TrGF, in den Adespota ein. Auch Pearson glaubt, das Frg. 1a Kannicht / Snell „may just as well belong to Sophocles as to Aeschylus“41.
Die einzige sichere Stelle, wo Athamas seine Kinder und auch seine Frau als Löwen sah, ist bei Ovid (Met. IV 514–519OvidMet. IV 514–519)42 nachzulesen. Interessanterweise existiert auch ein ursprünglich faliskischer Kelchkrater43, der Learchos’ Tod durch seinen Vater Athamas, welcher ihn mit einem Löwen verwechselte, andeuten könnte. Ist es möglich, dass sich Ovid von einer nicht erhaltenen griechischen Tragödie, die das Thema auf diese Weise behandelte, inspirieren ließ? Es ist möglich, obwohl man auch an Xenokles’ Satyrspiel denken und den Inhalt dieses Fragments für bissig halten kann.
I.1 Die Perser
Dieses Werk von Aischylos wird hier der Vollständigkeit wegen kurz analysiert.
In Zusammenhang mit der Handlung der Tragödie wird der HellespontHellespont viermal erwähnt; dieses MeerMeer kam auch überaus häufig in den homerischen Gedichten vor. Der Tragiker benennt das MeerMeer aber auf andere Art und Weise als Homer: Aischylos erwähnt nur einmal das Wort Ελλήσποντον, Homer hingegen zehnmal. In drei Versen der klassischen Tragödie1 wird der Engpass oder der Durchgang von Helle (Ἕλλης πορθμόν) genannt, aber kein Adjektiv begleitet diesen Ausdruck, im Gegensatz zu Homer, der die Meeresstraße immer mit einem Adjektiv bezeichnet. Gleich zu Beginn des Werkes erwähnt Aischylos den Durchgang von Helle und er fügt ein Adjektiv hinzu, „athamantisch“: λινοδέσμῳ σχεδίᾳ πορθμὸν ἀμείψας / Ἀθαμαντίδος Ἕλλας. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Homer, der den Hellespont nie auf diese Weise bezeichnete.
Aischylos’ Tragödie ist vor allem wichtig wegen seiner zahlreichen Scholien; in der Tat beziehen sich alle Scholien, die von Athamas sprechen, auf diese Tragödie, Die Perser. Offensichtlich wird immer die I-P-H-Version behandelt, da man darin durch Phrixos’ FluchtFlucht auf dem WidderWidder und Helles SturzSturz ins Meer die Herkunft des Namens Hellespont klar herausstellen kann.
I.2 Athamas
Von dieser Tragödie ist leider nur wenig überliefert worden.
Abgesehen von dem Italiener Untersteiner, der in der Mitte des 20. Jh. forschte, ist Lucas de Dios einer der Forscher, der diese Fragmente genauer untersucht hat; der spanische Professor schlägt drei Momente für die dramatische Handlung des Werkes vor:
1 Ablieferung von Dionysos durch HermesHermes.
2 Heras Rache.
3 Tod beider Kinder, nämlich des Learchos und des Melikertes.
Diesem Forscher zufolge gilt: „Esquilo seguía la variante de hacer que la reacción colérica de HeraHera tuviera lugar inmediatamente después de la entrega de Dioniso“1. Dieselbe Reihenfolge findet sich auch bei Apollodor, weswegen Lucas de Dios folgert: „en este caso el mitógrafo seguía de cerca el relato contenido en la obra de Esquilo“2.
Die Handlung der Tragödie sollte Heras Rache beinhalten. HeraHera bestrafte Athamas und seine Frau Ino wegen der Aufnahme des Kindes Dionysos mit WahnsinnWahnsinn3. Man kann annehmen, dass Athamas und Ino in der Tragödie die Hauptrollen innehatten; vielleicht war HermesHermes auch anwesend, obwohl das nicht sicher ist, weil die Ablieferung von Dionysos nur in einer Rede berichtet werden konnte und nicht inszeniert werden sollte. Lucas de Dios schlägt einen Chor der Nereiden vor; er deutet sogar an, dass die Erinnyen, die bei Ovid und bei Nonnos eine wichtige Rolle spielen, eine gewisse Aufgabe in der Tragödie hatten4, wenngleich das nicht heißt, dass sie die Bühne betraten.
Als allgemeine Schlußfolgerung bezüglich der Behandlung des Athamas durch Aischylos muss man leider feststellen, dass der fragmentarisch erhaltene Zustand seiner Tragödie Athamas große und bedeutende Ergebnisse nicht zulässt. Es sieht danach aus, dass es sich bei dieser Tragödie um die I-L-M-Version handelte; allen Hypothesen zufolge ging es um die Aufnahme des Kindes Dionysos, Athamas’ Wahnsinn, den Tod seiner beiden Kinder (eines wurde in einen Kessel mit kochendem Wasser geworfen), Inos SprungSprung und die DivinisierungDivnisierung von Ino und Melikertes.
II. Sophokles
Dieser Tragiker vertieft sich mehr in Athamas’ Mythos als Aischylos. Man weiß, dass er zwei TragödieTragödien mit dem Titel Athamas und eine mit dem Titel PhrixosPhrixos verfasst hat. Statt nur mit einem Werk wie bei Aischylos hat man es bei Sophokles mit drei Werken zu tun, von denen zwei den Namen dieser Hauptfigur tragen.
Natürlich fragt man sich, warum zwei Werke ein und desselben Autors, nämlich des Sophokles, denselben Titel tragen: Stimmten diese Werke in der Handlung grosso modo überein oder, falls nicht, was auch folgerichtig wäre, warum haben sie dann denselben Titel? Interessant ist die Überlegung von Schmitt in ihrem berühmten Artikel Freiwilligfreiwilliger Opfertod bei Euripides1; diese Gelehrte bestätigt, dass Euripides „sich bei einzelnen Motiven nicht mit immer einmaliger Behandlung begnügte, sondern immer wieder auf sie zurückgriff, sei es nur, um die schon erprobte dramatische Wirkung wieder auszunützen, sei es, um dem Problem neue Seiten und neue künstlerische Darstellungsmöglichkeiten abzugewinnen“2. Das wichtige Motiv, auf das sich Schmitt bezieht, ist der freiwillige OpferOpfertod, aber ihre Betrachtungen lassen sich treffend auf jedes andere auf die Bühne gebrachte Motiv anwenden, und nicht nur bei Euripides, sondern auch bei jedem anderen griechischen Tragiker.
Sophokles’ Bearbeitung der SageSage von Athamas präsentiert neue, bis jetzt nie gesehene Züge. Wenn es auch gewiss ist, dass Sophokles seine Tragödien verfasste, indem er sich auf den hellenisch-mythischen Hintergrund stützt – das unterscheidet ihn von Aischylos –, stimmt es aber auch, dass Sophokles einige Varianten der Mythen erfunden hat, die von den späteren Mythographen als traditionell betrachtet werden sollten3.
II.1 Die Athamas betitelten TragödieTragödien
Radt beteuert: „duas fabulas Sophocleas‘Athamas’ inscriptas fuisse docent testes fragmentorum 1–3 et Σ VM Ar. Nub. 257“1. In Ar. Nu. 257 verwechselt Strepsiades den Kranz der Eingeweihten mit dem Kranz der am Altar zu schlachtenden OpferOpfer2; die Scholien erläutern diese Passage und führen den Mythos von Athamas an. Es scheint klar zu sein, dass, wenn die Scholien über einen zweiten Athamas reden3, es deswegen geschieht, weil Sophokles mindestens zwei Tragödien mit diesem Titel geschrieben hat. Pearson aber merkt an, „Dindorf held that ̓Αθάμας α ̓ and β ̓ were not separate plays, but different editions of the same play“4; es sieht aber nicht so aus, als könnte diese Behauptung einfach bewiesen werden5. Andererseits gibt es auch Wissenschaftler, die darauf bestehen, von Sophokles’ Athamas zu sprechen, als ob es um ein einziges Werk ginge; dies kann man z.B. den Artikeln von Fontenrose6 und López Salvá7 entnehmen.