Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq. Lena Schönwälder
fußt jedoch in der Regel auf einem realen Verstoß, auch wenn dieser erst durch Zuschreibung seitens des Skandalierers publik bzw. problematisierend zum Gegenstand des öffentlichen Interesses gemacht wird. Doch wird ein Skandal im öffentlichen Raum über die Medien ausgetragen, welche als Kommunikationsorgane entscheidend zur Gestaltung der »Geschichte« beitragen. Dabei fungieren sie quasi als impliziter Autor, der bestimmte Fakten bzw. Aspekte selektiert, hyperbolisch ausschmückt, stärker gewichtet als andere und insgesamt prägend auf die Darstellung einwirkt. Dabei kann die öffentliche Abstrafung des Skandalierten »durch Moralisierung, Verkürzung oder Negativismus« deutlich harscher ausfallen, als dies der ursprüngliche Regelverstoß tatsächlich erfordern würde.19
Dass die Medien in diesem Zusammenhang eine solche Einflussmacht haben, verweist auf die Funktion des Skandals als sogenanntes »Mediennarrativ«: »Eine multidimensionale Ereignissequenz wird auf eine spezifische Form gebracht und dabei zum einen um einzelne Elemente verkürzt, zum anderen mit Sinn angereichert.«20 In diesem Sinne lassen sich durch Skandalforschung gleichfalls die »Definitionsmacht«21 von Medien erkennen und ferner ihre »Funktionslogiken« und inneren Arbeitsmechanismen erschließen. Somit ist eine Geschichte des Skandals gleichsam eine Geschichte der Medien einerseits und der Öffentlichkeit22 andererseits, wie Bösch feststellt.23 Skandalisierungen können dabei in verschiedenen Kontexten stattfinden, besonders häufig in den Medien vertreten sind dabei Skandale im Bereich der Politik, der Religion, aber auch der Massenkultur und natürlich der Kunst24 (einschließlich der Literatur).25 Im Folgenden soll der spezifische Fall des Literaturskandals näher beleuchtet werden.
1.4.2 Literaturskandale
Der Literaturskandal ist für die vorliegende Studie natürlich von besonderem Interesse und soll nun in Anlehnung an aktuelle Forschungsliteratur näher ausdefiniert werden. Dass Literatur es vermag, Skandale zu produzieren, ist nicht schwer nachzuweisen. Nicht zuletzt die Texte, die im Folgenden besprochen werden sollen, belegen genau dies. Ladenthin geht so weit, den Konnex zwischen (moderner) Literatur und Skandal als einander bedingend zu bezeichnen:
[D]er Skandal in der alteuropäischen Vormoderne [war] ein Sündenfall der Literatur […], während er in der Moderne der Ernstfall ist. Zugespitzt kann man formulieren, dass die Literatur der Moderne schlechthin Skandal ist. Der Skandal ist notwendiges Wesensmerkmal moderner Literatur, liegt im Begriff der Moderne eingeschlossen und ist daher ein Qualitätsmerkmal moderner Literatur.1
In der Tat scheint dies insofern nachvollziehbar, als der Blick auf die Historie von Skandalisierungen in und rund um die Kunst bzw. Literatur zu belegen scheint, dass die für die Moderne charakteristischen Avantgarde-Poetiken vor allen Dingen auf Provokation, Regelbrüchen mit konventionell gewordenen Kunstzwängen und Innovation beruhen (Dada, Expressionismus, Futurismus, Surrealismus, etc.). Dass er dies historisch in der Moderne lokalisiert, hängt natürlich mit der allgemeinen Emanzipation der Kunst im 19. Jahrhundert zusammen, die ausgehend von der Romantik nunmehr ihre Autonomie von moralisch-didaktischen Zwängen behauptet.2 Eine »Regelpoetik«, wie sie noch das 17. und 18. Jahrhundert kennt, wird mitunter zum ›Stein des Anstoßes‹ für eine Kunst, die sich modern wissen will.3 Sei dies in der Romantik, im l’art pour l’art oder auch im Symbolismus und der Dekadenzliteratur: Es gilt stets, das Konventionelle zu überwinden. Damit wird die Literaturgeschichte im Prinzip auf die Opposition von »opting in« und »opting out«4 formelhaft verkürzt, d.h. also um das Leitprinzip der Anpassung einerseits und der Differenz andererseits.
Diese Differenz kann dabei unterschiedlicher Natur sein. Zunächst kann sie den Stil und die technè des literarischen Kunstbetriebs als solchen betreffen. Es werden damit Streitfragen um die Möglichkeiten und die Regeln der Kunst berührt, so z.B. kann man Flauberts Roman Madame Bovary anführen, der laut Auerbach insofern revolutionär scheinen muss, als er (und so auch die realistische Kunst im Allgemeinen) »breitere[r] und sozial tieferstehender[r] Menschengruppen zu Gegenständen problematisch-existentieller Darstellung« promoviert und damit bis dato gültige Stilgrenzen überschreitet.5 Der Skandal berührt also Normen innerhalb des literarisch-künstlerischen Felds und fällt damit in die von Friedrich etablierte Kategorie des autonomen Literaturskandals, d.h. also von Skandalen, die die Streitfrage über die Grenzen und die Natur der Kunst betreffen.6 Zu dieser Kategorie zählt er darüber hinaus auch den Autorenstreit, der nicht selten einem Geltungsbedürfnis entspringt und nicht zwangsläufig rein literarische Streitpunkte betreffen muss. Als weiteres Beispiel mag dabei sicherlich auch bereits die Querelle des Anciens et des Modernes im 17. Jahrhundert gelten, bei der die rückwärtsgewandte Poetik der französischen Klassik unter Beschuss durch die an Stoffen der Gegenwart interessierten Modernen geriet. Hier wurde auch nicht zuletzt die Literatur selbst instrumentalisiert, um die eigene Position deutlich zu machen: Stein des Anstoßes im wahrsten Sinne des Wortes war ohne Zweifel die Verlesung Charles Perraults Lehrgedichts »Le siècle de Louis le Grand« (1687). Darüber hinaus lassen sich mit Friedrich gleichfalls Werke zu dieser Kategorie rechnen, die den Skandal als Sujet thematisieren,7 so z.B. Fontanes Effi Briest oder auch ein relativ aktuelles Beispiel aus der italienischen Literatur: Persecuzione von Alessandro Piperno. Ein gesonderter Fall des autonomen Literaturskandals ist weiterhin der Autorenskandal, d.h. die »öffentliche Inszenierung von Künstlern als Skandalon«.8 Dies betrifft vor allen Dingen auch Autoren, die im Folgenden besprochen werden, so natürlich einerseits Pier Paolo Pasolini und andererseits Michel Houellebecq, die ebenfalls als Personen des öffentlichen Lebens im Mittelpunkt des Interesses stehen.9 Dass dabei die bewusste Selbstinszenierung als Skandalfigur gleichermaßen zu einer kalkulierten Marketingstrategie werden kann, ist einleuchtend.
Dem autonomen stellt Friedrich dann den heteronomen Literaturskandal gegenüber, welcher vorliegt, »wenn Normkonflikte zwischen dem literarischen Feld und anderen unterschiedlichen Feldern, seien es Religion, Politik, Wirtschaft oder Justiz, zu Skandalen führen«.10 Zu dieser Kategorie zählen also all jene Werke, die aufgrund von Verstößen gegen sittlich-moralische Normen in Verruf geraten sind. Welche Aspekte im Spezifischen dies betrifft, vermögen die Zensur, wenn nicht gar die Klageschriften der Justiz zu indizieren. Paradebeispiele für diese Form des Literaturskandals stellen dabei natürlich de Sades 120 Journées de Sodome, Lautréamonts Les Chants de Maldoror, Baudelaires Fleurs du mal, Flauberts Madame Bovary usf. dar; es handelt sich um Werke, denen entweder faktisch (also durch die Justiz) oder im öffentlichen Diskurs (in der Literaturkritik, im Zeitungswesen, öffentlichen Foren etc.) der Prozess gemacht wurde. Vornehmlich gerät die Literatur dabei mit der sittlichen Moral in Konflikt, d.h. der Skandalruf ging und geht nicht selten mit dem Vorwurf der Obszönität einher. So lässt sich Ludwig Marcuses historische Kulturgeschichte des Obszönen (Obszön. Geschichte einer Entrüstung, Erstausgabe 1962) gleichermaßen als Skandalgeschichte des Literaturbetriebs lesen. Besonders konfliktgeladen ist sicherlich auch die Konstellation von Literatur und Religion oder Politik.11 Es fällt nicht schwer, Beispiele zu nennen, die demonstrieren, wie die Literatur mit Vorstellungen und Werten religiöser Natur kollidiert. Besonders brisant ist dabei wohl der Skandal um den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie, auf den wegen seines Werkes The Satanic Verses 1989 durch den iranischen Geistlichen Ajatollah Chomeini ein Kopfgeld für dessen Tötung ausgesetzt wurde.12 Bei muslimischen Fundamentalisten geriet er wegen Gotteslästerung in Verruf; ein Verbot des vermeintlich blasphemischen Textes wurde gefordert. Jedoch zeigt – dies hebt auch Wagner-Egelhaaf hervor – der Skandal um Rushdie und die Satanic Verses gleichermaßen auf, wie die Rollen neu verteilt werden können: So wurden die Skandalierer, also die extremistischen Muslime, im Anschluss an die Affäre wiederum selbst zu Skandalisierten: Es organisierte sich das Salman Rushdie Defence Committee, welches sich öffentlich für Artikel 19 des Grundrechts, d.i. das Recht der freien Meinungsäußerung, stark machte.13 Damit wurde Rushdie zu einer Symbol- und Märtyrerfigur, deren Schicksal an die Autonomie der Literatur und eines der grundlegenden Menschenrechte gemahnt. Es wiederholt sich quasi ein bereits im 19. Jahrhundert ausgefochtener Kampf um die Unabhängigkeit der Kunst: eine Schlacht, die man sicherlich bereits gewonnen glaubte.
Beide Formen, d.h. sowohl autonome als auch heteronome Literaturskandale, lassen sich sowohl vor als auch nach der 1800-Schwelle nachweisen. Und so wie der Skandal im Allgemeinen als Normbarometer zu fungieren