Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq. Lena Schönwälder

Schockästhetik:  Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq - Lena Schönwälder


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bringen lässt. Implizit ist damit ausgedrückt, dass die Pornographie die Überwindung der ästhetischen Differenz sucht und naturge­gebene körper­liche Reaktionen aktivieren will, die nicht der Verstandeskontrolle unter­liegen. Und damit ist der basalste aller Bereiche des Menschen angesprochen: das Andere der Ratio, die Sexua­lität. Diese jedoch wird im gesamtgesellschaftlichen Zusam­men­hang nicht frei ausgelebt, sondern durch Regeln und Konventionen reguliert, die sich zu Tabus verdichten.13 Gesell­schaftliche Tabus wiederum bestimmen die Scham­grenzen, die im Falle des obszönen Zeichens überschritten werden.

      Dieser ›Übergriff‹ auf den Rezipienten gestaltet sich in Hinblick auf die Intensität auf vergleichbare Weise wie bei den anderen Grenzphänomenen des Ekels oder des Grau­sam-Erhabenen. Doch unterscheidet sich das obszöne Zeichen in seiner Substanz von z.B. dem ekelauslösenden Gegenstand. Die kritische Grenze wird beim Ekelaffekt meist erst durch Akkumulation semantisch verwandter Bedeutungsträger erreicht, während das obszöne Zeichen bereits für sich allein als Signal stehen kann. Diese Beobachtung trifft Wolf-Dieter Stempel in seinem Aufsatz »Mittelalterliche Obszönität als literarästhetisches Problem« (1968). Ob seiner Transparenz sei der betreffende Passus in ganzer Länge zitiert:

      Obszönität wird aber auch, und hierin unterscheidet sie sich merkmalhaft von den Vergleichsphänomenen [Grausamkeit, Ekel], in der Substanz fassbar. Erhält z.B. ein komplexer Akt der Grausamkeit ein einziges sprachliches Zeichen (foltern), so liegt diesem ein synthetisches Urteil zugrunde, das aus der Distanz gewonnen wird. Die verschiedenen Aspekte des Vorgangs werden verarbeitet auf einen Nenner gebracht. Maximalnenner, bei welchem die größtmögliche Distanz erreicht wird, ist grausam, eklig, obszön (er war grausam, der Anblick war ekelerregend usw.). Der erzielte Abstand bemißt sich natürlich nach dem Grad der Synthese, sowie nach der Anschaulichkeit des gewählten Ausdrucks (cf. crever les yeux im Unterschied zu blenden), doch geschehen diese Regulierungen innerhalb der jeweils gegebenen Distanzspanne. Die Vorstellung des Zuhörers oder Lesers wird dementsprechend nur schwach affiziert, die der Phantasie vermittelte Anregung zur gedanklichen Entfaltung des Vorgangs bleibt gering. Anders im Fall der Obszönität, wo das synthetische Zeichen eines entsprechenden Vorgangs Signal für eine intensivere gedankliche Detaillierung sein kann, die auf Grund eines über die Intimität verhängten Tabus je nachdem insgeheim erwünscht oder als Zumutung abgewiesen werden kann. Die kritische Anfälligkeit des synthetischen Zeichens für skabröse Inhalte erweist sich auch daran, daß es, von anderen Möglichkeiten der Kaschierung abgesehen, oft in eine Abstraktion zweiten Grades erhoben wird, indem der gewählte Ausdruck, z.B. für den Beischlaf, in einem größeren semantischen Bereich angesiedelt wird (cf. afrz. faire l’uevre ›das Werk tun‹ u.ä.) und das Gemeinte sich nur indirekt auf dem Weg über den Kontext bestimmen läßt. Diese Erscheinung, bei der der Abstand zum signifié nicht sekundär verändert, sondern überhaupt überlagert wird von einem semantischen Gefälle, ist z.B. bei der Darstellung von Grausamkeit oder Häßlichkeit kaum wahrzunehmen oder erreicht dort jedenfalls nicht die gleiche Bedeutung; sie gilt in besonderem Maße auch für die Bezeichnung von einzelnen Dingen der Intimsphäre (Körperteile, körperliche Funktionen usw.), wofür die anderen Grenzbereiche insgesamt nur wenig Analoges bieten. Daraus folgt zugleich ein wichtiger Unterschied in der semantischen Strukturierung: während z.B. bei Häßlichkeit, Ekelhaftigkeit die kritische Grenze erst quantitativ erreicht wird, ohne daß die einzelnen Bestandteile der Beschreibung (wie z.B. krumme Nase) selbst schon auf die Grenze verweisen, besitzt das obszöne Detail (z.B. con) unter gegebenen Umständen bereits einen kritischen Eigenwert; die Summierung kann also hier sozusagen im Sinne einer offenen Reihe erfolgen, dort ist sie geschlossen, bis der kritische Grad vorliegt.14

      Das obszöne Detail kann demnach einen höheren Grad der Involvierung erfordern, je nachdem wie direkt bzw. indirekt es beschaffen ist und in welchem Kontext es auftritt. Während der ekelerregende Gegenstand quasi stets nur er selbst ist und auf sich selbst verweist, kann Obszönität gleichermaßen im Uneigentlichen verborgen sein, quasi im Hinterhalt lauern. Es kann aber darüber hinaus auch in seiner schieren Präsenz wirken, ist irreduzibel, sofern es sich in seiner Isoliertheit dem Rezipienten aufdrängt.

      Obszönität ist, wie eingangs beschrieben, ein Zuschreibungsphänomen. Zwar können inhaltlich Bereiche benannt werden, die das Obszöne betrifft (Sexualität, Fäkalbereich etc.), doch muss ein obszönes Zeichen eben nicht notwendigerweise einen Gegenstand be­zeichnen, der diesen Domänen angehört. So können Körperfunktionen oder Geschlechts­organe auf völlig unanstößige Weise besprochen werden, z.B. in einer medizinischen Abhandlung. Im Umkehrschluss kann dann ein per se kaum anzüglicher Gegenstand in der Darstellung zum Stein des Anstoßes werden.15 Zutreffender wäre es also gegebenenfalls, von einem Modus der obszönen Darstellung zu sprechen, der in der konkreten Umsetzung auf unterschiedliche Weise realisiert werden kann. Und dabei ist es der Darstellung des Ekelhaften oder Grau­samen in gewisser Weise diametral entgegen gestellt: Denn während beispielsweise die zerlegende, detaillierte Schilderung einer brutalen Schlacht durch die Aneinanderreihung blutiger Einzelheiten den kritischen Punkt des Nicht-Mehr-Erträg­lichen erreichen kann, ist es möglich, dass im Falle des obszönen Zeichens die kaum variierende Wiederholung des Anrüchigen zur Entkräftung der Obszönität beiträgt.16

      In Bezug auf die »Kleinstruktur der Obszönität« macht Stempel ferner – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – aufschlussreiche Beobachtungen, die die Wirkungsweisen bzw. die Beschaffenheit des obszönen Zeichens beleuchten.17 Erstens kann es isoliert und damit durch den Zusammenhang nicht motiviert oder aber funktionalisiert als strukturgebendes Element auftreten (z.B. Decameron I, 4, wo das Erotische Grundlage für die pointierte Auflösung der Novelle ist). Überdies stellt sich zweitens die Frage nach der Aktualisierung des Zeichens, d.h.: Auf welcher Diskursebene tritt es auf? Ist es beispielsweise Teil der Rede, dann wird es als Gegenstand der Reflexion distanzierend entschärft; als Teil des récit tritt es dem Rezipienten jedoch ungleich unmittelbarer gegenüber. Auf der histoire-Ebene wiederum kann es distanzschaffend wirken, wenn sich die Geschichte in zeitlicher Distanz zu der Lebenswelt des Lesers abspielt oder aber im umgekehrten Fall deutlich nähestiftend, wenn sie in der Gegenwart des Rezi­pienten angesetzt ist. Insgesamt sind sämtliche Kunstgriffe, die den Eindruck von Präsenz und Unmittelbarkeit erwecken sollen (z.B. historisches Präsens als Tempus der unmittelbaren Vergegenwärtigung) dazu geeignet, das obszöne Zeichen in die Nähe des Rezipienten zu rücken. Und schließlich wird, wie bereits erwähnt, relevant, wie sich das Verhältnis von Beschreibung bzw. Zerlegung und zeitraffendem récit gestaltet. Drittens kann das obszöne Zeichen in der Sonderform der Metapher auftreten, welche das eigentlich Gemeinte durch Zweideutigkeit verhüllt. Auch Rosenkranz empfiehlt die Metapher als adäquate Form der Verschleierung, die das eigentlich Obszöne dem Betrachter entrückt.18 Doch kann sie paradoxerweise gerade dadurch effektsteigernd wirken, z.B. durch die plötzliche Anreicherung eines vermeintlich harmlosen Sinnes durch ein weiteres, pikantes Signifikat.19 Somit ist das obszöne Zeichen nicht einfach auf krudes, eigentliches Sprechen zu reduzieren, sondern im Gegenteil ließe sich mit Preisendanz die These aufstellen: »je größer der literarische Aufwand ist, desto mehr kann das Sexuelle im Leser zum factum brutum werden«.20

      Letztlich aber bleibt das Obszöne im Grunde diffus bzw. historisch und kulturell variabel. Die hier angestellten Ausführungen sind natürlich nicht exhaustiv, führen aber die besondere Problematik des Werturteils »obszön« vor. An dieser Stelle kann Sandra Schwab sicherlich zugestimmt werden, wenn sie schreibt: »Vielleicht ist obszön kein ontologisch zu bestimmender Wert, sondern ein ästhetisches Urteil wie gut oder hässlich, um nur zwei Beispiele zu nennen.«21

      1.2.6 Zwischenfazit

      Um sich einer Schockästhetik als rezeptionsästhetischem Phänomen zu nähern, ist es unerlässlich, die Theorie über ästhetische Erfahrung und (ästhetische) Empfindungen heranzuziehen. Für die vorliegende Untersuchung sind dabei ästhetische Grenz­erfahrungen relevant, die den Rezipienten im Kunstgenuss sowohl sinnlich als auch geistig ›überfor­dern‹. In diesem Zusammenhang ist der Diskurs über das Erhabene als Erlebnis­kategorie aufgerufen worden, der auch noch in der Gegenwartsliteratur Anwendung finden kann: Der Ekel und das Obszöne manifestieren sich als moderne Formen des Erhabenen, insofern


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