Spanische Literaturwissenschaft. Maximilian Gröne
und Gleichmäßigkeit stützende Ästhetik galten nunmehr als überholt.
Friedrich Schlegel (Gemälde von Franz Gareis, 1901)
2.2 GattungenGattungen
! Die Einteilung der literarischen Formen entspricht der wissenschaftlichen Notwendigkeit von Analyse und Klassifikation Unter den behandelten Kernanliegen von PoetikenPoetik ist noch einmal auf einen Aspekt zurückzukommen, der eine eingehende Problematisierung verdient. Der seit dem Altertum zu beobachtende Versuch, die Vielzahl der zeitgenössischen literarischen Formen nach gemeinsamen Merkmalen zu einzelnen Gruppen zu bündeln, stellte lange Zeit eines der grundlegenden Anliegen in literaturtheoretischer und literaturgeschichtlicherLiteraturgeschichte Hinsicht dar, das sich seinerseits als aufschlussreich für das Literaturverständnis zu einem bestimmten Zeitpunkt erweist. Vorrangige Aufgabe einer Einteilung in GattungenGattungen ist dabei das Bedürfnis, Texte genau nach generalisierbaren Merkmalen zu beschreiben, sie somit zu klassifizieren und in epochale und literaturgeschichtlicheLiteraturgeschichte Zusammenhänge einzuordnen.
Kriterien für eine Zuordnung können dabei sein:
Form (Vers- und StrophenformStrophe bzw. Aufbau und StrukturStruktur eines Textes [z.B. Fünfaktschema]; Länge; verwendete Stilmittel; Verwendung sog. ParatexteParatext [vgl. 12.2.1]);
StoffStoff- und MotivkreisMotiv (z.B. in Heiligenlegenden oder im Kriminalroman);
FigurenFigur (bspw. StändeklauselStändeklausel);
Redekriterium (wer spricht? der Dichter/Erzähler – die handelnden Personen – beide Parteien im Wechsel);
mediale Aspekte (gedruckter Text, mündlicher Vortrag/Inszenierung, Vertonung, Film, etc.).
GattungenGattungen als Konvention Die Definition von GattungenGattungen bleibt bei alldem eine sozio-kulturelle Konvention, die auf besondere historischen Umstände zurückgeführt werden kann, auch wenn für GattungenGattungen ein normativernormativ und überzeitlicher Anspruch erhoben wird.
Vorbildcharakter ‚klassischer‘ Werke Die normativenormativ Gattungslehre ist zumeist darauf angewiesen, sich auf eine gezielte Auswahl von Referenztexten zu stützen, die auf beispielhafte Weise als Vorbild für alle anderen, ähnlich kategorisierbaren Produktionen gelten können. Neben für besonders wichtig gehaltene Werke früherer Epochen, die zumeist für ‚klassisch‘ erachtet werden (etwa im Falle von Vergil, der im Mittelalter als alles überragender Dichter der Antike rezipiert wurde), können durchaus auch die Werke von Zeitgenossen treten, z.B. bei Aristoteles. Die von Aristoteles überlieferte GattungseinteilungGattungen gibt zugleich ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sehr die Bemühungen um eine Systematisierung dem historischen Wandel ausgesetzt sind.
Text 2.4
Aristoteles: PoetikPoetik Die EpikEpik und die tragische Dichtung, ferner die KomödieKomödie und die Dithyrambendichtung1 sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht dieselbe Weise nachahmen. (Aristoteles: 1994, 5)
1 Dithyrambendichtung antike lyrische Gattung mit musikalischer Begleitung
Nicht nur der Wegfall der letztgenannten GattungenGattungen ist zu bemerken, auch die GattungsbegriffeGattungen selbst, z.B. derjenige der EpikEpik, haben sich grundlegend verändert oder wurden nachträglich ersetzt. Das moderne Lyrikverständnis umfasst z.B. nicht mehr notwendigerweise die musikalische Darbietung wie in der Antike (siehe Einheit 4).
Aufgabe 2.6 ? Inwiefern entspricht das von Aristoteles betrachtete antike EposEpos (z.B. Homers Ilias) nicht mehr dem heute geläufigen Gattungsbegriff ‚EpikEpik‘?
Der historische Abstand zum in Text 2.4 zitierten Beispiel lässt erahnen, wie schwierig es ist, allgemeingültige GattungskategorienGattungen aufzustellen. Als besonders erfolgreich hat sich aus unserer heutigen Sicht wiederum die Einteilung der literarischen Formen in die drei Grundformen EpikEpik – DramatikDrama – LyrikLyrik, die sog. Gattungstrias, erwiesen. Sie reicht vom Ansatz her zwar auf bereits bei Aristoteles und Horaz formulierte Gedanken zurück, wurde aber erst im 18. Jh. zum poetologischenpoetologisch Gemeingut erhoben. Bedeutsam wurde in diesem Zusammenhang die Annahme, in den drei HauptgattungenGattungen spiegelten sich gleichsam Wesenszüge der menschlichen Seele, was Goethe auf die für den deutschsprachigen Raum höchst einflussreiche Formel von den „drei Naturformen der Dichtung“ brachte:
Text 2.5
Goethe: West-östlicher Diwan (1819–1827) Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: EposEpos, LyrikLyrik und DramaDrama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswerten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. (Goethe: 1978, 187f.)
‚Naturformen‘ der Dichtung Relevant an dieser Deutung ist neben der ahistorisch-wesenhaften Zuschreibung von Gattungsmerkmalen, die zugleich eine wirkungsästhetische Charakterisierung beinhalten, der Hinweis auf die Vermengung dieser Grundtendenzen im einzelnen literarischen Text. Hinzu kommt der komparatistische, auf eine Weltliteratur geweitete Blick Goethes. Noch der Schweizer Literaturwissenschaftler Emil Staiger entwarf 1946 in seinen Grundbegriffen der PoetikPoetik ein Modell, demzufolge sich jegliche Dichtung aus „Gattungsideen“ ableite, welche im Sinne von allgemeinen Stilqualitäten als ‚das LyrischeLyrik‘, ‚das Epischeepisch‘ bzw. ‚das DramatischeDrama‘ anzusehen seien.
Der Ansatz, die Literatur in ‚GattungenGattungen‘ aufzugliedern, ist nicht zuletzt ein Ergebnis der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und ihrer wissenschaftlichen Systematik des ausgehenden 19. Jh., als sich nach dem Vorbild der biologischen Erblehre das Modell des Stammbaums und der Ausdifferenzierung von Arten und GattungenGattungen etablierte.
Versucht man beispielsweise, die narrativen (erzählenden) GattungenGattungen systematisch zu erfassen, so kann zunächst einmal eine schrittweise Untergliederung nach folgendem Schema vorgenommen werden:
Ausdifferenzierung des GattungssystemsGattungssystem am Beispiel Erzählprosa
Aufgabe 2.7 ? Finden Sie anhand eines geeigneten Nachschlagewerks Untergattungen aus dem Bereich der Lyrik (z.B. Sonett).
Es bleibt allerdings festzuhalten, dass die Trennschärfe der unterschiedlichen Gattungsdefinitionen zweifelhaft ist und nie dem literarischen Formenreichtum gerecht werden kann. Der Versuch, eine global gültige Systematik zu erstellen, ist nur unter der Bedingung möglich, eine Vielzahl von Mischformen anzuerkennen (z.B. die Ballade als erzählendes Gedicht), auf welche mehrere Gattungszuschreibungen zutreffen.
GattungstraditionGattungen Zugleich werden weitere ‚HauptgattungenGattungen‘ diskutiert (die Satire wie auch der EssayEssay wurden als 4. oder 5. GattungGattungen ins Gespräch gebracht, hinzu kommen aus heutiger Perspektive etwa die Gruppen der didaktischen Texte bzw. der Gebrauchsformen), auch wenn die moderne und postmodernePostmoderne Literaturtheorie gerade den Gattungsbegriff radikal in Frage gestellt hat und durch eine weitaus weniger idealisierende und systematisierende Auffassung von Textsorten zu ersetzen sucht. Als literaturgeschichtlicheLiteraturgeschichte Kategorien besitzen die GattungenGattungen aber einen spezifischen Erkenntniswert, da sie die Kommunikation über bestimmte Textgruppen erlauben – so unzureichend diese auch sein mag – und auch historische Konventionen benennen, die bei den Literaturschaffenden, im Bereich des literarischen Marktes und