Spanische Literaturwissenschaft. Maximilian Gröne
Petrarcas verfasste, eine neue Dichtungsauffassung an und problematisiert dabei insbesondere die Rolle von Sprache als UniversalmediumMedium (vgl. StrophenStrophe 2 und 3). Text 1.2 und Text 1.4 haben eines gemeinsam: die Sprache steht im Mittelpunkt und verweist gleichsam auf sich selbst. Das Gedicht von Komposition und StrukturStruktur Bécquer ist in hohem Maße durchkomponiert bzw. strukturiertStruktur. Zunächst durch die Verse, die den Text rhythmisieren (hier im Wechsel von Zehn- und Zwölfsilblern, span. decasílabo und dodecasílabo), dann durch die StrophenStrophe (drei Quartette, span. cuartetos), schließlich durch den ReimReim, einen assonantischen ReimReim in den geradzahligen Versen (zur lyrischen Form siehe Einheit 4.4). Weiter fallen Besonderheiten in der sprachlich-stilistischen Gestaltung auf. So begegnen wir Metaphern wie „la noche del alma“ für die Stimmung des lyrischen Ichs oder Parallelismen wie in Vers 8 („suspiros y risas, colores y notas“). Weiterhin fällt in Vers 10 („¡oh hermosa!“) eine Anrufung (Apostrophe, span. apóstrofe) ins Auge, die die Geliebte des lyrischen Ichs als Adressatin des Gedichts zu Erkennen gibt. Allen diesen Eigenheiten ist Sprache gemeinsam, dass der Text eine eigentümliche, von der ‚Normalsprache‘ abweichende Sprache verwendet, die sich nicht darauf beschränkt, den Inhalt des Textes darzustellen, sondern auch eine gewisse Aufmerksamkeit auf die Art und Weise dieser Darstellung lenkt. Diese Eigenschaft von Texten bezeichnet PoetizitätPoetizität man üblicherweise mit dem Begriff PoetizitätPoetizität (poeticidad, f.).
Abweichung Das Moment der Abweichung als Kennzeichen literarischer Texte ist durchaus naheliegend. Es begegnet uns in der verbreiteten Vorstellung,Deviationsstilistik im FormalismusFormalismus ‚Literatur‘ sei im Gegensatz zu alltäglicher Sprachverwendung eine Form stilistisch anspruchsvollen, ‚guten‘ Schreibens – insgesamt gesehen zumindest, wobei es freilich auch ‚minderwertige‘ Literatur gibt, die diesen Anspruch zwar nicht FormalismusFormalismus (‚Formale Schule‘): zwischen 1914 und 1930 in Moskau und Leningrad tätige Gruppe von Sprach- und Literaturwissenschaftlern einlöst, aber dennoch an ihm gemessen werden kann und wird. Auch Literaturwissenschaftler haben auf diesen Gesichtspunkt abgehoben, am nachhaltigsten die russischen FormalistenFormalismus. Für sie war es die wesentliche Aufgabe von Literatur, ästhetische Wahrnehmung zu ermöglichen und zu schulen, den Leser ein ‚neues Sehen‘ zu lehren. Voraussetzung dafür war, die gewohnten, ‚automatisierten‘ Wahrnehmungsmuster mit gezielter Verfremdung und Erschwerung der Form zu durchbrechen. Unter weitgehender Absehung vom Inhalt verstanden die FormalistenFormalismus literarische Texte als Summe der ‚Verfahren‘, d.h. (verfremdender) Bearbeitungen des sprachlichen Ausdrucks (was Klang, Bildlichkeit, RhythmusRhythmus, Reim ebenso einschließt wie Metaphorik, Satzbau und Erzähltechniken). Dahinter steckt der Gedanke, dass man ein MediumMedium – also hier Sprache, aber die Theorie galt auch etwa für die bildende Kunst und ihre Wahrnehmung – ‚spürbar‘ macht, wenn man von der Ökonomie des praktischen Gebrauchs abweicht, also etwa Sprache nicht so verwendet, wie sie im Alltag benutzt wird, sondern anders, neu – wie dies Bécquers und de Torres Gedichte tun. Innovation und Abweichung wird so zum entscheidenden Wesensmerkmal ‚poetischerpoetisch‘ Sprache und damit der Literatur.
Problematik der ‚Abweichung‘ Wissen wir nun, was Literatur kennzeichnet? Das Kriterium der Abweichung und Innovation besitzt den bereits erwähnten Vorteil, literarische Texte mit einem formalen Anspruch zu assoziieren, und entspricht zudem einer Menge insbesondere lyrischer Texte; indes hat es Schwächen, die nicht übersehen werden dürfen. Wenn nämlich die Formalisten die innovative Überbietung gewohnter sprachlicher Muster – und das heißt: der jeweils vorhergehenden, etablierten literarischen Verfahren – als Wesen und Auftrag der Literatur bestimmen, dann wird deutlich, dass wir erst dann entscheiden können, ob ein Text ‚literarisch‘ ist, wenn wir wissen, ob und worin er sich von vorhergehenden literarischen Texten unterscheidet, deren Literarizität wir dann wiederum erst in Abgrenzung zur Tradition vor ihnen zu bestimmen haben und so weiter – man kommt so, streng genommen, an kein Ende. Zieht man stattdessen die ‚Alltagssprache‘ als Vergleichsfolie heran, so wird das Sprachempfinden des jeweiligen Lesers der Gegenwart zum ausschlaggebenden Kriterium. Im Falle Borges’, dessen Texte in relativer zeitlicher Nähe zu uns stehen, mag die dadurch bedingte Verzerrung noch gering sein, bei sehr alten Texten zeigt sich rasch, dass der Leser der Gegenwart sehr viel schwerer zu entscheiden vermag, ob ein Text von der damaligen ‚Normalsprache‘ abweicht, also ‚poetisch‘ ist oder nicht (wie z.B. im Fall von Text 1.1) – ganz zu schweigen von anderen Variablen einer jeden Sprache, in der Terminologie der Linguistik etwa diatopische (d.h. regionale), diastratische (sozial-schichtenspezifische) oder diaphasische (anlassabhängige) Varietäten, die es schwer machen, eine ‚Norm‘ und damit die ‚poetischepoetisch‘ Abweichung festzustellen. Und selbst wenn es ginge, macht einerseits manche Abweichung noch keine Literatur (Dialekte beispielsweise), andererseits gibt es auch Literatur, die keine wesentliche sprachliche Verfremdung erkennen lässt, wie zum Beispiel Text 1.7.
‚Imaginatives‘ Schreiben: FiktionalitätFiktionalität Wer diese Texte liest, wird bei hinreichender Kenntnis des Spanischen zunächst kaum jenen sprachlichen oder formalen Widerstand spüren, die unser erster Ansatzpunkt auf der Suche nach Literarizität gewesen war. Wenn wir Text 1.3 und 1.1 miteinander vergleichen, stellen wir fest, dass die Texte sich inhaltlich beide mit Literatur befassen. Der Text 1.3 untersucht das Verhältnis von Literatur und Realität, während Text 1.1 von der Beziehung zwischen Leser und Text handelt. Der Beginn von Text 1.1 deutet aufgrund der entfernt an MärchenMärchen erinnernden Erzählweise allerdings gleich darauf hin, dass es den besagten Hidalgo (Kleinadligen) in der Realität nicht gibt, wohl aber die angesprochenen Werke, die er gelesen hat. Auch wenn der fiktive Hidalgo selbst nicht zwischen der Realität und der FiktionFiktion der Romane, die er gelesen hat, unterscheidet, ist dieser Gegensatz doch nicht unerheblich: Auch Text 1.6 handelt von realen Büchern, verzichtet aber als journalistischer Text darüber hinaus auf alles, was seine Glaubwürdigkeit als zweifelhaft erscheinen lassen könnte, wohingegen wir mit Text 1.1 spontan eine erfundene – und damit literarische – Geschichte assoziieren. Dies ergibt sich aus dem ritterromantypischen Titel und Textanfang sowie aus der Tatsache, dass der Erzähler seine Geschichte als ‚cuentoCuento‘, also als literarische GattungGattungen, ankündigt. Der Text von Cervantes ist im strengen Sinne ‚unwahr‘, erfunden, wie dies für viele andere literarische Texte gilt und von Cervantes im Text selbst auch problematisiert wird („[…] aunque por conjeturas verosímiles se deja entender que se llamaba Quejana. Pero esto importa poco a nuestro cuentoCuento; basta que en la narración dél no se salga un punto de la verdad“). Ihr Kennzeichen ist somit FiktionalitätFiktionalität.
Definition FiktionalitätFiktionalität (ficcionalidad, Adj. fiktional, ficcional) bezeichnet die Darstellungsweise eines Textes, der seinen Inhalt als nicht real existierend präsentiert bzw. seinen Gegenstand erst im Sprechakt (z.B. der Erzählung) selbst schafft. FiktionalitätFiktionalität kennzeichnet den Status einer Aussage.
Fiktivität (fictividad, Adj. fiktiv, fictivo, ficticio) bezeichnet die Existenzweise von erfundenen, nicht in der Wirklichkeit existierenden Gegenständen. Fiktivität kennzeichnet den Status des Ausgesagten.
Fiktivität und FiktionalitätFiktionalität nicht immer deckungsgleich Cervantes Text ist fiktional, da die von ihm erzählte Welt nicht unabhängig von ihm existiert, er ist aber nicht fiktiv, denn den Text gibt es schließlich in unserer Realität. Die Hauptfigur, Don Quijote, hingegen ist fiktiv, wenngleich der Erzähler vorgibt, er habe tatsächlich gelebt. Diese Unterscheidung ist wichtig, da zwar die meisten fiktionalenFiktion Texte auch ausschließlich fiktive FigurenFigur darstellen, aber eben doch nicht alle: Historische RomaneRoman etwa lassen – teilweise oder durchgehend – realgeschichtliche, also nicht-fiktive Personen auftreten, erzeugen aber die erzählte Welt mehrheitlich selbst, sei es in Gestalt nicht verbürgter Handlungsdetails, sei es durch psychologische Innenansichten einer historischen Person, sie sind also fiktionalFiktion. Umgekehrt ist nicht jeder Text, in dem fiktive Personen eine Rolle spielen, deswegen gleich fiktionalFiktion – eine literaturwissenschaftliche Studie wie z.B. Text 1.6 etwa versteht sich natürlich als Sachtext, d.h. als nicht-fiktionaler, referenziellerreferenziell Text (texto referencial), auch wenn in ihr fiktive FigurenFigur eine wichtige Rolle spielen. Ein mögliches