Spanische Literaturwissenschaft. Maximilian Gröne
Kategorie Nun ist es nicht immer so einfach, FiktionalitätFiktionalität festzustellen. Meist ist die Entscheidung nicht textintern, sondern allenfalls unter Rückgriff auf textexternes Wissen über die historische Wirklichkeit oder zumindest auf die oben bereits erwähnten ParatexteParatext wie die klärende Angabe „RomanRoman“ auf dem Titelblatt zu treffen. Mitunter kann sich der FiktionalitätsstatusFiktion eines Textes sogar ändern: Die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments etwa war über lange Zeit für den abendländischen Kulturkreis zweifellos ein nicht-fiktionaler Sachtext, sogar die ‚Wahrheit‘ schlechthin, heute hingegen wird er auch als FiktionFiktion gelesen und wohl von der Mehrheit der Leser jedenfalls als nicht im wörtlichen Sinne ‚wahr‘ verstanden. (Zugleich zeigt dieses Beispiel, dass die Entscheidung über FiktionalitätFiktionalität oder ReferenzialitätReferenzialität, so schwierig sie sein mag, mitunter alles andere als ‚egal‘ ist.)
Lassen Sie uns jetzt noch einmal einen Blick auf Text 1.2 werfen, den wir mit dem Kriterium der ‚Abweichung‘ gekennzeichnet hatten. Formal ist der Text von einem alltagssprachlichen Gebrauch extrem weit entfernt. Darüber hinaus drängt sich uns als Leser die Frage auf: „Was wird mit diesem Text eigentlich bezweckt?“ Während etwa Julio Cortázars Text sich mühelos als Abhandlung über die Beziehung von Literatur und Realität zu erkennen gibt, hat Text 1.2, von einem gewissen provokativen Effekt einmal abgesehen, zunächst keinen EntpragmatisierungEntpragmatisierung ersichtlichen Zweck. Er ist ‚entpragmatisiertEntpragmatisierung‘.
Die Bestimmung von Literatur als Summe derjenigen Texte, die unmittelbaren pragmatischen, also Sach- und Handlungskontexten enthoben sind, stimmt in der Tat gut mit dem gewöhnlichen Verständnis von Literatur überein. Im Gegensatz zu einem Reiseführer über Barcelona würde wohl niemand die KriminalromaneRoman von Manuel Vásquez Montalbán, die Serie Carvalho, heranziehen, um sich über diese Stadt zu informieren (wenngleich das durchaus denkbar wäre). Allerdings bedeutet dieser Ansatz, dass wir Funktionale statt essenzialistischer Kriterien nicht mehr Merkmale am Text selbst angeben können, die ihn als literarisch kennzeichnen, sondern wir uns vielmehr auf etwas außerhalb seiner, nämlich den Gebrauchskontext, berufen, in dem er steht: Wir wechseln von essenzialistischen, also das Wesen eines Textes betreffenden, zu funktionalen Kriterien und erkaufen uns relative Trennschärfe um den Preis, nicht mehr am Text als solchem die Literarizität festzumachen.
Ready-madesReady-made Ein besonders eindrückliches Beispiel für die letzte Feststellung sind sog. Ready-madesReady-made (span. objeto encontrado oder confeccionado). Wie der Begriff bereits andeutet, handelt es sich hierbei um vorgefertigte bzw. vorgefundene Gegenstände, die – überarbeitet oder nicht, neu kombiniert oder völlig unverändert – aus dem praktischen in einen künstlerischen Kontext ‚verpflanzt‘ werden. Konjunktur hatte dieses Prinzip besonders zur Zeit der künstlerischen Avantgarden von 1910 bis 1930, aber es besteht beispielsweise als Objektkunst bis in die Gegenwart fort. Eines der berühmtesten Ready-madesReady-made der Kunstgeschichte, Fountain, zeigt ein Urinal, das, sieht man einmal von der möglicherweise notwendigen Demontage ab, ohne erkennbare materielle Veränderung durch den Künstler Marcel Duchamp zur Skulptur umgewandelt wurde. Es ist klar, dass mit Erreichen einer Kunstauffassung, die diese Art von künstlerischem Schaffen ermöglicht, die Vorstellung von im Kunstwerk inhärenten Wesensmerkmalen überholt wird, und das gilt für alle Kunstformen, auch die Literatur, die natürlich das Ready-madeReady-made ebenfalls kennt. Die für Duchamps Fountain offensichtlich besonders zentrale Frage ist: Durch welche Faktoren (außer der Position des Urinals und dem Verzicht auf Anschlüsse, die einen ‚pragmatischen‘ Umgang wenig sinnvoll erscheinen lassen) wird eine ‚ästhetische‘ Aufnahme von Artefakten ausgelöst?
Abb. 1.3
Marcel Duchamp: Fountain (1917)
Aufgabe 1.2 ? Unterbrechen Sie für einen Moment die Lektüre und beantworten Sie für sich die zuletzt gestellte Frage in Bezug auf Literatur.
Auslösende Faktoren ‚ästhetischer‘ Aufnahme Die erste und augenscheinlich banalste Antwort lautet, dass Texte als Literatur rezipiert werden, wenn die jeweilige Umgebung sie als solche kennzeichnet; so macht beispielsweise der Buchdeckel, auf dem „Roman“ steht, den Unterschied, oder auch der mündliche Vortrag bei einer Lesung in einer Buchhandlung, die Aufführung in einem Theater usw. Es gibt also bestimmte mediale Medialer und institutioneller Kontext und institutionelle Kontexte, die gemäß einer (meist unausgesprochenen) kulturellen Vereinbarung Entpragmatisierung und ästhetischen Umgang signalisieren. Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Instanz des Urhebers, des ‚Autor-FunktionAutor-Funktion‘ (Michel Foucault) AutorsAutor, für die Kategorisierung eines Textes. Mit ‚AutorAutor‘ meinen wir üblicherweise dasjenige Individuum, das einen Text geschrieben hat, aber auf diesen objektiven Zusammenhang beschränkt sich der Begriff nicht, wie der Philosoph Michel Foucault (1926–1984) in seinem berühmten Aufsatz „Was ist ein AutorAutor?“ von 1969 ausführt. Ihm geht es in kritischer Absicht darum zu zeigen, wie der ‚AutorAutor‘ zur abstrakten Instanz mit grundlegender Bedeutung für die Beurteilung eines Textes wird. So ist es für einen Text nicht ohne Belang, ob er, sagen wir: Cervantes, Borges oder einem anonymen AutorAutor zugeschrieben wird, selbst wenn sich der Text ‚objektiv‘ dadurch nicht ändert. Denn er ordnet sich damit in ein (typischerweise stimmiges oder in seiner Entwicklung erklärbares) Gesamtwerk ein, das einem vernunftbegabten und spezifisch motivierten Individuum entspringt. Der ‚AutorAutor‘ ist nicht nur diese reale Person, sondern ein Konstrukt der Leserschaft, das auf einen Text bezogen wird, seine Einordnung, Gruppierung und InterpretationInterpretation ermöglicht und die Komplexität und Widersprüchlichkeit des Textsinns vereinfacht (was Foucault die „Verknappung des Diskurses“, d.h. der Menge des Sagbaren, nennt). Diese ‚Autor-FunktionAutor-Funktion‘ als wesentlicher Bestandteil literarischer Texte ist ein Phänomen der Neuzeit – im Mittelalter waren literarische Texte ohne Autorzuschreibung gültig (man fragte nicht nach dem Individuum, das einen Text verfasst hatte), im Unterschied zu anderen Textsorten, etwa medizinischen Traktaten, die sich zumindest auf eine (meist antike) Autorität berufen mussten, um als gültig anerkannt zu werden. Für unsere Fragestellung lässt sich diesen Überlegungen entnehmen, dass zum ‚literarischen Werk‘ wird, was von einem ‚AutorAutor‘ kommt – und nicht nur umgekehrt jemand zum AutorAutor wird, weil er ein literarisches Werk geschrieben hat. Ein banaler Text, ein kurzer handschriftlicher Tagebucheintrag etwa oder ein Brief, wie Sie und ich ihn verfasst haben könnten, kann literarische Weihen erhalten, wenn man feststellt, dass er von García Lorca stammt; er wird dann ediert, eventuell von Literaturwissenschaftlern kommentiert und so fort. Selbst wenn wir nicht biographisch ausgerichtet arbeiten, sondern beispielsweise textimmanent an literarische Texte herangehen, so bleibt der AutorAutor – nicht die reale Person, sondern das Konstrukt, die ‚Funktion‘ – unter Umständen für die Frage entscheidend, was überhaupt unser Gegenstand ist.
Abb. 1.4
Jesse Bransford: Head (Michel Foucault)
Aufgabe 1.3 ? Lesen Sie nun folgenden Text von Wolfgang Iser und versuchen Sie ein weiteres Kriterium für die Literarizität von Texten anzuführen.
Text 1.8
Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte (1971) […] Wir aktualisieren den Text über die Lektüre. Offensichtlich aber muss der Text einen Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten gewähren, denn er ist zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Lesern immer ein wenig anders verstanden worden […].
Wie ist das Verhältnis von Text und Leser beschreibbar zu machen? Die Lösung soll in drei Schritten versucht werden. […] In einem dritten Schritt müssen wir das seit dem 18. Jahrhundert beobachtbare Anwachsen der Unbestimmtheitsgrade in literarischen Texten zu klären versuchen. Unterstellt man, dass Unbestimmtheit eine elementare Wirkungsbedingung verkörpert, so fragt es sich, was ihre Expansion – vor allem in modernerer Literatur besagt. Sie verändert ohne Zweifel das Verhältnis von Text und Leser. Je mehr die Texte an Determiniertheit verlieren, desto stärker ist der Leser in den Mitvollzug ihrer möglichen