Grenze als Erfahrung und Diskurs. Группа авторов
die Dauer des Exils, dann „Wird der Zaun der Gewalt zermorschen / Der an der Grenze aufgerichtet ist / Gegen die Gerechtigkeit“.3
Gegen die Tyrannei der Grenze, die den Ausgestoßenen von Land und Leuten abtrennt, stemmt sich das Briefeschreiben, das im Exil eine Hochkonjunktur erfährt. Brecht selber ist unermüdlicher Briefeschreiber, dessen Briefe in der Regel mit einer Bitte um schnelle Rückmeldung enden. Im Gedicht Zufluchtsstätte, das sein Haus am Skovsbostrand beschreibt, heißt es: „Die Post kommt zweimal hin / Wo die Briefe willkommen wären“.4 Auf über 2000 Seiten erschließen Hermann Haarmann und Christoph Hesse in Briefe an Bertolt Brecht im Exil, 1933–1949 die Korrespondenzflut, die in den Exiljahren auf Brecht zukam und insgesamt etwa 1600 Briefe betrug.5 Durch die häufig undurchsichtige Lage im Exil, die sich auf der Flucht ständig ändernden Postadressen, Störungen im internationalen Postverkehr und die daraus resultierende Drohung der Unzustellbarkeit von Briefen gewinnt das Briefeschreiben im Exil an Bedeutung. Briefe sind außerdem handfest, mitunter sogar intim, in der Handschrift des Senders und gedanklich auf den Empfänger hin verfasst. Somit wohnt Briefen nicht selten eine stellvertretende Kraft inne: Im Briefwechsel sind Schreiber und Empfänger präsent. Bei seiner Ankunft im finnischen Helsinki Anfang Mai 1940 erwarten Brecht zwei Briefe seines Freundes Hans Tombrock, wofür Brecht sich umgehend bedankt und gleichzeitig den hohen Stellenwert des freien Briefverkehrs betont, den er kausal zwingend als gefährdet sieht:
Lieber Tombrock,
besten Dank für die Briefe und Fotos. Deine Briefe waren die ersten und einzigen, die wir hier erhielten, und das gab ihnen etwas Festliches. Ich fürchte, etwas, was bei der ‚Neuordnung Europas‘ abgeschafft werden wird, ist die Post. Ohne ihre Abschaffung bleiben alle Versuche, die Kultur endgültig zu beseitigen, nur halbe Maßnahmen.6
Solange die Möglichkeit zur Korrespondenz besteht, bleiben auch die Grenzen der Barbarei porös, denn im schriftlichen Austausch tauscht sich die Kultur selbst aus. Die „ganz mittelalterlichen Schranken“ zeigen sich somit nicht zuletzt in der modernen Postüberwachung, die mit der europäischen Machtausdehnung des Dritten Reiches einhergeht: die Dichte seiner Außengrenzen manifestiert sich im Abreißen des Briefverkehrs bis hin zur vollständigen Briefstille.
V. Grenzwässer
In Ein Zeitalter wird besichtigt schildert Heinrich Mann rückblickend seine Reise per Zug von Frankfurt am Main nach „Straßburg, geschrieben Strasbourg“,1 mit der sein eigentliches Exil beginnt. Die Reise hätte unscheinbarer nicht sein können, mit Regenschirm, in Begleitung seiner Ehefrau und mit den Gepäckstücken im Netz, doch von der Rheinüberquerung ins benachbarte Frankreich geht erhebliche Symbolkraft aus: „So sieht, will es scheinen, der Rubikon aus. Hinter dem verhängnisvollen Fluß, den ich wähle, liegt das Exil“.2 Der Rhein ist ein Grenzfluss, wie der Rubikon, den Cäsar auf dem Feldzug nach Rom überquerte und von dem es kein Zurück mehr geben sollte: „alea iacta est“.
Während für Mann die Verbannung permanent ist – „Wer Emigrant ist, muß Emigrant bleiben“3 –, betrachtet Brecht das Exil als Provisorium, ein Strohdach, das dem Flüchtling nur kurzzeitig eine Bleibe sein soll. Doch auch ihn trennt das Wasser von der Heimat, der dänische Øresund, dem er in den Exilgedichten große Bedeutung beimisst. Seine Grenze ist eine Wassergrenze, seine Exilstätte ein Haus am Strand einer Insel, wie er auch in seiner Korrespondenz immer wieder erwähnt. So schreibt er 1934 an den Maler George Grosz: „Seit einigen Monaten haust Dein Freund in einem strohgedeckten, länglichen Hause auf einer Insel mit einem alten Radiokasten. Wie so manchen andern hat auch ihn der Zorn des Volkes hinweggespült.“4 Von der braunen Flut vertrieben, bietet ihm der Sund sowohl Schutz vor als auch Nähe zu den Feinden daheim. „Auf, betritt das Schiff“, so lädt er Grosz ein, „Nirgends sitzest Du näher an Deiner Heimat!“5 Das umringende, trennend-verbindende Wasser wird zur tragenden Metapher exilischen Seins, und die Exilinsel bietet dem „Gestrandeten“ Schutz.6 Nun gilt es zu lernen, auch von den Schicksalsgenossen; Schiffbrüchigen, die das Exil auf die Insel verschlagen hat. So auch im Gedicht Bericht über einen Gescheiterten, das schildert, wie der Havarie des Exils Lehrreiches abzugewinnen sei:
Als der Gescheiterte unsere Insel betrat
Kam er wie einer, der sein Ziel erreicht hat
[…]
Aus den Erfahrungen seines Schiffbruchs
Lehrte er uns das Segeln. Selbst Mut
Brachte er uns bei. Von den stürmischen Gewässern
Sprach er mit großer Achtung, wohl
Da sie einen Mann wie ihn besiegt hatten. Freilich
Hatten sie dabei viel von ihren Tricks verraten. Diese
Kenntnis würde aus uns, seinen Schülern
Bessere Männer machen.7
Die Insel erweist sich somit als Ort des Lernens, dessen erkenntniserweiternde Lage von der Nähe zur Grenze bestimmt wird. Wenn nicht sichtbar, so ist sie doch hörbar und stellt eine auditive Verbindung zum Terrorregime in der Heimat her. „Ach, die Stille der Stunde täuscht uns nicht!“ heißt es in Über die Bezeichnung Emigranten. „Wir hören die Schreie / Aus ihren Lagern bis hierher“.8 Der Lernende weiß, dass die idyllische Ruhe trügt und sich über den Wässern eine Klanglandschaft des bevorstehenden Krieges ausbreitet: Gedanken über die Dauer des Exils verleiht dieser Klangbühne besonders bildhaft Ausdruck:
Über das gekräuselte Sundwasser
Läuft ein kleines Boot mit geflicktem Segel.
In das Gezwitscher der Stare
Mischt sich der ferne Donner
Der manövrierenden Schiffsgeschütze
Des Dritten Reiches.9
Brecht entflieht den „Schlachtflotten des Anstreichers“10 auf dem Seeweg, über blaue Grenzen hinweg von Dänemark über Schweden und Finnland nach Russland, währenddessen er zurückblickend – wie der Engel der Geschichte seines Freundes Walter Benjamin – die Opfer des Dritten Reiches verzeichnet: „Flüchtend vom sinkenden Schiff, besteigend ein sinkendes – / noch ist in Sicht kein neues –, notiere ich / Auf einen kleinen Zettel die Namen derer / die nicht mehr um mich sind“.11 Unter den Gegangenen ist auch Benjamin, dessen Todesnachricht Brecht kurz zuvor erreicht hatte und dessen Resignation die existenzgefährdende Bedrohung der Grenze betont: „An der unübertretbaren Grenze / Müde der Verfolgung, legte er sich nieder / Nicht mehr aus dem Schlaf erwachte er“.12
VI. Laotses Grenzgang
Brechts wohl bedeutendste literarische Auseinandersetzung mit dem Motiv des Grenzübertritts ins Exil ist die knappe, auf dreizehn Strophen belaufende Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration.1 Brecht hatte bereits 1920 den taoistischen Philosophen kennengelernt, „und der stimmt mit mir so sehr überein, daß er immerfort staunt“.2 Fast zwanzig Jahre später und nun seit über fünf Jahren im dänischen Exil widmet er dem pazifistischen Lehrmeister ein Gedicht, dessen unmittelbarer Gegenwartsbezug hervorsticht, das aber gleichzeitig die Verbannung im „wieder einmal“ als transhistorisches Schicksal darstellt: der Siebzigjährige sieht sich gezwungen, seine Heimat zu verlassen, „Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich / Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu“.3 Das Brecht’sche Exilgebot „Habe nichts“ spiegelt sich in Laotses Grenzgang wider, dessen „Pfeife, die er immer abends rauchte“ stilisierend den Bezug zur eigenen Flucht ins Exil herstellt. Auch hier erweist sich die Grenzüberquerung als Schwellenereignis, das den Grenzgänger herausfordert und ihn zur Stellungnahme auffordert.
Den Dialog mit der Grenze ermöglicht der Zöllner, dessen Aufgabe es ist, in Erfahrung zu bringen, ob „Kostbarkeiten zu verzollen“sind.4 Die Weisheit des Alten, wenn auch kostbar, lässt sich nicht ohne weiteres verdinglichen, doch die Frage des Zöllners gebietet eine Antwort, und so steigt Laotse von seinem Ochsen und erstellt in sieben Tagen, zusammen mit seinem Knaben, die einundachtzig Sprüche, aus