Grenze als Erfahrung und Diskurs. Группа авторов
Herzogin Pavic spurlos über Bord. Die Bedrohlichkeit der See wird bildlich veranschaulicht:
Einmal, als sie die Augen öffnete, hatte das Meer die Finsternis durchbrochen, von der es gebannt gehalten war. Eine graue Schlange, krümmte es sich um sie her und wollte sie ersticken.8
Wie Heinrich Mann in der Autobiografie ruft die Herzogin während der Überfahrt das Vergangene zurück und zieht die Bilanz ihrer politischen Aktivitäten:
‚Wo die Sonne aufgeht, liegt das Land, das ich verlassen habe. […]‘9
‚Gestern abend beim Einsteigen habe ich noch gelacht. […] Ich weiß nicht einmal, ob ich Feste gab, um eine Revolution anzuzetteln, oder ob ich durch Verschwörung und Umsturz meine Geselligkeit beleben wollte. […]‘10
„Über Schönheit und Stärke ein Reich der Freiheit aufzurichten: welch ein Traum!“11
Die Überfahrt glückt schließlich:
In der Dunkelheit begegneten sie heimkehrenden Fischerbooten. Und endlich landeten sie.
„[…] in die Stadt dürfen wir uns nicht getrauen.“
„Warum nicht?“ meinte sie.
„Hoheit, wir sind politische Flüchtlinge.“
Sie standen ratlos am Strande. […]
Sie wanderten an einer Dorfmauer hin; es war ein Passionsweg darauf gemalt.12
Die Erwähnung des Passionswegs kann hier ähnlich interpretiert werden wie die Dornen in der Schilderung der Überquerung des Berges in der Autobiografie.
Die Flucht übers Meer und der symbolistische Schluss der Roman-Trilogie Die Göttinnen sind sinnhaft miteinander verknüpft. Das Sterben der Herzogin wird unterlegt von einem Bild, mit dem der Maler Jakobus ihren Tod antizipiert und künstlerisch stilisiert, eindeutig eine Anspielung auf Arnold Böcklins Gemälde Die Toteninsel:
Und in der weißen Helle, sah die Herzogin in das plötzlich entschleierte Bild ihrer letzten Verwandlung.
Sie stand im hohen Kahn auf dem Nebelmeer, die Brust flach unter dem fahl gleißenden Panzer, schwarzes Haar am Rande des Helmes, der matt herausschien aus Wolken, und die müde, blasse Hand auf den Schwertknauf gestreckt. Sie war die Jungfrau, die, von allen Gewalten des heißen Lebens verwüstet, im Glanze einer anderen, unangreifbaren Reinheit von dannen fuhr.
Ihr Maler hatte mehr gemalt als ihr Sein und ihr Vergehen. Aus diesem weißen Gesicht, das kühl erhoben über das Leben hinwegsah, grüßten im Verscheiden die großen Träume von Jahrhunderten.13
Die Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod spielt auch in der 1905 entstandenen Novelle Heldin aus der Sammlung Stürmische Morgen eine zentrale Rolle. Der Text greift wie viele andere Werke des Schriftstellers den kulturellen Gegensatz zwischen nördlich-germanischem und südlich-romanischem Temperament auf. Die Handlung spielt in einer Stadt an einem See in Italien, der unmittelbar die Grenze zum Norden bildet. Der Ort bleibt ungenannt und ist daher als typologische Stilisierung, als Sinnbild der Grenze zu verstehen. Es wird auf die Nähe des Sees zur anderen Seite verwiesen:
„Sehen Sie, Fräulein Lina, am Ende dieser engen, wimmelnden Gasse den Turm, den stillen grauen Wachtturm am Hafen? Seit tausend Jahren steht er dort: hinter sich die Stadt, vor sich den See in seinen blauen Luftschleiern, worin der Umriß des Gebirges sich verstrickt, aus denen sonst, wie aus der Ewigkeit, Feinde auftauchten, und in die sie, abgeschlagen, zurücksanken. Wie viele Geschlechter haben dem alten Wachtturm ihr Heil verdankt. […]“14
Die Novelle unterlegt eine tragisch endende Dreiecksgeschichte zwischen den einheimischen Mädchen Grete und Lina, die unterschiedliche Frauentypen verkörpern, und dem deutschen Studenten Roland. Am Schluss steht der Selbstmord der sensiblen Lina. Der Handlungsort ist von seiner Grenznähe geprägt, „Lastträger, Zolleute, Schiffer“ bestimmen das Stadtbild, „die Finanzwache zerrte einen Schmuggler aus seiner Kajüte hervor“.15 Das hier im Zusammenhang mit der Grenze angesprochene Gebirge weist motivische Ähnlichkeiten zu den Pyrenäen in Ein Zeitalter wird besichtigt auf. Auch ein Gewässer, hier der See, stellt eine Grenze dar. Die Kulisse des Ortes, seine Grenznähe ist in der Komposition nicht zufällig:
Der Scheinwerfer, der die Ufer des Sees nach Schmugglern durchsuchte, schoß von Zeit zu Zeit sein grellweißes Licht durch den Garten. Einmal verweilte es auf Lina; und sie legte die Augen in die Hand und fühlte ihr Gesicht noch heißer werden.
[…]
Wie sie sich geborgen fühlte in der dunklen Flut, unter dem dunklen Himmel.
[…]
Da machte der Strahl des Scheinwerfers eine jähe Wendung und traf grell die Badehütte.16
Das Licht enthüllt ein Stelldichein von Grete und Roland, was auslösendes Moment für Linas Freitod wird.
Ein wesentliches Thema in Heinrich Manns Werk ist die Frage der Grenzüberschreitung im Hinblick auf soziale Klassen und Normen. Cheng Hui-Chun überträgt Lotmanns Raummodell und seinen Grenzbegriff auf den Aufsteigerroman Im Schlaraffenland von 1900:
Im Sinne von Lotmans Raummodell bei der Erzählanalyse wird Andreas Zumsee durch seinen unkonventionellen Charakter zu einer „bewegten Figur“ in dieser sujethaften Erzählung, welche klassifikatorische Barrieren leicht überschreiten kann. Er ist Grenzgänger zwischen der „feinen Gesellschaft“ des Romans und seiner eigenen sozialen Situation. Andreas Zumsee ändert seinen Stand – zuerst infolge der Regie von Köpf und danach auf Anweisung von anderen Schlaraffianern – und steigt von einem besitzlosen Studenten zu einem Mitglied des Schlaraffenlands auf.17
In Professor Unrat (1904) finden sich einige explizite Erwähnungen des Begriffs Grenze, die das Exzessive des Romans als „Grenzübertritte“ in mehrfacher Bedeutung signalisieren:
Da ging Unrat unter in der schwindelnden Panik des Tyrannen, der den Pöbel im Palast und alles verloren sieht. In diesem Augenblick war ihm jede Gewalttat recht, er kannte kaum noch Grenzen.18
Aber er konnte sie [die Schüler] nicht zwingen, schön zu finden, was nach seinem Ermessen und Gebot schön war. Hier war vielleicht die letzte Zuflucht ihrer Widersetzlichkeit. Unrats despotischer Trieb stieß hier auf die äußerste Grenze menschlicher Beugungsfähigkeit … Er ertrug es kaum.19
Die Furcht vor ihrem Treiben [der Schüler] ließ ihm allmählich das Äußerste tunlich und alle zwischen den Menschen gesetzten Grenzen überschreitbar erscheinen.20
Die Frage nach der Überschreitung der „Grenzen des moralisch Zulässigen“ steht im Zentrum einer Gerichtsverhandlung.21
In dem Roman Ein ernstes Leben von 1932, der in Teilen auf die Biografie seiner Freundin und späteren Frau Nelly Kröger zurückgreift, schwingt die soziale Mobilität und der Wunsch nach dem Ausbruch aus bescheidenen Verhältnissen mit; ebenso impliziert die Kriminalhandlung die Überschreitung von sozialen Normen. Der oben skizzierte Bedeutungskontext des Meeres als Grenze lässt sich hier mit der Bedeutung der Grenze im Hinblick auf soziale Klassen und Normen in Beziehung setzen. Die Hauptfigur Marie wächst unter einfachsten Verhältnissen in einem Ort an der Ostsee auf, das Meer symbolisiert in dem Roman Begrenzung, Bedrohung durch die Flut (das Elternhaus wird zerstört) und zugleich den Wunsch nach Flucht und Ausbruch aus den Verhältnissen. Als Marie durch ein wohlhabendes Haus, in dem sie arbeiten soll, geführt wird, heißt es: „Dort aber hing eine Erdkarte, mit allen Meeren – einzig ihretwegen blieb Marie stehen. ‚Was machen Sie denn?‘ fragte Lissie ausnahmsweise verwundert. ‚Ich zeige Ihnen eine ganz große Klasse nach der andern, und hier kieken Sie!‘“22 Der sinnbildliche Charakter dieser Stelle ergibt sich in der Romanhandlung daraus, dass Maries Freund Mingo auf See ist, um vor Strafverfolgung zu fliehen. Als Marie das Haus endgültig verlässt, denkt sie: „Ich gehe noch einmal in das Pingpongzimmer, zu der Karte mit den Weltmeeren.“23 Der Roman zeigt die verschiedenen Bedeutungen des Meeres als Grenze auf: es kann Begrenzung, Bedrohung und zugleich Flucht- und Rettungsweg sein.
Auch wenn der Roman auf Nelly Krögers Herkommen aus einem