Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher

Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule - Doris Kocher


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werden, zu, so dass es schwer fällt, den Überblick zu bewahren. Ewige Kritiker und selbst ernannte Reformer publizieren ohne Unterlass, erneuern die alten Buchtitel oder veranlassen Nachdrucke von früheren Exemplaren, ohne sich immer bewusst darüber zu sein, dass sich manches verändert hat und vieles bereits gut läuft. Aber eben nicht alles, und es bleiben zweifellos noch einige gravierende Dinge zu überdenken und den neuen Gegebenheiten anzupassen.

      Andererseits ist Kritik am Schulwesen keine Neuerscheinung, denn seit der Antike stellt man sich die Frage, was, wie und weshalb gelernt bzw. gelehrt werden soll.1 Obwohl Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland heute gut (und im internationalen Vergleich sogar überdurchschnittlich gut) verdienen (Kluge 2003, 187; Pommerin-Götze 2005, 153), möchte seltsamerweise kaum jemand mit ihnen tauschen. Fairerweise sollte man sich deshalb selbstkritisch die folgenden Fragen stellen: Werfen wir nicht allzu schnell der Schule Versagen vor statt der Gesellschaft (oder gar uns selbst)? Sind Lehrerinnen und Lehrer nicht oft willkommene Sündenböcke für Fehlentscheidungen bzw. fehlende Entscheidungen und mangelnde Unterstützung von Seiten der Eltern, der Politik und der Gesellschaft?

      Richard Münchmeier, Berliner Sozialpädagoge, resümiert in einem Interview bezüglich Ausländerfeindlichkeit, dass viele Probleme, die wir an der Jugend studieren, Probleme unserer Gesellschaft sind: „Politische Bildung allein wird das Problem nicht lösen. Was wir brauchen, sind Lehrstellen und Arbeitsplätze – oder zumindest Perspektiven, die dahin führen“ (Pieper 2000, 38). Joachim Bauer, Arzt und Psychotherapeut an der Universitätsklinik Freiburg, vertritt eine ähnliche Meinung: „Die Probleme, die sich in der Schule zeigen, haben nicht nur mit der Schule selbst zu tun. Wir lassen Kinder heute in einem Land aufwachsen, das – so erleben es jedenfalls viele Jugendliche – außer Geldverdienen, Geldausgeben und Medienkonsum kaum noch sinnstiftende Tätigkeiten oder Lebensziele kennt“.2

      Die Schulkritik macht selbstverständlich auch vor dem Fremdsprachenunterricht nicht Halt, und bereits im Jahr 1882 forderte Viëtor, dass der Sprachunterricht umkehren müsse (Viëtor 1984). Beim Lesen von Viëtors Streitschrift stellt man mit Erstaunen fest, dass manche seiner Kritikpunkte auch heute noch genauso aktuell sind und im Rahmen von fachdidaktischen Publikationen oder Fachtagungen noch immer diskutiert werden.

      Über Schule muss also mit Sicherheit nachgedacht werden, aber mehr kritisch-konstruktiv statt emotional-destruktiv, denn unser Bildungssystem hat einige Schwächen, das wissen wir nicht erst seit PISA3. Und: Trotz diverser Reformbemühungen (z.B. Gemeinschaftsschulen, Ganztagsschulen usw.) sollten Hatties (2009) Befunde aus der deutschen und internationalen Schulforschung im Blick bleiben: „Unterrichtsmerkmale sind für Schulleistungen deutlich erklärungsmächtiger als Schulmerkmale“ (Köller 2012, 72).

      1.3 Wer hat, dem wird gegeben: Bildungs- und Lebenschancen

      Gute Bildung darf etwas kosten (Klippert 2010, 292)

      Egal, wie man zu Vorgehensweise und Aussagen der diversen OECD-Studien stehen mag, das wirklich Gute an den PISA-Studien ist, dass sie – nach dem ersten Schock – sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Fachkreisen eine breite Diskussion über unsere Bildungseinrichtungen angestoßen und geradezu ein „publizistisches Trommelfeuer“ (Kluge 2003, 74) entfacht haben:1

      Als im Dezember 2001 die für Deutschland unerfreulichen Ergebnisse der OECD-Studie PISA zeigten, dass es nicht nur um die Erziehung, sondern auch um die Bildung in Deutschland schlecht bestellt sei, wurde das Diskussionsfeld erweitert. Die neue deutsche Bildungskatastrophe erregte die Gemüter der Bevölkerung. In den Ursachenzuschreibungen, die nach dem ‚PISA-Schock‘ auf vielen Ebenen eingesetzt haben, geraten neben der unzureichenden Bildungspolitik und unzulänglicher individueller schulischer Förderung auch schwierige familiäre und soziale Hintergründe der Kinder sowie mangelnde Erziehungskompetenzen der Eltern ins Blickfeld der Diskussionen (Tschöpe-Scheffler 2007, 11).

      Nach der schmerzhaften Feststellung im Jahr 2000, dass Deutschland im internationalen Vergleich von 32 Ländern nur auf Rang 20 bzw. 21 gelandet war, somit zu den „Verlierern im globalen Bildungswettbewerb“ (Kluge 2003, 74f.) zählte und insbesondere in Lesekompetenz, Naturwissenschaften und Mathematik schlecht abgeschnitten hatte, dazu offensichtlich auch die meisten „Bildungsverlierer“ (Ebd., 75) unter den Industriestaaten hervorbringt, stellte sich alsbald der Nutzen der öffentlichen Blamage durch PISA 2000 ein: Wettbewerb. Dieser hat bewirkt, dass zwischenzeitlich zahlreiche Ressourcen sowohl in finanzieller als auch immaterieller Form freigelegt und umgesetzt wurden, so dass Deutschland bei PISA 2006 besser abschnitt und dieser Trend offenbar anhält. Das ist erfreulich – aber noch nicht genug! Studiert man nämlich den nationalen Bildungsbericht 2008, der offenlegt, dass im Jahr 2006 zwar fast 15 Milliarden Euro mehr für Bildung ausgegeben wurden, jedoch der „Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt rückläufig ist“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Hrsg. 2008, 18; nachfolgend: ABB)2 und im internationalen Vergleich sogar unter dem OECD-Durchschnitt liegt, dann wird klar: Es muss noch mehr investiert werden, sowohl in konzeptioneller als auch finanzieller Art.

      Dass sich Investitionen lohnen, wurde mittlerweile erkannt, denn durch diverse Sonderprogramme „sind die Bildungsausgaben überproportional gestiegen“ (ABB, Hrsg. 2012, 6). Im Jahr 2010 wurden insgesamt 172,3 Milliarden Euro für Bildung ausgegeben: „der Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nahm – bei einem um 3,9 gestiegenen BIP – von 6,9 auf 7 % zu“ (Ebd.). Ob das Bildungsbudget in den letzten Jahren tatsächlich stark gestiegen ist, lässt sich schwer einschätzen, denn auch im 5. Bildungsbericht wurde für 2012 zwar eine „weitere Steigerung der Bildungsausgaben“ dokumentiert, allerdings (erneut) mit dem Hinweis: „aber Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) leicht rückläufig“ (ABB, Hrsg. 2014, 5).

      Die PISA-Befunde aus den Jahren 2000 (PISA, Hrsg. 2001), 2003 (PISA, Hrsg. 2004) und auch 2006 (PISA, Hrsg. 2007), auf die ich im Einzelnen nicht näher eingehen kann, bestätigten im Grunde genommen das, was schon durch zahlreiche frühere Untersuchungen3 in Deutschland belegt und beklagt worden ist, nämlich einen großen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft bzw. Bildungsnähe des Elternhauses und schulischer Leistungsfähigkeit der Kinder. Sie zeigten deutlich, „dass das deutsche Schulwesen in besonderer Weise sozial selektiv wirkt und somit nicht nur die Begabungsreserven einer Gesellschaft nur unzureichend ausgeschöpft werden, sondern zudem soziale Ungerechtigkeit produziert wird“ (Frederking u.a. 2005, 7). Diese Feststellung war im Prinzip nichts Neues, doch „PISA machte die Misere zum Medienereignis“ (Kluge 2003, 74) und zeigte die Wirkung eines mittleren Erdbebens.4

      Oft wurde in diesem Zusammenhang kritisiert, dass die multikulturelle Randgruppe für den Gesichtsverlust Deutschlands verantwortlich sei. Allerdings handelt es sich in diesem Fall um eine sehr verengte Sichtweise: „Das deutsche PISA-Leistungsdefizit ist sicherlich zu einem Teil ein Migrantenproblem. Aber es sind weniger der Migrantenstatus als solcher, sondern eher die verwendete Sprache und die Sprachkompetenz, welche sich auf die Leistungen auswirken“ (Sacher 2005, 49).5 Eine schlechte sprachliche und kommunikative Kompetenz wirkt sich natürlich auch auf die Leistungen in den Sachfächern aus, wo vermehrt divergentes Denken oder Problemlösestrategien zum Einsatz kommen, denn jedes Lernen und jede Wissenskonstruktion ist bekanntlich (auch) sprachbasiert.

      Verleugnet werden darf hier jedoch nicht, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund auf Grund der äußerst schlechten Leseleistungen auch im Jahr 2003 (PISA II) als „Risikogruppe“ (Pommerin-Götze 2005, 144) eingestuft wurden, was nicht nur deren Bildungschancen, sondern auch deren Ausbildungs- und Berufschancen verringert und auch hinsichtlich einer Integration in die Gesellschaft nicht förderlich ist (PISA, Hrsg. 2004, 265). Dies wird auch im Bildungsbericht 2008 bestätigt: „Migrationshintergrund führt in allen Stufen des Bildungssystems zu Benachteiligungen“ (ABB, Hrsg. 2008, 17). Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund erhalten seltener eine Empfehlung für Realschule oder Gymnasium, und „gelangen sie auf höhere Schulen, haben sie größere Schwierigkeiten, sich dort zu halten“ (Stein/Stummbaum 2011, 207). Sie besuchen nicht nur seltener ein Gymnasium oder eine Hochschule, sondern verlassen auch doppelt so häufig die Schule, „ohne zumindest den Hauptschulabschluss zu erreichen“ (ABB, Hrsg. 2008, 17). Während die Bildungsbeteiligung in Deutschland kontinuierlich gestiegen ist, stagniert sie bei Personen mit Migrationshintergrund (Stein/Stummbaum 2011, 207).

      Auch


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