Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher
des Kollegiums oder der Schulleitung häufig nicht die gewünschte Unterstützung erhalten.14 Nicht verwunderlich ist somit, dass der Lehrerberuf zu der Berufsgruppe mit den meisten Frühpensionierungen gehört (Ebd., 129; Unterbrink u.a. 2007).
In einer groß angelegten Studie15 hat der renommierte Freiburger Arzt und Burnoutforscher Joachim Bauer zusammen mit der Universitätsklinik Freiburg, der TU Dresden, dem Regierungspräsidium Freiburg sowie dem Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien und Sonderschulen) Freiburg das Ausmaß der Gesundheitsgefährdung von 949 Lehrerinnen und Lehrern an 10 Gymnasien und 79 Hauptschulen im Raum Freiburg untersucht (Bauer, J. 2007; Unterbrink u.a. 2007): 21,6% der befragten Lehrkräfte weisen eine deutlich ausgeprägte “imbalance of effort and reward“ auf (Unterbrink u.a. 2007, 433), wobei Lehrkräfte an Hauptschulen stärker betroffen sind als jene an Gymnasien (Ebd.) und man davon ausgeht, dass die Dunkelziffer noch höher ist.16 Im Vergleich mit anderen nationalen und internationalen Studien weisen die hier befragten Lehrerinnen und Lehrer offenbar relativ hohe Werte auf: “In an overall perspective, our sample seems to be more affected by burnout compared to previous investigations with teachers. With respect to Germany, the situation of teachers may have worsened in recent years“ (Ebd., 439).
Als Ursachen werden im Rahmen der Freiburger Untersuchung – auch unter Rückgriff auf andere Studien – an erster Stelle die allgemeine Arbeitsbelastung bzw. Arbeitsüberforderung, zu große Klassen und zunehmende Verhaltensauffälligkeiten der Schülerschaft genannt (Unterbrink u.a. 2007). Andererseits existieren auf der Ebene der Lehrkräfte nicht selten Selbstrestriktionen und inadäquate Idealvorstellungen von „gutem“ Unterricht, die auch ein effizientes Lernen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler erschweren: „Die bedeutsamste [Selbstrestriktion, Anm. D.K.] liegt in der Macht der Tradition: Bestimmte Unterrichtsformen, gewohnte Interaktionsformen usw. werden ungern verändert“ (von Saldern 2007, 46). Becker (2004) zählt in diesem Zusammenhang drei Komponenten auf, die (zum Teil seit Comenius) als geheime Leitbilder für „richtigen“ bzw. „idealen“ Unterricht gelten:
die Vorlage eines perfekten, im Voraus exakt geplanten Drehbuchs (Skript), das minutiös abgearbeitet wird;
die Bewegung der gesamten Lerngruppe im Gleichschritt, welche spätestens am Stundenende am gleichen Ausgangspunkt anzukommen hat;
die Kontrolle der Lehrkraft über alle und alles, damit sich alle Beteiligten an das Drehbuch halten.
Laut Becker (2004, 12) lösen Unterschiede der Lernenden „vermutlich ständige unbewusste Ängste aus, man werde das sorgfältig entworfene Drehbuch nicht einhalten können“. Diese Ängste wiederum, die auf Lehrerseite häufig zu Stress und Erschöpfung führen und auf Schülerseite Frustrationen und Unterrichtsstörungen hervorrufen können, liegen jedoch nicht zwangsläufig in der heterogenen Lerngruppe selbst begründet, sondern in der eigenen Vorstellung von gutem (Fremdsprachen-)Unterricht: “Some teachers say that they find teaching classes of mixed ability one of their main problems. But maybe the problem is in thinking of ‘mixed ability’ classes as a problem rather than as something natural in any group of individuals“ (Moon 2000, 26).
Tillmann und Wischer (2006) verweisen auf diverse Befunde aus der empirischen Bildungsforschung, die belegen, dass erfolgreicher Unterricht in heterogenen Lerngruppen sehr stark von der fachlichen und methodischen Kompetenz der Lehrkräfte und dem Einsatz von binnendifferenzierenden Maßnahmen abhängt – eine Erkenntnis, die nach Binsenwahrheit klingt, wäre da nicht der Zusatz: „Zugleich entsteht aber auch der Eindruck, dass ein solcher Unterricht im deutschen Schulsystem nicht allzu häufig stattfindet“ (Ebd., 47).17 Schaut man dagegen über die Grenzen, dann erfährt man, dass Länder wie Schweden, Norwegen, Finnland, Japan, England oder Kanada auch in der Sekundarstufe ein integriertes Schulsystem haben und Lernende in der Regel mindestens bis Ende der 9. Klasse gemeinsam unterrichtet werden (Tillmann 2004, 9). Die Schulen in Großbritannien und Skandinavien, wo Partner- und Gruppenarbeit, aber auch Teamarbeit der Lehrkräfte selbstverständlich ist, sind also wirklich heterogen, „da die Lehrerinnen und Lehrer kein Kind auf andere niedrigere Schulformen verweisen können“ (Ratzki 2007, 75).18
Anzumerken ist, dass in skandinavischen Ländern Noten meist erst ab Klasse 7 oder 8 erteilt werden und keine Funktion hinsichtlich einer möglichen Selektion haben. Im deutschen Schulsystem dagegen beginnt der Leistungsdruck mit dem ersten Schultag! Hier liegt offensichtlich eines der zentralen Probleme: „Die individuelle Förderung eines Kindes und gleichzeitig die Orientierung an Gleichheitsgeboten sind im Kern unvereinbar“ (Bräu 2005, 141). Lehrkräfte stehen somit ständig unter dem Zwang, eine Balance zwischen Gleichheit und Differenz zu finden, was auch für den Fremdsprachenunterricht fatale Folgen nach sich zieht: Schülerinnen und Schüler sitzen den Großteil des Vormittags in Omnibus- oder Kinoreihen im Klassenzimmer und sollen sich möglichst ruhig verhalten, um den Unterrichtsablauf nicht zu stören, obwohl gerade Bewegung und Kommunikation das kognitive und soziale Lernen, den Stressabbau und die Konzentrationsfähigkeit fördern und Unterrichtsstörungen vermeiden könnten.19 Portioniert und zerstückelt wird im 45-Minuten-Rhythmus per Frontalunterricht das Schulbuch durchgeackert, in „Stillarbeit“ bzw. Einzelarbeit erledigen alle die gleichen Aufgaben, die anschließend in der Klasse gemeinsam besprochen werden. Alle lernen dieselben vom Lehrwerk vorgegebenen Vokabeln und schreiben Grammatikregeln oft ohne Einsicht von der Tafel ab. Schließlich werden diese über Klassenarbeiten, die von den Schulbuchverlagen bundesweit als Kopiervorlagen angeboten werden, abgeprüft.
Das hier skizzierte Szenario – in der fachdidaktischen Diskussion unzählige Male dargestellt und moniert, so dass hier keine weiteren Details erforderlich scheinen – mag vielleicht überspitzt klingen, doch aus der Perspektive vieler Schülerinnen und Schüler läuft der Alltag genau so ab.20 Dass diese Art von Unterricht wenig motiviert und wenig lernförderlich ist, stattdessen zu vielseitigen, nicht fachbezogenen Aktivitäten verführt (die wiederum als Störungen empfunden werden), liegt auf der Hand. Die oben holzschnittartig beschriebenen Eindrücke zur Unterrichtswirklichkeit decken sich übrigens weitgehend mit den Ergebnissen aus der bislang ersten DESI-Studie, die hier nur reduziert wiedergegeben werden kann: Eine Lehrkraft spricht im Englischunterricht „im Durchschnitt doppelt so viel (...) wie alle Schüler zusammen“ (Klieme 2006, 6), wobei die Videoaufzeichnungen aus 105 Klassen belegen, dass Selbsteinschätzung der Lehrkräfte und Unterrichtsrealität zu Ungunsten der Lernenden eklatant auseinanderklaffen: Lehrkräfte schätzen ihr Sprechzeit auf 51,47% ein, laut Videodokumentation beträgt sie jedoch 68,34% (DESI 2006, 48). Schülerinnen und Schüler haben laut Klieme (2006) kaum Zeit, sich auf Fragen eine Antwort zu überlegen, bevor sie von der Lehrkraft sozusagen „abgewürgt“ werden: Nach 3 Sekunden Wartezeit intervenieren 40 % der Lehrkräfte auf die eine oder andere Art, nur 11 % können warten (DESI 2006, 50). Als Medium dient an erster Stelle das Lehrwerk (96 %) und als Arbeitsform wird in erster Linie Frontalunterricht praktiziert, der gelegentlich durch Kleingruppenarbeit21 belebt wird, wohingegen „Lehr-Lern-Szenarien wie Freiarbeit, Stationenlernen und Projektlernen schon deutlich seltener vorkommen“ (Helmke u.a. 2008a, 372): bei vielen Lehrkräften nämlich überhaupt nie. Des Weiteren werden Lernende „so gut wie gar nicht (...) an der inhaltlichen Gestaltung des Englischunterrichts beteiligt und erfahren kaum Wahlmöglichkeiten, weder bei den Hausaufgaben noch in anderen Bereichen, in denen dies prinzipiell möglich wäre“ (Ebd., 380). Differenzierende Maßnahmen werden zwar laut DESI-Studie gelegentlich durchgeführt, aber selten als tatsächliche Herausforderung für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler konzipiert, sondern weitgehend durch zusätzliche Aufgaben im Sinne eines zeitlichen Puffers realisiert, bis alle sozusagen wieder zusammengeführt werden können. Somit verwundert es also nicht, „dass nach Expertenschätzungen im deutschsprachigen Raum bis zu 50 Prozent aller Hochbegabten unentdeckt bleiben“ (Solzbacher 2007, 78).
Was die Testsituation anbelangt, ist abzusehen, dass sich diese in Zukunft noch verschärfen wird, denn die DESI-Studie war quasi der Vorläufer für zukünftige Kompetenzüberprüfungen – auch auf internationaler Ebene. Für das weitere Vorgehen beabsichtigt man, noch differenziertere „Kompetenzmodelle“ (Klieme 2006, 1) zu entwickeln, die dann entsprechend abgeprüft werden. Wie sich das auf die Unterrichtsgestaltung auswirkt, wird sich zeigen: Teaching to the test? Oder: Learning for life?
Traurig, aber nicht wirklich