Argumentation. Kati Hannken-Illjes
ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass sie Argumentation aus einer logischen Perspektive betrachtet: also als Produkt und damit entsituiert.
Alternativen zu dieser Sicht kommen aus verschiedenen Richtungen: der Pragma-Dialektik der Amsterdamer Schule (siehe Kapitel 3.6), dem Modell der DialogtypenDialogtypen bei Walton (siehe Kapitel 3.1) und der Informellen Logik bei Tindale. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie die FehlschlüssigkeitFehlschlüssigkeit nicht im entsituierten Argument, sondern im Ablauf der Argumentation lokalisieren: FehlschlüssigkeitFehlschlüssigkeit ist hier immer an den DialogDialog gebunden.
Die Analyse von Fehlschlüssen ist ein zentraler Gegenstand der Informellen Logik. Tindale (2013) führt die Fehlschlüsse unter der Überschrift „schlechtes Begründen“ ein (S. 109). Wenn dieses Thema auch in anderen Ansätzen wieder auftauchen wird (Perelmans ArgumentationsschemataArgumentationsschema, Toulmins Schlussregeln, der Regelbruch in der Pragma-Dialektik), so soll doch hier die eingehende Auseinandersetzung mit den Trugschlüssen stattfinden.
Der englische Begriff „fallacy“ wird im Deutschen oft als TrugschlussTrugschluss übersetzt, im „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“ bei Löhner (1996) auch als FallazieFallazie. Löhner unterscheidet dann zwischen dem FehlschlussFehlschluss als ungültiger Form eines Arguments und dem TrugschlussTrugschluss als bewusstem Einsatz eines FehlschlussesFehlschluss. Der TrugschlussTrugschluss beinhaltet damit auch eine ethische Dimension. Diese sollte aber nicht mit der Diskussion und Analyse von bestimmten Schlussschemata verwoben, sondern von ihr getrennt werden. Im Folgenden wird daher ausschließlich von Fehlschlüssen im Sinne ungültiger Argumente die Rede sein.
Es bestehen verschiedene Kataloge zu den vielfältigen Fehlschlüssen, die sich unterscheiden lassen. Zugleich gibt es aber einige Fehlschlüsse, die grundlegend sind. Dazu zählen Fehlschlüsse in Bezug auf die RelevanzRelevanz und Fehlschlüsse in Bezug auf die Person. Diese sollen im Folgenden eingeführt und erläutert werden. Es handelt sich dann um Fehlschlüssigkeit, die sich über das Argument (aus einer Produktperspektive) bestimmt, nicht über Argumentation als dialogischem und dialektischem Verfahren (aus einer Prozedurperspektive).
Ignoratio elenchi
Die ignoratio elenchi ist ein FehlschlussFehlschluss, bei dem die RelevanzRelevanz der Argumentation für die StreitfrageStreitfrage und den Kontext nicht gegeben ist. Einer der wichtigsten Fehlschlüsse ist hier die Verschiebung der StreitfrageStreitfrage (red herring). Die Verschiebung der Streitfrage geschieht gerade in AlltagsargumentationAlltagsargumentation sehr häufig. Oft ist auch gar nicht klar bestimmbar, was die eigentliche Streitfrage ist.
JUROR 6: Der Fall liegt eigentlich klar, ich war eigentlich … ja, ich war vom ersten Tag an überzeugt, daß –
JUROR 3: Sie waren nicht der einzige! Der Fall ist nun wirklich bis in die letzte Einzelheit aufgeklärt. Die haben sich so viel Mühe gegeben, es uns zu beweisen. Wieder und wieder. Ja, soll ich am Ende gescheiter sein als die studierten Richter.
JUROR 8: Niemand verlangt es von Ihnen.
JUROR 10: Ja, was wollen Sie dann noch?
JUROR 8: Ich möchte nur darüber sprechen.
Juror 3 verweist darauf, dass die Staatsanwaltschaft sich Mühe gegeben hat, die Schuld zu beweisen, und fragt dann, ob er denn gescheiter sein solle als all die studierten Richter. Diese Frage – sind Laien besser in der Lage ein Urteil zu fällen als professionelle Juristen – ist aber im Rahmen der Frage „Ist der Junge schuldig oder nicht?“ irrelevant, zumindest wird sie von Juror 8 als irrelevant markiert: „Niemand verlangt es von Ihnen“ und Juror 3 hakt an dieser Stelle nicht nach. (Der Frage, ob die Äußerung von Juror 3 in jedem Fall als ignoratio elenchi verstanden werden muss, widmet sich der Abschnitt zur StatuslehreStatuslehre Kapitel 4.3.4.)
Eine der ignoratio elenchi verwandte Form ist das Strohmann-Argument: Eine Position, die niemand vorher eingenommen hat, wird widerlegt, um so die eigene Position als verteidigt erklären zu können. In dem Beispiel findet sich ein solches Argument nicht. Vorstellbar wäre aber, dass ein Geschworener Juror 8 entgegnet: Sie wollen also, dass alle straffälligen Jugendlichen mit Sozialarbeit beglückt werden und nicht bestraft werden. Aber dann werden wir irgendwann eine Generation verantwortungsloser, verwahrloster junger Männer haben. Juror 10 wäre jemand, der eine solche Ansicht äußern könnte. Hier würde er eine Position von Juror 8 konstruieren, die dieser gar nicht einnimmt, um dann gegen sie zu argumentieren und Recht zu haben.
Non sequitur
Das non sequitur bezieht sich auf die innere RelevanzRelevanzbeziehung zwischen den einzelnen Aussagen. Die Frage ist: Folgt aus den Aussagen die Konklusion? Es gibt verschiedene Formen der Fehlschlüsse, die in den Bereich des non sequitur gehören. Immer basieren sie darauf, dass plausible Aussagen „falsch“ miteinander verknüpft werden. Ein solcher FehlschlussFehlschluss ist der der kausalen Verknüpfung post hoc ergo propter hoc. In diesem FehlschlussFehlschluss wird angenommen, dass das, was zeitlich aufeinander folgt, auch kausal verknüpft ist.
JUROR 6: Ich weiß nicht … vorhin war ich ganz sicher, ich frage mich bloß … das Motiv ist schließlich die Hauptsache, denke ich. Wo es kein Motiv gibt, gibt’s auch keinen Fall. Oder? Das Motiv beschäftigt mich. Zum Beispiel die Aussage der Leute, die Flur an Flur mit dem Burschen wohnen … das hat mich immerhin überzeugt. Die sagten doch etwas von einer Auseinandersetzung zwischen dem Vater und dem Jungen – so gegen sieben Uhr abends. Ich kann mich auch irren.
JUROR 11: Es war acht Uhr, nicht sieben.
JUROR 8: Ja, acht Uhr abends. Die Nachbarn hörten einen Streit, aber sie konnten nicht verstehen, worum es ging. Dann wollten sie auch noch gehört haben, daß der Vater den Jungen ins Gesicht schlug, zweimal, und zuletzt sahen sie den Jungen wütend die Wohnung verlassen. Was beweist das?
JUROR 6: Genaugenommen – nichts. Ich habe ja nicht gesagt, daß es was beweist. Aber es ist nicht alles –
In dieser Sequenz wird darüber verhandelt, ob es sich um ein post hoc ergo propter hoc-Argument handelt. Erst gab es einen Streit zwischen Vater und Jungen, vier Stunden später wird der Vater ermordet. War der Streit der Grund bzw. das Motiv für den Tod des Vaters (von der Hand des Jungen)? Obwohl die zeitliche Abfolge unstrittig ist, folgt die kausale Beziehung daraus nicht zwingend.
Ad hominem
Ein weiterer wichtiger FehlschlussFehlschluss ist das ad hominem-Argument. Dieses Argument richtet sich nicht auf die Sache, sondern auf die Person. Ein Argument ist gültig, weil es an die Glaubwürdigkeit, das EthosEthos, einer Person gebunden ist. Oder umgekehrt, ein Argument ist nicht gültig, weil die Person nicht gut oder glaubwürdig ist.
JUROR 10: Ich bin gerührt. Denken Sie von mir was Sie wollen! Aber wir schulden ihm nicht so viel. – Er hat ein saubres Verfahren bekommen. Glauben Sie das ist umsonst? […] Er kann froh sein, daß wir so freigiebig waren. Stimmt’s? Wir sind doch keine Quäker! Wir haben die Tatsachen gehört – und jetzt wollen Sie uns weismachen, daß wir dem Bürschlein glauben sollen! Mir kann der nichts vormachen, nicht so viel – nicht das Schwarze unter dem Nagel glaube ich dem. Ich habe lange genug unter ihnen gelebt, ich kenne sie in- und auswendig. Die sind geborene Verbrecher, alle durch die Bank! Untermenschen!
Juror 10 argumentiert hier, dass man dem Angeklagten nicht glauben kann, da er einer von „ihnen“ (Menschen aus Elendsvierteln) ist. Das Argument richtet sich ausschließlich gegen die Glaubwürdigkeit des Angeklagten im Allgemeinen, nicht gegen seine spezifischen Aussagen. Dieses Argument wird im Stück direkt in Zweifel gezogen durch Juror 9 („aber es ist entsetzlich, so was zu glauben. Gibt es tatsächlich geborene Verbrecher? – Ist das Verbrechen denn typisch für eine bestimmte Klasse? Seit wann?“). Juror 9 macht hier keine Aussage dazu, ob der Junge schuldig ist oder nicht – er selbst hat für schuldig gestimmt –, er lehnt aber dieses Argument zur Stützung der Schuldvermutung ab.
Zugleich muss ein ad hominem-Argument nicht automatisch fehlschlüssig sein. So ist das argumentum ad verecundiam, das Autoritätsargument, zentral in wissenschaftlichem Diskurs, aber auch in öffentlichem Diskurs,