Argumentation. Kati Hannken-Illjes
da es die Aussagen mit Einschätzungen über die Glaubwürdigkeit der Sprecherinnen stützt.
Vom allgemeineren ad hominem lässt sich das spezifischere ad personam unterscheiden. Der Begriff ad personam wird in der Regel dann gebraucht, wenn betont werden soll, dass es sich um einen Angriff auf die Person handelt.
JUROR 10: Glauben Sie dem Jungen ein Wort?
JUROR 8: Ich weiß nicht, ob ich ihm glaube. Vielleicht glaube ich ihm nicht.
JUROR 7: Dann verstehe ich noch weniger, warum Sie für „nicht schuldig“ gestimmt haben!
JUROR 8: Elf haben ihn schuldig gesprochen. Ich kann nicht so einfach meine Hand heben und jemanden in den Tod schicken. Ich muß erst darüber sprechen.
JUROR 10: Sie hören sich wohl gerne selber reden?
Wenn man die Äußerung von Juror 10 als Argument rekonstruiert: Sie wollen über etwas Offensichtliches sprechen. Wer über Offensichtliches sprechen will, ist eitel. Sie sind eitel.
Auch wenn diese Äußerung sich als Argument rekonstruieren lässt, ist ihre wichtigste Funktion doch die Glaubwürdigkeit des Gegenübers zu kompromittieren, um den Argumenten des Gegenübers die Wirkung zu nehmen. Ob das ad personam allerdings selbst ein Argument ist oder nicht eher eine kommunikative Strategie innerhalb von Argumentation, ist fraglich.
Diese Diskussion grundlegender Fehlschlüsse soll einen ersten Einblick geben. Die Frage, was FehlschlüssigkeitFehlschlüssigkeit bestimmt, wird auch im Ansatz der Pragma-Dialektik (Kapitel 3.6) wieder aufgenommen werden. Dort ist FehlschlüssigkeitFehlschlüssigkeit dann über den DialogDialog, nicht das Argument als Produkt, gefasst. Im Folgenden soll nun der Ansatz zur Argumentation von Habermas dargestellt und diskutiert werden. Dieser Ansatz nutzt die Informelle LogikInformelle Logik als zentrale Referenz.
3.3 Die Diskurstheorie Habermas’ und sein Blick auf Argumentation
Einer der einflussreichsten Beiträge zur modernen Argumentationstheorie kommt von Jürgen Habermas, formuliert in den Arbeiten der Theorie des kommunikativen Handelns in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Verschiedene Autoren, so z.B. Alexy für die Rechtswissenschaft und Kopperschmidt für die Argumentationstheorie, haben die Habermas’sche Theorie weitergeführt, Goodnight hat sich in seinen Arbeiten zu spheres of argument stark auf Habermas bezogen (vgl. Kapitel 4.2.1) und in jüngeren Debatten um die Verbindung von Argumentation und Publikum (vgl. Tindale, 2015) spielt der Ansatz eine große Rolle. Darüber hinaus ist die Theorie kommunikativen Handelns und kommunikativer RationalitätRationalität insgesamt sehr breit rezipiert worden, wenn auch nicht immer als Argumentationstheorie. Habermas hat zentrale Begriffe geprägt und grundlegende Überlegungen für die Funktion von Argumentation angestellt. Diese hat er explizit in eine Nachbarschaft zur Informellen Logik gestellt, die sich zu derselben Zeit entwickelte. Damit hat er den lebhaften Diskurs über Argumentation Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts insbesondere in der Linguistik und Rhetorik mit angefacht und mitbestimmt.
Argumentation ist nach Habermas dann notwendig, wenn kommunikatives Handeln unterbrochen und ein GeltungsanspruchGeltungsanspruch strittig wird. Kommunikatives HandelnKommunikatives Handeln ist die Form von Kommunikation, in der nichts strittig wird, was für die meisten Fälle von alltäglicher Kommunikation zutrifft. Während wir kommunikativ handeln, erheben wir parallel auch verschiedene Geltungsansprüche: d.h. eine Sprecherin macht nicht nur eine Äußerung, sondern sie äußert zugleich, dass sie bereit ist, die Geltung dieser Äußerung herzustellen, sollte die Geltung bezweifelt werden. Dieses Anzweifeln der Geltung wird in der Regel beschrieben als: „ein GeltungsanspruchGeltungsanspruch wird strittig“. Wenn ein GeltungsanspruchGeltungsanspruch strittig wird, wird das kommunikative Handeln unterbrochen und der Sprecher muss den GeltungsanspruchGeltungsanspruch durch Argumente einlösen. Die Phase, die das kommunikative Handeln dafür unterbricht, bezeichnet Habermas als DiskursDiskursin der Theorie des kommunikativen Handelns. Daher wird bei der Einlösung von Geltungsansprüchen durch Argumente auch von einer diskursiven Einlösungdiskursive Einlösung gesprochen. Während wir kommunizieren – kommunikativ handeln –, erheben wir demnach implizit mit jeder Äußerung den Anspruch, dass die Äußerung gilt. Wenn also ein Geschworener sagt: „der Junge ist schuldig“, macht er damit nicht nur eine Aussage über die Welt, sondern auch eine Aussage über die Aussage: diese Aussage gilt.
GeltungsanspruchGeltungsanspruch: „Ein GeltungsanspruchGeltungsanspruch ist äquivalent der Behauptung, daß die Bedingungen für die Gültigkeit einer Äußerung erfüllt sind.“ (Habermas, 1995a, S. 65, Hervorhebung im Original)
Argumentation ist demnach ein Mittel, wenn GeltungsansprücheGeltungsanspruch bestritten werden. Im Beispiel der zwölf Geschworenen ist nun fast das gesamte Gespräch dadurch geprägt, dass ein GeltungsanspruchGeltungsanspruch strittig geworden ist.
JUROR 1: Also elf Stimmen für „schuldig“. In Ordnung. – „Nicht schuldig“? (Juror 8 hebt langsam die Hand.) Eine. – Klar, 11:1 für „schuldig“. Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir sind.
Ausgangspunkt ist die Abstimmung darüber, ob der Junge schuldig ist, seinen Vater ermordet zu haben. Wäre die Abstimmung 12:0 ausgegangen, wäre das kommunikative Handeln nicht unterbrochen worden, die Geschworenen hätten ihre Entscheidung mitgeteilt und der Strafprozess wäre abgeschlossen worden. Die Meldung von Juror 8 bei „nicht schuldig“ markiert aber den GeltungsanspruchGeltungsanspruch, der der Aussage „der Junge ist schuldig“ unterliegt, als strittig. Dies ist der Punkt, an dem das kommunikative Handeln durch die Problematisierung eines GeltungsanspruchsGeltungsanspruch zum Diskurs wird: Gegenstand der folgenden Kommunikation ist nun die Geltung von Aussagen, nicht der Austausch von Informationen über die Welt. Da man sich Argumentation hier als Unterbrechung von kommunikativem Handeln vorstellen kann, haben einige Autoren Argumentation in Anschluss an Habermas auch als Metakommunikation bezeichnet (vgl. Völzing, 1979).
Ausgehend von der SprechakttheorieSprechakttheorie unterscheidet Habermas Sprechakte, denen je unterschiedliche Geltungsansprüche zugeordnet sind. Habermas unterscheidet vier Arten von Geltungsansprüchen:
Verständlichkeit:
dieser GeltungsanspruchGeltungsanspruch wird mit jeder Äußerung erhoben. Sollte er bestritten werden, kann er nicht durch Argumentation bearbeitet werden, sondern dadurch, dass das Gegenüber zur Erläuterung aufgefordert wird.
Wahrheit:
Wahrheitdieser GeltungsanspruchGeltungsanspruch bezieht sich auf die WahrheitWahrheit der Äußerung, also ob der propositionale Gehalt als richtig oder nicht richtig einzustufen ist. Dieser Geltungsanspruch muss argumentativ eingelöst werden.
Richtigkeit:
dieser GeltungsanspruchGeltungsanspruch bezieht sich auf die Richtigkeit des Handelns, das mit der Äußerung vollzogen oder auf das referiert wird. Dieser Geltungsanspruch muss argumentativ eingelöst werden.
Wahrhaftigkeit:
dieser GeltungsanspruchGeltungsanspruch bezieht sich auf die Grundannahme innerhalb von Kommunikation, dass das Gegenüber aufrichtig ist. Dieser Geltungsanspruch kann nur performativ eingelöst werden. D.h. er muss vollzogen werden und sich in der kommunikativen Praxis zeigen.
Argumentation ist also ein Mittel, um strittig gewordene Geltungsansprüche der WahrheitWahrheit und der Richtigkeit einzulösen. Dies nennt man die diskursive Einlösbarkeit von Geltungsansprüchen. Die Unterscheidung von Geltungsansprüchen der WahrheitWahrheit und der Richtigkeit ist von vielen Autorinnen als grundlegende Unterscheidung verschiedener Formen der Argumentation aufgenommen worden. Argumentation ist aus Sicht von Habermas ein besonderes Mittel, da sich die Teilnehmerinnen im Diskurs außerhalb des kommunikativen Handelns stellen.
Diskurs: „Unter dem Stichwort ‚Diskurs‘ führte ich die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation ein, in der problematisch gewordene