Poesía Visual im Spanischunterricht. Dr. Victoria del Valle Luque
früh zu bewältigen sind, und zweitens überdeterminiert, damit auch mit wenig Sprache viel Bedeutung erzeugt werden kann.
Die Besonderheit poetischer Texte im Fremdsprachenunterricht liegt jedoch letztlich nicht in ihrer Kürze. Die Begründung für den Einsatz poetischer Texte untermauert Weinrich mit der These, dass zwischen poetischem und fremdsprachlichem Lesen eine Strukturhomologie existiere, und er konstatiert, angelehnt an strukturalistische Untersuchungen, „dass die Literatur eine poetische Sprache hat, die häufig so beschaffen ist, dass sie den Leser durch allerlei Hemmnisse und Behinderungen zu einer erschwerten und folglich verlangsamten Rezeption des Textes zwingt“ (ebd., 204; vgl. auch Steinbrügge 2015). Das Lesen in der Fremdsprache hat insbesondere bei Fremdsprachenlernanfängern große Ähnlichkeit mit dem Lesen poetischer Texte (vgl. Weinrich 1983, 204). In beiden Fällen sind die Leserinnen und Leser gezwungen, mehr Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form des Textes zu richten. Fremdsprache und poetische Sprache erfordern eine gleichermaßen intensive Auseinandersetzung, um zur Bedeutung des Textes zu gelangen. Der Umgang mit Sprache sei in beiden Fällen fast identisch: Der sperrige, überdeterminierte Signifikant verunmögliche einen Automatismus beim Lesen und erfordere ein längeres Verweilen am Text. So ist das Rezeptionstempo bei Lesern poetischer und fremdsprachlicher Texte gleichermaßen stark verlangsamt. Das langsame oder sogar sehr langsame Lesen bedeute jedoch nicht nur weniger schnelles Lesen, sondern vor allem eine andere Art des Lesens: Fremdsprachliche und poetische Texte würden nicht linear von links nach rechts gelesen, vielmehr sei der Leser wiederholt gezwungen, vor- und zurückzugehen und den Text förmlich zu umkreisen. Die Aufmerksamkeit des Lesers teile sich zudem in beiden Fällen immer auf zwischen Signifikant und Signifikat und befinde sich in einem ständigen Wechsel zwischen sprachlicher Form und der Bedeutung. Aus diesem Grund sei beim Lesen fremdsprachlicher einerseits und poetischer Texte andererseits sehr viel mehr Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form zu richten als auf den Inhalt (vgl. ebd.).
Fremdsprachenlerner und Leser poetischer Texte befinden sich also in einer ähnlichen Situation angesichts eines Textes, dessen fremdsprachliches Vokabular oder dessen poetische Sprache den aus der Muttersprache beziehungsweise aus der nicht literarischen Standardsprache gewohnten automatischen Zugang zur Bedeutung nicht zulasse. In diesem Moment erhöhter, auf die sprachliche Form gerichteter Aufmerksamkeit befänden sich Fremdsprachenlernende sowie Leser poetischer Texte in einem „Schwebezustand“ oder „poetischen Zustand“ (ebd., 205). Das längere Verweilen am fremdsprachlichen Text sei dem Umstand geschuldet, dass er erst dekodiert, das heißt übersetzt werden muss. An poetischen Texten und Textteilen ist ein längeres Verweilen deshalb notwendig, weil es sich bei poetischer Sprache um Sprache handelt, die ästhetisch überdeterminiert und autoreferenziell ist und infolgedessen ein aufwändiges Entschlüsseln einfordert. Diese ästhetische Erfahrung als Teil des Leseprozesses bilde den formästhetischen Reiz poetischer Texte. Für den fremdsprachlichen Text ist diese Erfahrung nicht primär als ästhetisch zu bezeichnen, sondern zunächst als bewusste Wahrnehmung des Unbekannten, als eine außergewöhnliche Erfahrung. Der (fremdsprachen-)didaktische Mehrwert von ästhetisch-literarischem Lesen und fremdsprachlichem Lesen liegt im Wahrnehmungsprozess, der in beiden Fällen mit erhöhter Intensivität und Bewusstheit ablaufe.
Für die Auswahl literarischer Gegenstände für den Fremdsprachenunterricht zieht Weinrich deshalb folgende Schlussfolgerung: In besonderem Maße eigneten sich Texte, die für ein längeres Verweilen geschaffen wurden (vgl. ebd., 206). Wenn Leserinnen und Leser fremdsprachlicher Texte ohnehin große Aufmerksamkeit auf den Signifikanten richten, dann sollten ihnen Texte dargeboten werden, die ein langes Verweilen ertragen, die langsam, wiederholt und zögernd gelesen werden wollen (vgl. Steinbrügge 2015, 8). Es sind daher Texte zu wählen, die eine autoreferenzielle, verdichtete Sprache vorweisen:
Als Texte nun, die gerade für die ersten Lektionen des Fremdsprachunterrichts in Frage kommen, bieten sich zunächst höher strukturierte Gebilde an, die so beschaffen sind, daß sie einen wesentlich größeren Teil der Aufmerksamkeit der Lernenden bei den Sprachformen festhalten, und zwar auf lustbetonte Weise. Hierzu eignen sich in besonderem Maße die Texte der konkreten und visuellen Poesie (Weinrich 1983, 206).
Der Einsatz poetischer Texte im fremdsprachlichen Literaturunterricht wird hier ausdrücklich nicht mit ihrem Bildungsgehalt – einem der zentralen Argumente in der literaturdidaktischen Diskussion der letzten Jahrzehnte (vgl. z. B. Hellwig 2008) – begründet; vielmehr ist das entscheidende Kriterium für die Auswahl eines literarischen Textes für den Fremdsprachenunterricht seine besondere sprachliche Form und Strukturiertheit:
Dieses Kriterium erfüllen Texte, die eine hohe sprachliche Dichte aufweisen, oder, um es mit den Strukturalisten zu sagen, einen hohen Grad an Poetizität und Literarizität. Das heißt, der Text hat bestimmte Merkmale, die bewirken, dass die Sprache abweicht von der Alltagssprache (Steinbrügge 2015, 9).
Die Inhalte der poetischen Texte – so Steinbrügge (ebd.) – seien deswegen nicht bedeutungslos oder gar obsolet, sie seien nur nicht – im Gegensatz zu den formalen Aspekten – das ausschlaggebende Kriterium.
Ein solcher literaturdidaktischer Ansatz, der ganz von der Beschaffenheit seines Gegenstandes her denkt, also text- und formzentriert ist, mag vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um den Stellenwert literarischer Texte in einem kommunikations- und kompetenzorientierten und lernerzentrierten Fremdsprachenunterricht zunächst ungewöhnlich, wenn nicht befremdlich erscheinen. Ein wesentliches Ziel dieser Arbeit wird es sein, aufzuzeigen, dass eine gegenstandsorientierte Literaturdidaktik und ein kompetenzorientierter Fremdsprachenunterricht sich nicht nur nicht ausschließen, sondern vielmehr miteinander versöhnt werden müssen und auch können.
Erste Schritte auf diesem Weg sind bereits in den 1990er Jahren (und damit einige Zeit vor dem Greifen des Paradigmenwechsels zu einem kompetenz- und standardorientierten Fremdsprachenunterricht in Theorie und Praxis) Gienow und Hellwig (1996) mit ihrer prozessorientierten Mediendidaktik gegangen. Sie verbinden in ihrem methodisch-didaktischen Ansatz Gegenstands- und Lernerorientierung miteinander, indem sie dafür plädieren, nur solche Texte im Fremdsprachenunterricht einzusetzen, die „bedeutungsgeschichtet, mehrdeutig, interpretationsoffen, problemhaltig, rätselhaft, beunruhigend, innovativ und alternativ“ (Gienow/Hellwig 1996, 6) seien und zudem „die allgemeine Lebenspraxis und -erfahrung der Lerner so weit wie möglich betreffen“ und kommen zu dem Schluss, dass alle genannten Auswahlkriterien bei „kunsthaltigen Texten“ (ebd.) gegeben seien. Küster (2003) konstatiert folgerichtig:
Im Gegensatz zu rein sprachfertigkeitsorientierten Ansätzen der Fremdsprachendidaktik sehen Gienow/Hellwig (1997: 17) eine Interdependenz von Sprach-, Bedeutungs- und Sinnbildung im Fremdsprachenunterricht. (…) Mit diesem Konstrukt verbindet das Autorenduo zwei ansonsten als unüberbrückbar erscheinende didaktische Ansätze, jene nämlich, die vom Gegenstand und jene, die vom Lerner ausgehen (Küster 2003, 129).
Die vorliegende Arbeit knüpft daran an, geht aber noch einen Schritt weiter, insofern es ihr darum zu tun ist, die Gegenstandsorientierung nicht nur mit der Lernerorientierung, sondern mit der Kompetenzorientierung insgesamt zu versöhnen, und macht sich damit auf einen Weg, den nicht zuletzt Hellwig selbst viele Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen seiner Beiträge zu einer prozessorientierten Mediendidaktik und wohl unter dem Eindruck des oben genannten Paradigmenwechsels eingeschlagen und vorgezeichnet hat (vgl. Hellwig 2008).
Der Gegenstand meiner Studie, den ich für dieses literaturdidaktische Anliegen im Hinblick auf den hier in Rede stehenden Spanischunterricht zum Ausgangspunkt nehme, ist die bisher für den Spanischunterricht wenig beachtete Gattung der Poesía Visual. Sie erfüllt die oben genannten Kriterien in besonderem Maße und kann einerseits mit Gienow/Hellwig als „bedeutungs- und belangvoller“ (ebd.) Lerngegenstand für den Spanischunterricht und andererseits mit Weinrich als „höher strukturiertes Gebilde“ (1983, 206), als verdichteter Text mit einem hohen Überschuss an impliziter Bedeutung eingestuft werden. Als Äquivalent zur Konkreten Poesie (die Weinrich selbst als potenziellen Gegenstand für den fremdsprachlichen Literaturunterricht ins Spiel brachte) können poemas visuales für den fremdsprachlichen Literaturunterricht allein durch ihre externe Kürze und Überdeterminiertheit in Betracht gezogen werden: Sie funktionieren mit nur sehr wenigen Wörtern, manchmal mit nur einem einzigen Wort, das zu einem Bildelement in Beziehung gesetzt wird. Darüber