Poesía Visual im Spanischunterricht. Dr. Victoria del Valle Luque
1. Poesía Visual: Definition - Theorie - Typologie
1.1 Was ist Poesía Visual?
Nach dem Diccionario de la Lengua Española2 bedeutet poesía „arte de componer obras poéticas en verso o en prosa“ (DRAE s.v. poesía [del lat. poēsis, y este del gr. ποίησις]) und visual „perteneciente o relativo a la visión“ (DRAE s.v. visual [del lat. visuālis]). Dementsprechend kann poesía visual auf das Wesentliche reduziert als „arte de componer obras poéticas en verso perteneciente a la visión“ definiert werden. Die deutsche Übersetzung „visuelle Dichtung“ oder „visuelle Poesie“ bezeichnet eine sprachlich-visuelle künstlerische Ausdrucksform, die lange Zeit als „merkwürdige moderne Kunstform“ (Adler 1989, 28) galt und inzwischen als poetische Gattung3 von der Literaturwissenschaft anerkannt wird (vgl. Dencker 2011; Ernst 2012).
Visuelle Poesie wird ins Spanische zwar mit poesía visual übersetzt, in der vorliegenden Arbeit verwende ich Poesía Visual aber nicht als begriffliche Übersetzung, sondern als kulturspezifische literarische Erscheinungsform im spanischsprachigen Raum. Poesía Visual steht somit für die spanischsprachige visuelle Poesie. Sie ist keineswegs allein ein dichterisches Phänomen der spanischsprachigen Welt, doch um eben diese spanischsprachige Erscheinungsform, la Poesía Visual Española, soll es im Folgenden gehen.
Die erwähnte Merkwürdigkeit dieses Kunstphänomens liegt in der Grenzüberschreitung zwischen bildender Kunst und Literatur. Die Operatoren visuell-poetischer Texte4 sind Schrift und Bild gleichermaßen, was eine eindeutige Zuordnung zu den klassischen Gattungen unmöglich macht; gleiches gilt für die entsprechenden forschenden Disziplinen. Lange Zeit wurde Poesía Visual von den Theorien als „manieristische Wunderlichkeit“ (Adler 1989, 28) abgewertet und erst relativ spät im Verhältnis zu ihrem historischenVorkommen von der Wissenschaft ernstgenommen. Aufgrund ihrer Grenzlage zwischen Literatur und Kunst ist es den gattungszuschreibenden Wissenschaften daher auch lange schwer gefallen, Visuelle Poesie zu definieren. Jeremy Adler hat diese Grenzlage zwischen Kunst und Literatur folgendermaßen umrissen:
Auf das Einfachste reduziert, kann die Form [gemeint ist die Kunstform Visuelle Poesie] als ein Genre definiert werden, das sowohl Dichtung als auch visuelle Kunst ist. Worte können in einer visuell bedeutsamen Weise angeordnet werden oder so untrennbar mit einem visuellen Element verbunden sein, daß beide nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Umgekehrt beeinflussen sie einander auch, um eine komplexe Bedeutung oder einen Gehalt, den weder Bild noch Wort allein hervorbringen können, schaffen. (Adler 1989, 28)
Adler veröffentlichte diese Definition in einer kunstwissenschaftlichen Zeitschrift (Bildende Kunst 1989). Diese Tatsache ist insofern von Belang, als die Kunstwissenschaft offener mit Grenzüberschreitungen umzugehen scheint als die Literaturwissenschaft. Dies mag daran liegen, dass Schrift viel selbstverständlicher in künstlerische Prozesse integriert wird als, umgekehrt, Bilder in literarische. Aus Sicht der bildenden Künste sind Bild-Schrift-Kombinationen ganz und gar nicht „merkwürdig“ (wie beispielsweise eingebaute Textfragmente in Bildern, Collagen, Ornamentik etc.). Die Integration von Bezugssystemen wie Sprache und Schrift wird in der Kunstwissenschaft von jeher berücksichtigt (vgl. Markò 1989, 17). Dagegen ist in literarisch-theoretischen Positionen immer wieder ein gewisses Unbehagen festzustellen, wenn es darum geht, das Bild als literarisches Ausdrucksmittel zu akzeptieren. Die Bedeutung von Schrift in der „Ideenkunst“ (gemeint sind hier die avantgardistischen und post-avantgardistischen Bewegungen wie etwa Futurismus, Dada, konzeptionelle Kunst) sieht Martina Markò in der methodischen Problematisierung dieser Kunstkonzepte, Denkprozesse zu visualisieren (vgl. ebd.). So beschäftige sich die Visuelle Poesie aus kunstwissenschaftlicher Sicht mit der “wahrnehmungspsychologische[n] und erkenntnistheoretische[n] Frage des Auseinanderklaffens von Realität, Abbild und Bedeutung” (ebd.). Visuelle Poesie, so Markò weiter, sei allerdings ein „literaturzentrierter Begriff“ (ebd., 15), der als poetisches Schrift-Bild-Konzept in der Literaturwissenschaft im Zuge der Konkreten Poesie ab den 1950er Jahren erstmalig auftauche (auf diese begriffliche Entwicklung und die daraus entstandene Problematik wird im folgenden Kapitel genauer eingegangen).
Äquivalente Dichtkunstformen sind im europäischen Sprachraum entsprechend unter visual poetry, poésie visuelle, poesia visiva etc. zu verzeichnen. Ab Mitte der 1980er Jahre entsteht ein reges Forschungsinteresse an Visueller Poesie, das das Augenmerk zunächst auf die Untersuchung der historischen Entwicklung lenkt und bald darauf theoretisch-ontologischen Betrachtungen nachgeht (vgl. Adler/Ernst 1990; Bohn 1986; Dencker 1972; Higgins 1987). Aus diesem Forschungszusammenhang stammt folgende allgemein vergleichende Definition von visual poetry:
[W]e can define visual poetry as poetry meant to be seen. Combining painting and poetry, it is neither a compromise nor an evasion but a synthesis of the principles underlying each medium. (Bohn 1987, 2)
Willard Bohn beschreibt visual poetry als eine Kombination von Bild und poetisch-diskursivem Text, wie er nachfolgend bezüglich der Verwendung von poetry näher erläutert (vgl. ebd.). Visuelle Poesie ist dementsprechend als eine Kunstform zu verstehen, die bildliche wie schriftsymbolische Elemente verwendet, um sie zu einer Botschaft poetisch zu verdichten. Sie lässt sich somit in der Schnittmenge von bildender Kunst und Literatur verorten und muss – um bei den Worten Bohns zu bleiben - nicht nur gelesen, sondern auch „gesehen” werden. Bohns Definition ist eine allgemein deskriptive, wissenschaftliche und historische, die eine durch Sammlungen von visuellen Gedichten, Dichtern und Gruppierungen beziehungsweise Bewegungen (beispielsweise Futurismus, Guillaume Apollinaire, calligrammes, Joan Salvat-Papasseit, Ultraismus) repräsentierte poetische Gattung beschreibt.
Hieran lässt sich die Definition des katalanischen visuellen Poeten Joan Brossa (einer der Hauptakteure der Poesía Visual) anschließen, die zur gleichen Zeit entstand und aus Sicht des Dichters insbesondere auf die Bedeutung des Visuellen für die zeitgenössische Dichtung eingeht:
La poesia experimental del nostre temps és la poesia visual. El poeta muda de codi; deixa el codi literari i s’expressa en un llenguatge que s’esdevé de la recerca d’una nova dimensió entre allò visual i allò semántic. El poema visual no ès ni dibuix ni pintura, sinó un servei a la comunicació. Un intent ben típic del nostre temps en què la funció de la imatge ha adquirit una gran importància. (Brossa 1984 in Bordons et al. 2008, 187)
La poesía experimental de nuestro tiempo es la poesía visual. El poeta cambia de código; deja el código literario y se expresa en un lenguaje que acontece en la búsqueda de una nueva dimensión entre lo visual y lo semántico. El poema visual no es ni dibujo ni pintura, sino un servicio a la comunicación. Un intento muy típico de nuestro tiempo en que la función de la imagen ha adquirido una gran importancia. (Übersetzung von Carlos Vitale Bordons et al. 2008, 190)
Brossas Auslegung ist insbesondere in Bezug auf zwei Gesichtspunkte interessant: Zum einen beschreibt er die Poesía Visual als eine Erscheinungsform der poesía experimental und klassifiziert sie demnach als Genre derselben; zum anderen legitimiert er die kommunikativ-gesellschaftliche Teilhabe der visuellen Poesie. Er versteht das Bild als sprachliche Einheit und beschreibt die kommunikative Funktion von Bildern als einen sprachlichen Code, der dem Dichter neben einem código literario (dt. schriftsymbolischer Code) zur Verfügung stehe. Das poema visual wird von ihm - mit „un servei a la comunicació“ - deutlich als Botschaft definiert, die sich an eine zeitgenössische, visuell geprägte Gesellschaft richtet.
In der Aussage Brossas liegt ferner ein strukturalistisches Verständnis von Dichtung: Dass Sprache in all ihren Facetten poetisch verwendet werden kann, erscheint einleuchtend. Allerdings ist poetische Sprache von nicht-poetischer Sprache zu unterscheiden. Dies gelingt, weil nicht-poetische Sprache eine eher zufällige und meist planlose Ausdrucksform darstellt, wohingegen poetische Sprache geplant und insbesondere nicht-zufällig zustande kommt (vgl. Jakobson 1960, 85). Wenn Poesie als Sprache bezeichnet wird, liegt eine linguistische Betrachtung zugrunde, die anhand Jakobsons strukturalistischer Definition von Poesie und poetischer Sprache zusammenfassend wie folgt erklärt werden kann: Poetische Sprache ist ein verbales Sprachverhalten, das auf den grundlegenden Operationen