Übersetzungstheorien. Radegundis Stolze
Darstellung zielt auf die Faktoren der TransferprozedurTransferprozedur mit der PerspektivePerspektive einer objektiv beschreibbaren Transfermethode als FertigkeitFertigkeit.
4.1 Wissenschaftliche Maximen moderner LinguistikLinguistiks. Sprachwissenschaft, MÜ
Im Sinne des Rationalismus und der Universalientheorie (s. Kap. 3.5) ist die SpracheSprache ein Zeichensystem zum Zwecke der KommunikationKommunikation, welches auch Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung sein kann. Die SprachwissenschaftSprachwissenschafts. Linguistik, die LinguistikLinguistiks. Sprachwissenschaft, wie sie seit de SAUSSURESaussure heißt, hatte sich in den 1950er und 1960er Jahren auch die rationalistischen Analysekriterien wie Objektivierbarkeit, Methodenstringenz, Formalisierbarkeit, Intersubjektivität und Verifizierbarkeit als „Kennzeichen der wissenschaftlichen Methode“ (STACHOWITZ) zu eigen gemacht. Alle als subjektiv-zufällig geltenden Bestimmungsfaktoren in der Sprachbeschreibung waren nunmehr „unwissenschaftlich“ und mussten so weit wie möglich ausgeschaltet werden. Dadurch wurde der Kreis „wissenschaftlicher Disziplinen“ stark eingeschränkt. R. STACHOWITZ führt in seinem Buch über die Maschinelle Übersetzung1StörigWilss aus:
Heute wird allgemein akzeptiert, daß der AusdruckAusdruck „Wissenschaft“ sich nicht länger auf eine geistige Disziplin bezieht, die sich mit einem besonderen Sachgebiet befaßt, sondern ganz allgemein auf jede Disziplin, die eine besondere Forschungsmethode verwendet, die sogenannte „wissenschaftliche Methode“. Dementsprechend klassifizieren wir verschiedene Fachrichtungen danach, ob sie sich der wissenschaftlichen Methode bedienen oder nicht. Daher schließen wir Disziplinen wie die Literaturwissenschaft von den Wissenschaften aus.
Dies hatte zur Folge, dass man sich auf Texte beschränkte, die den Ansprüchen der wissenschaftlichen Beschreibbarkeit genügten. Auch die Beschreibung der Übersetzungsvorgänge sollte zur Aufgabe dieser LinguistikLinguistiks. Sprachwissenschaft werden, nachdem an der ÜbersetzbarkeitÜbersetzbarkeit als solcher nicht mehr gezweifelt wurde.
Der Anstoß, ÜbersetzenÜbersetzen als primär oder gar ausschließlich „linguistisches“ Phänomen zu erfassen und als solches zu objektivieren, ging von der Forschung zur Maschinellen Übersetzung (MÜ) aus. Deren offiziellen Auftakt kann man auf das Jahr 1948 datieren, da Warren WEAVER in jenem Jahr in einem berühmt gewordenen Briefwechsel mit Norbert WIENER seine informationstheoretisch inspirierte Konzeption der Maschinellen Übersetzung vorlegte. Aus dem Rechner ließe sich bestimmt auch eine Maschine zur Sprachübersetzung machen.2 Eine natürliche SpracheSprache sei eine Art Geheimkode, den der Computer knacken könne: Er müsste nur ein Wort durch das richtige andere ersetzen.
Die TheorieTheorie vom ÜbersetzenÜbersetzen wurde gleichsam als Hilfsdisziplin der maschinellen Übersetzung konzipiert, deren Aufgabe es war, SpracheSprache so zu formulieren und zu algorithmisieren, dass Texte vom Computer in der AS (AusgangsspracheAusgangsspraches. AS) analysiert und in der ZS (ZielspracheZielspraches. ZS) synthetisiert werden könnten. Als Ziel galt FAHQT (= Fully Automatic High Quality TranslationTranslation). Der Computer tastet den zu lesenden Text in linearer Folge ab. Besondere Schwierigkeiten stellen daher zunächst die Wortart, der Numerus sowie die Verknüpfung dar.3Übersetzer
Wie ein Wort zu verstehen ist, d.h. welcher Kategorie es zugeordnet wird, hängt vom jeweiligen KontextKontext ab, vgl.
Nadeln haben scharfe Spitzen (Substantiv); | Singt die Weisen; |
wir spitzen die Ohren (Verb); | Fragt die Weisen; |
ich suche einen spitzen Stock (Adjektiv). | Sie weisen euch den Weg. |
Wie schwierig das Unternehmen der Maschinellen Übersetzung ist, zeigt folgendes Beispiel eines englischen Satzes in deutscher Übertragung durch mehrere MÜ-Systeme:
Englischer Satz: China cranked up the pressure on Taiwan today by announcing it would begin guided missile tests in the seas around the island. (May 1996)
SchWINn TranslatorTranslator Pro: China krümmte hinauf der Druck eingeschaltet Taiwan heute von ankündigend es wollte beginnen Raketengeschoß testet im Meere ringsherum der Insel.
FB-Translator: Porzellan krümmte hoch der Druck eingeschaltet Taiwan heute von ankündigend es wollte starten ferngelenktes Geschoß Prüfungen im Meere herum der Insel.
German Assistant: China hat aufwärts den Druck auf Taiwan heute angekurbelt durch verkünden es würde anfangen, Fernlenkgeschoß prüft in den Meeren herum die Insel.
T 1: China drehte heute den Druck auf Taiwan an, wenn es ankündigt, daß es Lenk-Waffen-Prüfungen in den Meeren gegen die Insel anfangen würde.
(Vgl. Beispiele in: DIE ZEIT, Mai 1996).
Und noch zwanzig Jahre später:
Google Translator: China angekurbelt heute den Druck auf Taiwan bis mit der Ankündigung, sie würden rund um die Insel im Meer geführt Raketentests beginnen. (Mai 2016)
PONS online: China hat den Druck auf Taiwan heute durch die Ankündigung gekröpft, dass es Tests des ferngelenkten Geschosses in den Meeren um die Insel beginnen würde. (Mai 2016)
4.2 Das kommunikationstheoretische Modell des Übersetzungsvorgangs (KadeKade, Neubert)
Vor diesem wissenschaftstheoretischen Hintergrund erklärt es sich, dass eine Reihe von Übersetzungswissenschaftlern, insbesondere die später so genannte „Leipziger Schule“ (Otto KADEKade, Albrecht NEUBERT, Gert JÄGER, Gerd WOTJAK) die ÜbersetzungswissenschaftÜbersetzungswissenschaft als linguistische Teildisziplin verstehen und von „TranslationslinguistikTranslationslinguistik“ sprechen.1 DabeiÜbersetzen hat KADE (1963:91) den Terminus „TranslationTranslation“ als Oberbegriff für Übersetzen und Dolmetschen eingeführt. Der Gegenstand der Wissenschaft war nach JÄGER (1975:77) „die Untersuchung der TranslationsprozesseTranslationsprozesse als sprachliche Prozesse“ und die Analyse der ihnen „zu Grunde liegenden sprachlichen Mechanismen“:
Alle Texte einer SpracheSprache Lx (Quellensprache) können unter Wahrung des rationalen Informationsgehalts im Zuge der TranslationTranslation durch Texte der Sprache Ln (ZielspracheZielspraches. ZS) substituiert werden, ohne daß prinzipiell der Erfolg der KommunikationKommunikation beeinträchtigt oder gar in Frage gestellt wird (KADEKade 1971:26).
Später sollte dann eine Wissenschaft von der „Sprachmittlung“, eine Translationswissenschaft begründet werden (KADEKade 1980). Dabei legte er eine kommunikationswissenschaftliche Auffassung zu Grunde:
Die KS [sc. Kommunikationssituation] in der ZVK [sc. zweisprachig vermittelten KommunikationKommunikation] ist deshalb das objektive Kriterium, von dem aus der Grad der möglichen und/oder notwendigen Übereinstimmung bzw. der zulässigen Nichtübereinstimmung von IKK [sc. Informationskomponenten des Kommunikats] des ZS- [sc. zielsprachigen] Textes gegenüber dem QS- [sc. quellensprachigen] Text bestimmt werden kann.
In beiden Fällen wirkt das „Spannungsfeld zwischen Originalbezogenheit und Empfängergerichtetheit“, jedoch haben die beiden Pole dieses Spannungsfeldes einen unterschiedlichen Stellenwert. Bei der TranslationTranslation hat die Originalbezogenheit das Primat (…), beim ad. Ütr. [sc. adaptiven Übertragen] hingegen die Empfängergerichtetheit (…). Zwischen diesen beiden Polen, die infolge der Unkenntnis der objektiven Zusammenhänge den Streit um die „wörtliche“ bzw. „genaue“ oder „freie“ Übersetzung lange Zeit nicht lösbar erscheinen ließen, bewegte sich in der langen Geschichte des Übersetzens der empirische Übersetzungsbegriff (KADEKade 1980:122; 158).
Nach KADE (1968:7) sollte die TW die „objektiven Faktoren“ im Übersetzungsprozess betrachten, wobei er die geistigen Vorstellungen, mit denen Übersetzer es zu tun haben, als „Abbildungen dieser objektiven Wirklichkeit“ sieht (1968:18).
In den 1960er Jahren wurden in der Akademie der Wissenschaften der DDR die Weichen der wissenschaftlichen Konzeption bis hin zur „komplexen sozialistischen Rationalisierung“ gestellt. Die „wissenschaftliche Weltanschauung“