Die normative Kraft des Decorum. Sophia Vallbracht
Nietzsche betont hier beide Seiten: das Schöne und moralisch Gute und das schöne Böse. Nach seinem Verständnis ist der ornatus imstande, das decorum ästhetisch zu erhöhen und ist somit gestalterisch aktiv.
Indem Sprache ein Bild eines Dinges entwirft, wird ein Abbild der Wirklichkeit und der menschlichen Erscheinungen geschaffen, die durch den ornatus in der Rede zum Leben erweckt und dem Zuhörer vor seinem inneren Auge durch figurative Rede vorgeführt werden können. Begreift Cicero „gestaltend“, wie später Nietzsche, den ornatus als Mittel der ästhetischen Erhöhung des decorum?
Die Anforderungen des ornatus machen nach Cicero eine Rede glanzvoll, wenn aptum und congruens in Bezug auf Redegegenstand, Redner und Auditorium konvergieren. Es genügt nicht, sich strikt den Regeln einer Schulrhetorik zu unterwerfen, sondern der Topos „vita omnia“ und vor allem die Abstimmung von ornatus und decorum müssen vom Redner beachtet und beherrscht werden. Auf diesen Maximen basierend sieht Cicero das Proprium der wahren Redekunst: „[E]st enim eloquentia una quaedam de summis virtutibus“.18 Im Idealfall lässt die richtige Wahl des Redestils und des ornatus eine Rede nicht fuco19 inlitus, sondern so erscheinen, dass „sanguine diffusus debet color“.20 Auch Cicero betont – ähnlich wie Nietzsche – die ästhetische Macht des richtig angewandten ornatus für eine Rede. So liege der größte Vorzug der Beredsamkeit in der Ausgestaltung eines Themas durch den Schmuck der Rede. Durch Steigerung (amplificatio) und Hervorhebung (augendum) oder Abschwächung (abiciendum) und Verkleinerung (extenuandum/extenuatio) würden nicht nur Leidenschaften im Publikum erregt, sondern auch Sympathien gewonnen. Diese stilistischen Kunstgriffe müssen jedoch angemessen sein, wollen sie ihre Wirkung entfalten. Die Aufgabe, das Angemessene zu tun, hängt nach Cicero von der Kunstfertigkeit (facere artis est) und der Begabung (natura) des jeweiligen Redners ab.21 Auch in diesem Punkt scheinen der ornatus und das decorum eine untrennbare Symbiose eingegangen zu sein. So ist der ornatus eine wichtige Voraussetzung, um jede Schönheit der Wirklichkeit abzubilden, aber auch für das Adjustierungsprinzip von Rhetorik und für die persuasive Kraft22 einer Rede23 im Allgemeinen24.
Resümierend lässt sich feststellen, dass der ornatus als rhetorische Kategorie durch seine vielfältigen Funktionen für die Rede mannigfache Auswirkungen in der konkreten Redesituation hat (Abwechslung/varietas, Lebendigkeit/vivum, Kunstfertigkeit/facere artis), mittels derer der Redner gezielt die Aufmerksamkeit des Publikums steuert, um dieses von seinem individuellen, subjektiven Zertum zu überzeugen. Durch die Konvergenz der einzelnen Funktionen und Wirkungen des ornatus wird einer Rede geglaubt, d.h., δόξαι werden in ένδοξαι umgewandelt. Indem der ornatus auf das ästhetische Empfinden des Auditoriums einwirkt, wird die Rede nicht nur kunst- und glanzvoller, sondern auch überzeugender, da sie die Emotionen der Menschen anspricht und damit deren Herz gewinnt.25
Durch die Reziprozität der beiden Kategorien des ornatus und decorum scheinen in der Rhetorik Ästhetik und Ethik eine innere Verbindung einzugehen. Oder um es mit Nietzsche zu sagen:
Das eigentliche Geheimniß der rhetorischen Kunst ist nun das weise Verhältniß beider Rücksichten, auf das Redliche und auf das Künstlerische. Überall, wo die „Natürlichkeit“ nackt nachgeahmt wird, fühlt sich der künstlerische Sinn der Zuhörer beleidigt, wo dagegen rein ein künstlerischer Eindruck erstrebt wird, wird leicht das moralische Zutrauen des Hörers gebrochen. Es ist ein Spiel auf der Grenze des Ästhetischen u. des Moralischen: jede Einseitigkeit vernichtet den Erfolg. Die aesthetische Bezauberung soll zu dem moralischen Zutrauen hinzukommen [...].26
Die Symbiose von ornatus und decorum scheint aus rhetorischer Sicht vonnöten zu sein, da das eine ohne das andere wirkungslos ist. Jede Art von Einseitigkeit wird den rhetorischen Erfolg einer Rede vernichten, denn nur gemeinsam verwirklicht, entfaltet sich erst die volle Macht der Rhetorik.
Jede rhetorische Handlung ist auf den Menschen als Empfänger einer Botschaft gerichtet und wirkt damit per se in einem sozialen Raum. Dieser ist durch gewisse moralische Maximen und soziale Verhaltensweisen und Sitten geprägt, die das Bewusstsein eines jeden Mitglieds dieser Gesellschaft – oft auch unbemerkt – beeinflussen. Eine Rede, die diese Prägung in der Ausgestaltung nicht beachtet, wird erfolglos sein. Sie kann nur dann wirken, wenn die Rede zum jeweiligen Setting passt und sich so einen angemessenen Platz in diesem sozialen Raum erobert. Der ornatus kann lediglich dann auf ein solch geneigtes Auditorium einwirken, wenn er das decorum beachtet. Nach Aristoteles ist dies dann gegeben, wenn „er [der sprachliche Ausdruck] auf einer rechten Mischung beruht: aus Herkömmlichem und Fremdem, Rhythmus und Glaubwürdigkeit, die von der Angemessenheit ausgeht.“27 Diese εὖ μιχθῇ wird durch das entscheidende Kriterium πρέποντος definiert. Das altgriechische Adverb εὖ beschreibt nicht nur den technisch-kompetenten Bedeutungsbereich, sondern hat auch eine moralische Konnotation, wie es beispielsweise im Ausdruck „εὖ πάσχω“ (mir widerfährt Gutes) oder εὐδαίμων (einen guten Dämon habend; glücklich/glückselig) zum Tragen kommt. Im Gegensatz zu καλός jedoch, welches ein ethisch Gutes, Schönes, Ehrenhaftes oder Edles in Bezug auf eine äußere Gestalt (Menschen und Götter) bezeichnet, ist mit „εὖ“ eher die Qualität einer Handlung, eines Wissens und Vermögens bewertet. So wird mit εὖ μιχθῇ nicht so sehr ein moralisches „gut“, sondern ein „gut“ im Sinne des richtig abgemessenen Maßes bezeichnet.
Diese gute Mischung zu treffen, lässt sich durch keine Regel garantieren und muss je situativ bestimmt werden. Quintilian gibt dieses Proprium des ornatus – seine nicht in Regeln zu fassende Seinsart – durch einen Vergleich mit dem individuellen Genuss von Speisen wider:
Die Beachtung dieser Regel [das rechte Maß halten] lässt sich eher gleichsam gefühlsmäßig mit dem Geschmack [iudicium] erfassen, als daß sich in Regeln fassen ließe, was hinreichend viel ist und wieviel die Ohren zu fassen vermögen; hier gibt es nicht ein festes Maß und gleichsam eine Gewichtsmenge, weil wie bei den Speisen den einen diese, den anderen jene eher sättigt.28
Cicero weist aus diesem Grund apophantisch auf die Gefahr eines falsch verwendeten ornatus hin. Das rhetorische Telos einer Rede ist es, ohne Überdruss (satietas) zu gefallen. Dies wird nach Cicero durch varietas und decorum im ornatus einer sprachlichen Ausformulierung verhindert.29 Ästhetischen Genuss, gestützt im Überzeugungsprozess durch das subjektive Zertum des Redners, soll das Publikum spüren, nicht Langeweile und Ekel. Wird jedoch keine gute Mischung von ornatus und decorum erreicht, so sind die rhetorischen Folgen fatal: Eine positive, da anziehende und so zu einer Art Symbiose führende Wirkung der Rede durch den ornatus ist zerstört, die Rede hat das Gegenteil von sozialer Bindung, nämlich Ablehnung von Seiten des Auditoriums, bewirkt, das rednerische Zertum konnte in keinen allgemeinen Konsens münden und Persuasion des Publikums ist nicht mehr möglich. Und der Redner hat sich als solcher selbst desavouiert, da er keinen passenden Stil für seine Rede gefunden hat, der den Redegegenstand, den Redeanlass, das Publikum und das Redeziel beachtet. In toto ist eine solche rhetorische Performanz nicht geeignet, den guten Charakter des Redners abzubilden und simultan das Ethos des Redners in den Köpfen und Herzen der Zuhörer zu verankern.
Einige öffentliche Auftritte deutscher Politiker, die diese fatale rhetorische Rückwirkung auslösen, mögen zur Illustration dienen. So ist beispielsweise Heinrich Heidel (FDP) zu nennen, der 2009 bei der Aktuellen Stunde im hessischen Landtag zum Thema Milchpreis in betrunkenem Zustand seine Rede hielt und statt persuasivem Erfolg lediglich abwertende Belustigung seitens der Opposition erntete. Trotz der Plausibilität seiner Argumente konnte aufgrund seiner Vortragsweise keine stringente Performanz und kein tragfähiges Ethos erreicht werden. Das nicht beachtete decorum schwächte sein Ethos als Redner und seine unprononcierte Aussprache machte die Argumente seiner Rede wirkungslos. So hat dieser Auftritt zwar nicht seine Karriere beendet, aber seine Rede hat ihren persuasiven Zweck nicht erfüllt, sondern ihn als nicht ernst zu nehmenden Volksvertreter exponiert. Auch die öffentlichen Auftritte anderer Politgrößen, wie des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke oder die häufig gestammelten Stilblüten des damaligen Ministerpräsidenten von Bayern, Edmund Stoiber, sind unvergessen