Die normative Kraft des Decorum. Sophia Vallbracht

Die normative Kraft des Decorum - Sophia Vallbracht


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Gänze wirksam werden.

      Doch im Altgriechischen meint ὔψος nicht nur den erhabenen Stil, sondern kann auch auf Personen bezogen sein. In Platons Politeia 487a diskutieren Glaukon und Sokrates über notwendige Eigenschaften der philosophischen Seele bei der Wahrheitssuche und sprechen dabei über die Vorbedingungen eines von Natur aus großen Mannes, der sich durch seine Eigenschaften wie Gelehrigkeit, Edelmut, Anmut, durch Wahrheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit hervortut. Auch Aristoteles behandelt in seiner Nikomachischen Ethik 1107b17 das Thema des tugendhaften Handelns als dasjenige, welches stets die Mitte wählt. Die Mitte ist das rechte Maß. Doch diesem widerspricht das Erhabene. Der altgriechische Terminus μεγαλοπρεπής bezeichnet einen Menschen mit einer großen Seele, der sich durch edle Naturanlage in seinem Charakter als ein großer Mann auszeichnet. Dieses altgriechische Adjektiv, das übersetzt „einem Großen angemessen“ und „erhaben“ bedeutet, wird außerdem bei Platon in Lysis 215e1 im Sinne von „großartig/höher“ und bei Pseudo-Demetrios in seinem Traktat Über den Stil (περὶ ἑρμηνείας/De elocutione), § 36 als einer von vier Stilen (χαρακτῆρες) eingeführt. Er löst sich hierbei von der klassischen Dreistillehre und führt stattdessen den einfachen (ἰσχνός), erhabenen (μεγαλοπρεπής), glatten/eleganten (γλαφυρός) und den gewaltigen Stil (δεινός) ein.

      Das zentrale Werk der Antike zum Begriff des Erhabenen steuert der Theoretiker Pseudo-Longinus bei. In der Schrift Vom Erhabenen in 9,2 wird Erhabenheit als moralisches Vermögen und innere Kraft verstanden: „ὔψος μεγαλοφροσύνης ἀπήχημα“ (Erhabenheit sei Widerhall von Seelengröße). Till betont, dass Pseudo-Longinus die Erhabenheit als Fähigkeit des Menschen sieht. Sie speist sich aus mehreren Quellen, wobei ästhetische, ethische, personelle und rhetorisch methodische Fähigkeiten eine Verbindung eingehen.2 Das Erhabene bei Pseudo-Longinus ist somit mehr als ein Stilbegriff, mehr als eine ästhetische Qualität und intendierte Wirkung, es weist auf den Menschen zurück.3 In der Rede ist nach Pseudo-Longinus’ Schrift Vom Erhabenen (12,4) das Erhabene ein Ideal, aber auch eine rhetorische Kraft (δυναστεία καὶ βία) am richtigen Ort zur rechten Zeit (καιρός) (Vom Erhabenen 1,4). Verfügt der Redner über diese Kraft, dann kann er über sich hinauswachsen, ja fast die Seelengröße Gottes erreichen (36,1). Die pathetische Kraft des Redners macht auch vor schrecklichen Bildern (9,7) nicht halt, die eigentlich gegen das Geziemende (τὸ πρέπον) verstoßen, aber sich quasi gewaltsam entleeren, einschlagen wie ein Blitz: „Das Erhabene aber, bricht es im rechten Moment hervor, zersprengt alle Dinge wie ein Blitz und zeigt sogleich die gedrängte Gewalt des Redners.“4

      Ist das Erhabene vielleicht die Ausnahme, die das Postulat von Angemessenheit erlaubt? Und wenn ja, wie kann das sein? Und schließlich, wie wirken decorum und Erhabenes aufeinander ein?

      Immanuel Kant gilt nicht nur aufgrund seines kategorischen Imperativs, seiner Pflichtethik und transzendentalen Vernunftkritik als wegweisender Philosoph des 18. Jahrhunderts, sondern er analysierte in der Kritik der Urteilskraft (1790) auch die beiden Begriffe des Schönen und Erhabenen. In dieser dritten und letzten Kritik bestimmt Kant die ästhetische Urteilskraft als selbsttätiges Erkenntnisvermögen und als Denkungsart, die „entweder zum Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich“ und so „mit dem moralischen Gefühl“ (KdU B, 170) verwandt ist.

      Schön ist das, was in der bloßen Beurteilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, daß es ohne alles Interesse gefallen müsse. Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.5

      Kant grenzt somit das Schöne deutlich vom Erhabenen ab.6 Schönheit gefällt unmittelbar, wird wahrgenommen mittels des Verstandes und der Einbildungskraft, wird „ästhetisches Reflexionsurteil“ (Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, IX) aufgrund formaler Kriterien. Es setzt „Erkenntnisvermögen“ (KdU B, LVI, LVII) voraus, ist „Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz“ (KdU B, 70), dessen Bestimmungsgrund das Gefühl ist. Das ästhetische Urteil wird von der „Urteilskraft in ihrer Freiheit“ (KdU B, 120) getroffen, wobei zwei Gemütskräfte, nämlich Einbildungskraft als „Vermögen der Anschauung“ und Verstand als „Vermögen der Begriffe“ (KdU B, 155/156) zusammenwirken. Somit ist das Schöne auf der einen Seite ein Geschmacksurteil, also subjektiv (KdU B, 138/139), auf der anderen Seite ist damit aber auch ein „Anspruch auf subjektive Allgemeinheit“ (KdU B, 19) verbunden.

      Das Erhabene geht darüber hinaus. Man nimmt es zwar ebenso „unmittelbar“ wahr, aber der Reiz löst offensichtlich auch einen gewissen Widerstand beim Betrachtenden aus. Dieser resultiert aus der formlosen Beschaffenheit und aus der Unbegrenztheit des Erhabenen, so dass sich die Idee des Erhabenen am meisten „in ihrem Chaos oder in ihrer wildesten regellosesten Unordnung und Verwüstung, wenn sich nur Größe und Macht blicken läßt“7, zeigt. Vom „Gefühl des Erhabenen“ (KdU B, 75/76) ergriffen, wird der Mensch vom Objekt – beispielsweise von Naturphänomenen – nicht nur angezogen, sondern auch abgestoßen. Aus diesem Grund spricht Kant von einer „indirekten“ und „negativen Lust“, wenn der Mensch vom Erhabenen als einem ästhetischen Gefühl (KdU B, 99), das im Menschen selbst wirkt, erschüttert wird (KdU B, 98).8 Das Erhabene ist nicht im Gegenstand der Natur zu finden, „sondern nur in unserm Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns, überlegen zu sein uns bewußt werden können.“9 Kant unterteilt das Erhabene in ein mathematisch-Erhabenes und ein dynamisch-Erhabenes. Mathematisch-erhaben bezeichnet eine unvergleichliche Größe (KdU B, 81: quantum), während dynamisch-erhaben „[d]ie Natur, im ästhetischen Urteile als Macht, die über uns keine Gewalt hat“, (KdU B, 102/103) bezeichnet. Erhabenheit ist zum einen die Größe schlechthin und zum anderen eine unwiderstehliche Macht der Erscheinung (τὰ φαινόμενα), die eine Gemütsbewegung auslöst, deren Gegenstand als etwas absolut Großes gedacht wird (KdU B, 81 und B, 84).

      Wenn das Erhabene nach Kant eine Idee der Vernunft ist und im Menschen als ästhetisches Urteil und Gefühl wirkt, wie lässt es sich dann angemessen darstellen? Foessel merkt an, dass die reflektierende Urteilskraft die Vorstellung des Erhabenen in erster Linie auf das Subjekt zurückführt, nicht auf das Objekt, und dass es sich somit einer objektiven Darstellung entziehe.10

      Ist das Erhabene somit eine nicht darstellbare Figur der menschlichen Einbildungskraft und Vernunft? Kant gibt auf diese Fragen in seinen mannigfaltigen Definitionen des Erhabenen (KdU B, 77/B, 94/B, 118) Antwort. Zunächst entzieht sich das Erhabene dem Angemessenen aufgrund der Unangemessenheit der ästhetischen „Größenschätzung“ (KdU B, 94). In seiner Kritik der Urteilskraft B, 77 definiert Kant das Erhabene als ein „übersinnliche[s] Substrat der Erscheinungen“ (KdU B, 238), als transzendentalen Vernunftbegriff. Solche Ideen sind nicht angemessen darzustellen, da sie nicht objektiv vorliegen, sondern als Vernunftbegriff „indemonstrabel“ (KdU B, 241) sind. Doch gerade diese Unangemessenheit kann sinnlich erfasst werden, beispielsweise über Naturphänomene, durch deren Anblick im Betrachter Ideen von Erhabenheit entstehen, die eine erhabene Denkungsart im Menschen auslösen. Aufgrund dieser Rückwirkung des Erhabenen auf die jeweils individuellen Empfindungen des Menschen spricht Dietmar Till in seiner Studie über das Erhabene (2006), ausgehend vom begrifflichen Konzept des Selbstgefühls, von einem „reflexive[n] Moment des ‚Erhabenen‘“ und einem „Ich-Bezug“ bei Kant.11 Wenn nach Kant das Erhabene übersinnlich ist und sich als Idee im Gemüte formt, so muss der Mensch mehr als nur eine tobende See anschauen, um Erhabenheit zu erleben. Der Mensch selbst wird Teil dessen, indem er durch die Anschauung von erhabenen Naturphänomenen in seinem Innern aktiviert wird: Er wird von den erhabenen Phänomenen ergriffen, jedoch nicht zwangsläufig überwältigt im eigentlichen Sinne. Befindet sich ein Mensch beispielsweise am Strand eines tobenden Meeres, das, von Orkanwinden aufgepeitscht, sich bedrohlich dem Land zu­wendet, wird er zwar die reale Bedrohung für sein Leben spüren und sich fürchten, aber zugleich eine Idee von Unendlichkeit und von Unangemessenheit seines Denkens verspüren.12

      Deshalb betont Kant in KdU B, 119, dass „in der transzendentalen Ästhetik der Urteilskraft


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