Homer und Vergil im Vergleich. Philipp Weiß

Homer und Vergil im Vergleich - Philipp Weiß


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in contr. 9, 1, 13 noch abgestritten hatte. Als positives Gegenbeispiel wird ihm der Deklamator Gallio gegenübergestellt, der die vergilische Phrase plena deo zwar überaus häufig, doch auch sehr geschmackvoll angewandt habe. Wie eigens vermerkt wird, habe Gallio die Phrase so verinnerlicht, dass er sie unwillkürlich und ohne es selbst zu merken in seine Rede einbaute (hoc ipsi iam tam familiare erat, ut invito quoque excideret), womit er ganz auf der Linie der von Dionysios geforderten Internalisierung der Vorbildautoren liegt.

      Seneca d.Ä. gibt keinen kompakten Kriterienkatalog, der Aufschluss darüber geben könnte, was er sich konkret unter gelungener imitatio vorstellt. Er argumentiert fallgebunden, lässt in den besprochenen Beispielen aber seine Nähe zum klassizistischen Nachahmungsbegriff erkennen, der u.a. auf der internalisierten Vertrautheit mit den Musterautoren, auf der Gabe zur Kombination von Vorbildern sowie auf einer Neigung zum Wettstreit mit dem Modell beruht.21 Was die Frage nach Originalität und Plagiat betrifft, so hat man zurecht auf einen Widerspruch zwischen der dargestellten literarischen Öffentlichkeit und den eigenen Ansichten Senecas d.Ä. aufmerksam gemacht.22 Wie sich den Publikumsreaktionen entnehmen lässt, war der ästhetische Eigenwert bewusster Rückgriffe auf anerkannte Muster in der augusteischen Periode und der frühen Kaiserzeit noch in der Diskussion begriffen und musste seitens der Deklamatoren als Anspruch oft genug noch explizit formuliert und durchgesetzt werden, um sich nicht dem Vorwurf des Plagiats auszusetzen. Demgegenüber vertritt Seneca ein moderneres, an der klassizistischen Ästhetik geschultes Nachahmungsverständnis und einen entsprechend engeren Plagiatsbegriff, der sich auf unlautere Übernahmen mit der Intention zur Verschleierung und dem Wunsch nach Steigerung des persönlichen Ruhms beschränkt.

      3.2 Vergil im Vergleich mit seinen Vorbildern nach dem Kriterium der Glaubwürdigkeit

      3.2.1 Ein Urteil des Maecenas und die Kategorie der sachlichen ὑπερβολή (suas. 1, 12)

      Seneca d.Ä. unterbricht zuweilen den Gang seiner Darstellung und fügt in Form von Exkursen ergänzende, thematisch zugehörige Anekdoten und kritische Einlassungen – mitunter aus dem Mund bekannter Persönlichkeiten – ein.1 Zu dieser Gruppe von Stilurteilen gehört auch der folgende Abschnitt, der von einer Homermetaphrase des griechischen Deklamators Dorion handelt. Maecenas vergleicht sie mit einer Stelle in der Aeneis, an der Vergil dieselben Homerverse imitiert, und kommt zu einem für Dorion ungünstigen Urteil. Der griechische Deklamator sei in den Stilfehler des „Schwulstes“ verfallen, wenn er Polyphem „einen Berg vom Berg abreißen“ und „eine in seiner Hand befindliche Insel <auf Odysseus> schleudern“ lässt:2

      corruptissimam rem omnium, quae umquam dictae sunt ex quo homines diserti insanire coeperunt, putabant Dorionis esse in metaphrasi dictam Homeri, cum excaecatus Cyclops saxum in mare deiecit: *** haec quomodo ex corruptis eo perveniant, ut et magna et tamen sana sint, aiebat Maecenas apud Vergilium intellegi posse. tumidum est ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται. Vergilius quid ait? Rapit ‘haud partem exiguam montis.’VergilAen. 10, 128 <Aen. 10, 128> ita magnitudini [scedat] studet, <ut> non imprudenter discedat a fide. est inflatum καὶ χειρία βάλλεται νῆσσος. Vergilius quid ait [qui] de navibus? ‘credas innare revolsas | Cycladas.’VergilAen. 8, 691–692 <Aen. 8, 691b–692a> non dicit hoc fieri sed videri. propitiis auribus accipitur, quamvis incredibile sit, quod excusatur antequam dicitur.3

      Methodisch lässt sich das angewandte Verfahren etwa so beschreiben: Zwei Texte, die als Nachahmungen eines gemeinsamen Prätextes – hier nicht zitiert, sondern nur durch ein kurzes inhaltliches Resümee bestimmt – identifiziert worden sind, werden mit ihrer Vorlage verglichen. (Im konkreten Fall wird man zwischen den beiden Homerimitationen Dorions und Vergils trotz haec quomodo ex corruptis eo perveniant kein eigenes Abhängigkeitsverhältnis annehmen.4) Seneca d.Ä. bzw. Maecenas präsentiert mit Dorion5 und Vergil zwei Homernachahmer, von denen der eine der beklagten rednerischen Verfallsperiode angehört (ex quo homines diserti insanire coeperunt), der andere hingegen die Kunst der Nachahmung in exemplarischer Weise repräsentiert. Dass es sich dabei um einen griechischen Deklamator und einen lateinischen Epiker handelt, wird nicht eigens problematisiert.

      Wie verhalten sich die Texte aber zu ihren jeweiligen Vorlagen? Die Zitate aus Dorions Paraphrase nehmen Bezug auf die homerische Kyklopenepisode (Od. 9, 106–566), genauer auf den Schlussteil der Erzählung, wo der geblendete Polyphem dem zu Schiff fliehenden Odysseus einen Stein nachwirft, der vor dem Schiff im Wasser auftrifft und dieses durch die entstehende Welle zur Küste zurückwirftHomerOd. 9, 481–486 (Od. 9, 481–486):6

      ὣς ἐφάμην, ὁ δ’ ἔπειτα χολώσατο κηρόθι μᾶλλον· | ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο, | κὰδ δ’ ἔβαλε προπάροιθε νεὸς κυανοπρῴροιο | [τυτθόν, ἐδεύησεν δ’ οἰήϊον ἄκρον ἱκέσθαι.] | ἐκλύσθη δὲ θάλασσα κατερχομένης ὑπὸ πέτρης· | τὴν δ’ ἂψ ἤπειρόνδε παλιρρόθιον φέρε κῦμα, | πλημυρὶς ἐκ πόντοιο, θέμωσε δὲ χέρσον ἱκέσθαι.7

      („So sprach ich. Doch der ergrimmte darauf noch mehr im Herzen, riss ab die Kuppe von einem großen Berge, schleuderte sie, und nieder schlug sie vorn vor dem Schiff mit dem dunklen Bug. Da wallte das Meer auf unter dem herniederfahrenden Felsen, und zurück zum Lande trug es die rückbrandende Woge, die Flutwelle aus dem Meer, und versetzte es, dass es an das trockene Land gelangte.“ ÜS Schadewaldt)

      Seneca d.Ä. bzw. Maecenas erkennt – ohne dass der homerische Prätext zitiert wird – in der vergilischen Formulierung haud partem exiguam montis (Aen. 10, 128a) eine Imitation von ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο (Od. 9, 481).8 Bei Vergil ist es der Lyrnesier Acmon, also ein Trojaner und Gefährte des Aeneas, der den schweren Stein hebt, um das Lager gegen die belagernden Rutuler zu verteidigen. Der Unterschied zu Dorions Ausdruck ὄρους ὄρος ἀποσπᾶται liegt darin, dass Vergil zwar die Größe des in die Höhe gewuchteten Felsblocks durch die Nennung des Berges betont, gleichzeitig – und im Unterschied zu Dorion – aber der Wahrscheinlichkeit Rechnung trägt, indem er Acmon nur einen Teil eines Berges tragen lässt. Diese beiden Punkte hebt Maecenas hervor, wenn er das Streben nach magnitudo9 anerkennt, gleichzeitig aber die fides gewahrt sieht.

      Der Bezug des zweiten Vergilzitats (Aen. 8, 691–692: pelago credas innare revulsas | Cycladas) zu Homer ist weniger deutlich. Die Stelle entstammt der Schildbeschreibung (Aen. 8, 626–728), die das achte Buch der Aeneis abschließt. Im zentralen Bereich des Schildes ist die Seeschlacht bei Actium dargestellt (Aen. 8, 675–713), bei der Octavian und Agrippa ihre Gegner Antonius und Kleopatra überwältigen. Beide Parteien benutzen Schiffe, auf denen hohe, turmartige Aufbauten angebracht sind.10 Die Vorstellung von den hoch aufgeführten Schiffstürmen veranlasst Vergil, sie mit den Kykladen (pelago credas innare revolsas | Cycladas) und – in einer allgemeineren Wendung – mit hohen Bergen (aut montis concurrere montibus altos) zu vergleichen. Vergils Vergleich hebt also auf die Höhe der Substruktionen ab – obwohl die Höhe nur selten als besondere Qualität der Inselgruppe genannt wird.11 Eine direkte Verbindung zu den zitierten Homerversen lässt sich hier jedoch nicht herstellen. Das Verbindungsglied ist vielmehr Dorions Metaphrase: Mit καὶ χειρία βάλλεται νῆσσος wird der vom Kyklopen geworfene Fels mit einer Insel gleichgesetzt, um seine gewaltige Größe zu kennzeichnen. Vergil wählt ebenfalls den Vergleich mit einer Insel, allerdings um die Größe der Schiffe vor Actium zu bezeichnen.

      Vor welchem Hintergrund trifft Seneca d.Ä. bzw. Maecenas aber nun sein stilkritisches Urteil, wenn er die fragmentierten Wendungen des Dorion, die er zitiert, als tumidum bzw. inflatum bezeichnet? Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage den stilkritischen


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