Homer und Vergil im Vergleich. Philipp Weiß

Homer und Vergil im Vergleich - Philipp Weiß


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veri superiectio; vgl. Quint. inst. 8, 6, 67), ohne dass er dabei aber einen negativen Hyperbelbegriff zugrundelegt.40 Auch bei Quintilian wird die fides, die Wirklichkeitstreue, als die sensible Bezugsgröße eingeführt, gegen die die Hyperbel tendenziell verstößt.41 Ähnlich wie Seneca d.Ä., der eigens hervorhebt, dass es sich bei den Schiffen nicht tatsächlich um Inseln gehandelt habe und Vergil die imaginäre Qualität seines Vergleichs durch credas hinreichend markiert habe, ordnet Quintilian die Vergilstelle in seiner Typologie der Formen der Hyperbel der Kategorie per similitudinem zu und bringt damit zum Ausdruck, dass der Gleichniswert des Bildes erhalten bleibt.42 Seneca d.Ä. bzw. Maecenas hingegen verteidigt Vergil mit dem Hinweis auf die legitime Strategie der προδιόρθωσις, wenn er in credas eine Vorbereitung des Hörers auf einen unter handlungslogischen Gesichtspunkten problematischen, hinsichtlich seiner Wirkung aber effektvollen Gedanken erkennt: propitiis auribus accipitur, quamvis incredibile sit, quod excusatur antequam dicitur.

      3.2.2 Ein Urteil Ovids und die Kategorie der psychologischen πιθανότης (contr. 7, 1, 27)

      Seneca d.Ä. gibt keine systematische Übersicht über die Kriterien gelungener Nachahmung, sondern legt seinen Söhnen die ästhetischen Grundbegriffe, denen er folgt, anhand von Einzelbeispielen dar. Vergil wird dabei durchweg als stilistisches Muster vorgestellt, der die Kunst der Nachahmung in vorbildhafter Weise repräsentiert.1 So auch in contr. 7, 1, 27, wo der von Seneca d.Ä. hoch geschätzte Julius Montanus auf eine Vergilimitation des Cestius zu sprechen kommt. Zwar handelt es sich hierbei nicht um einen Homer-Vergil-Vergleich im engeren Sinne, doch sind, wie noch zu zeigen sein wird, das homerische Modell und die daran anschließenden kritischen Diskussionen bei den besprochenen Texten präsent, sodass eine Behandlung in unserem Zusammenhang geboten erscheint.

      In contr. 7, 1 verlangte der Fall die Schilderung einer nächtlichen Meeresszenerie.2 Cestius3 hatte sich daran versucht, doch mangelte es dem Deklamator, der kein lateinischer Muttersprachler war, nach dem Urteil Senecas d.Ä. an der copia verborum.4 Dieser Umstand hinderte seinen Redefluss insbesondere dann, wenn er sich mit den großen literarischen Vorbildern messen wollte. In contr. 7, 1, 27 wird dies an einem Beispiel vorgeführt. Cestius schildert in einer narratio die Stille der Nacht: nox erat concubia, et omnia luce canentia <sub> sideribus muta erant („Tiefe Nacht war, und alles, was bei Tageslicht sang, schwieg <unter> den Sternen.“). Julius Montanus, selbst ein gewandter Dichter tiberischer Zeit und Verehrer Vergils,5 erkennt darin die Nachahmung einer Passage im achten Buch der Aeneis (Aen.VergilAen. 8, 26–27 8, 26–27). Ein stilistisches Urteil des Julius Montanus findet sich bei Seneca d.Ä. nicht, doch zeigt die einleitende Partikel des Folgesatzes at, dass Montanus die Nachahmung des Cestius für misslungen hält. Vergil habe in den zitierten Versen nämlich ebenfalls einen Dichter imitiert, dabei jedoch weit mehr Erfolg als Cestius gehabt. Als Vorbild Vergils gibt Julius Montanus einen Abschnitt aus den Argonautae des P. Terentius Varro Atacinus an.6 Der Passus schließt ab mit einem Verbesserungsvorschlag, den Ovid zur zitierten Varrostelle gemacht hat:

      Soleo dicere vobis Cestium Latinorum verborum inopia <ut> hominem Graecum laborasse, sensibus abundasse; itaque, quotiens elatius aliquid describere ausus est, totiens substitit, utique cum se ad imitationem magni alicuius ingeni derexerat, sicut in hac controversia fecit. nam in narratione, cum fratrem traditum sibi describeret, placuit sibi in hac explicatione una et infelici: ‘nox erat concubia, et omnia luce canentia <sub> sideribus muta erant.’ Montanus Iulius, qui comes fuit <Tiberii>, egregius poeta, aiebat illum imitari voluisse Vergili descriptionem: ‘nox erat et terras animalia fessa per omnis | alituum pecudumque genus sopor altus habebat.’ <Aen. 8, 26–27> at Vergilio imitationem bene cessisse, qui illos optimos versus Varronis expressis<set> in melius: ‘desierant latrare canes urbesque silebant; | omnia noctis erant placida composta quiete.’ <Varro At. carm. frg. 8 FPL4> solebat Ovidius de his versibus dicere potuisse longe meliores, si secundi versus ultima pars abscideretur et sic desineret: ‘omnia noctis erant.’ Varro quem voluit sensum optime explicuit; Ovidius in illius versu suum sensum invenit. aliud enim intercisus versus significaturus est, aliud totus significat.

      Gewöhnlich wird Ovids Vorschlag, den zweiten Halbvers bei Varro zu streichen, mit Verweis auf die auf diese Weise erzielte brevitas (= durch Kürzung verstärkte stilistische Prägnanz) erklärt.7 Zweifel an dieser einfachen Erklärung weckt aber schon die Präsentation durch Seneca d.Ä., der als unterscheidendes Merkmal zwischen Varro und Ovid herausstellt, dass in den beiden Versionen jeweils ein anderer Gedanke zum Ausdruck gebracht wird (Varro quem voluit sensum optime explicuit; Ovidius in illius versu suum sensum invenit). Seneca d.Ä. bescheinigt Ovid also geradezu das Gegenteil, nämlich den stilistisch gelungenen Ausdruck eines anderen Gedankens (optime explicuit). Lassen sich also alternativ anstelle der bislang vermuteten stilistischen auch sachliche Gründe für die Änderung ausmachen? Um dieses Frage zu beantworten, sind die Prätexte, auf die Varro und Vergil bei ihren Nachtschilderungen zurückgreifen – insbesondere Apollonios und Homer – und die Zeugnisse für die daran anschließende kritische Diskussion heranzuziehen. Auch hier wird eine präzise definierbare und bereits in der Antike reflektierte Schwachstelle in den Vorlagen auszumachen sein, welche eine genauere Bestimmung der ästhetischen Herausforderung, der sich die Imitatoren jeweils gegenübersahen, und einen besseren Nachvollzug ihrer Entscheidungen erlaubt.

      Zunächst ist von der Vorlage Varros, der entsprechenden Stelle in den Argonautika des Apollonios Rhodios, auszugehen und zu ermitteln, welchen dichterischen Erfordernissen der hellenistische Epiker bei seiner Nachtschilderung zu genügen hatte. Apollonios’ Darstellung lässt den Einfluss der kritischen Auseinandersetzung mit bestimmten homerischen Nachtszenen, nämlich mit denen am Beginn des zweiten und zehnten Buches der Ilias, erkennen. Doch betrachten wir zunächst die Schilderung des Apollonios im ZusammenhangApollonios3, 744–748 (Apoll. Rhod. 3, 744–748):

      νὺξ μὲν ἔπειτ᾽ ἐπὶ γαῖαν ἄγεν κνέφας: οἱ δ᾽ ἐνὶ πόντῳ | ναῦται εἰς Ἑλίκην τε καὶ ἀστέρας Ὠρίωνος | ἔδρακον ἐκ νηῶν: ὕπνοιο δὲ καί τις ὁδίτης | ἤδη καὶ πυλαωρὸς ἐέλδετο: καί τινα παίδων | μητέρα τεθνεώτων ἀδινὸν περὶ κῶμ᾽ ἐκάλυπτεν: | οὐδὲ κυνῶν ὑλακὴ ἔτ’ ἀνὰ πτόλιν, οὐ θρόος ἦεν | ἠχήεις, σιγὴ δὲ μελαινομένην ἔχεν ὄρφνην …

      („Die Nacht nun brachte Dunkelheit über die Erde, und die Seeleute auf dem Meer blickten von ihren Schiffen zum Großen Bären und zum Sternbild des Orion; auf Schlaf hoffte auch schon mancher Wanderer und Türhüter; selbst manche Mutter, deren Kinder gestorben waren, umfing tiefer Schlaf. Auch Hundegebell war in der Stadt nicht mehr zu hören, und auch kein Geräusch von Stimmen: Schweigen herrschte in dem schwärzer werdenden Dunkel.“ ÜS Glei/Natzel-Glei)

      Im zitierten Passus werden, bevor die Sprache auf Medea selbst kommt, eine Reihe von Personengruppen genannt, die nachts keine Ruhe finden. Es scheint, dass Apollonios schrittweise von der sorgsamen Wachsamkeit der Seeleute über die Schläfrigkeit der Wanderer und Türhüter zu den „vom Schlaf eingehüllten“ Müttern, die ihre Kinder verloren haben, fortschreitet, das allmähliche Einschlafen der ganzen Welt also dichterisch nachzuvollziehen versucht.8 Alle, die zuvor noch von Sorgen gequält waren, umfängt nach und nach tiefer Schlaf; nur Medea, die kontrastiv am Ende der Reihe steht, bleibt wach. Apollonios verleiht mit dieser narrativ steigernd strukturierten Darstellung den Sorgen der Verliebten besonderen Nachdruck: Das nächtliche Schweigen hat eine solche Gewalt9, dass ihm eigentlich niemand widerstehen kann. Medea hingegen ist von einer solchen inneren Unruhe gequält, dass sie sogar der Macht des Schlafes standhält.

      Wie aber sind das Schlafen der Vielen und das Wachen des Einzelnen zu bewerten? Wenn Schlaf in Situationen geschildert wird, in denen sich die Ruhe wegen einer drohenden Gefahr


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