Homer und Vergil im Vergleich. Philipp Weiß
weiter. Grundsätzlich ist hier zwischen selbstständigen und unselbstständigen Vergleichen zu unterscheiden: Selbstständige Vergleiche bilden jeweils das Thema einzelner Kapitel – z.T. argumentativ verbunden mit übergeordneten Fragestellungen –, unselbstständige Vergleiche haben eher beiläufigen Charakter; sie sind in den Argumentationsgang der jeweiligen Kapitel eingebunden, für diese aber nicht strukturbestimmend.
Inhaltlich lassen sich die unselbstständigen Vergleich in zwei Gruppen unterteilen: Solche, in denen Autoren, und solche, in denen Texte miteinander verglichen werden (Autoren- und Textvergleich). Eine gewisse formale und inhaltliche Varianz bieten schon die Autorenvergleiche: In einer Reihe von Kapiteln werden etwa bestimmte biographische Aspekte der behandelten Autoren – Redner, Philosophen, Dichter und Historiker –, wie z.B. Datierung, Lebensumstände und Charakterzüge, miteinander verglichen (biographischer A.-Vergleich).3 An anderer Stelle halten Gellius bzw. die auftretenden Gelehrten Autoren – wieder ohne Bezug auf konkrete Textstellen – gegeneinander (genereller A.-Vergleich), entweder um eine relative Wertung zu treffen (synkritischer A.-Vergleich) oder einfach um auf Unterschiede hinzuweisen, ohne Rangstufen festzulegen (qualitativer A.-Vergleich).4 Zum ersten der beiden Typen zählen auch die Stellen, an denen durch superlativische Ausdrücke beiläufig generelle Wertungen über einzelne Autoren gegeben werden,5 und solche, wo die Auseinandersetzung zwischen Autoren in Form von Wettkämpfen u.ä. – gewissermaßen inszenierte Kanonisierungsprozesse – beschrieben bzw. erwähnt wird.6
Geht man vom Autoren- zum Textvergleich über, so ergibt sich ein noch vielfältigeres Bild. Ein großer Teil der diesbezüglichen Bemerkungen bei Gellius betrifft das, was man modern als „Quellenkritik“ bezeichnen würde: Gemeinsamkeiten7 und Unterschiede8 der zu bestimmten sachlichen Fragen herangezogenen Schriften werden – z.T. pauschal, z.T. anhand konkreter Details – konstatiert (quellenkritischer T.-Vergleich). Damit verwandt sind auch die Zusammenstellungen von z.T. einander widersprechenden Ansichten verschiedener Philosophen bzw. -schulen zu konkreten Fragen (doxographischer T.-Vergleich).9 Das Interesse an sachlichen Abweichungen betrifft auch die Behandlung der Werke der Dichter: Auch hier werden sachlich zusammengehörige10 und abweichende11 Stellen gesammelt (sachlicher bzw. inhaltlicher Dichtervergleich).
Eine besondere Stellung nehmen diejenigen Passagen ein, an denen mit einem expliziten Hinweis auf eine vom Autor intendierte imitatio die literarische Abhängigkeit zwischen zwei Texten bzw. einzelnen Textstellen konstatiert wird. Das betrifft manchmal ganze Werke, in der Regel aber einzelne loci, versus oder verba12 – diese drei Felder literarischer imitatio führt Gellius beiläufig im Zusammenhang mit Vergils Lukrezanleihen ein (Vergleich von Modelltext und Nachahmung).13 Etwas anders gelagert sind die Stellen, an denen der Rückgriff auf einen allgemein bekannten, meist anonym überlieferten Gedanken, etwa eine Sentenz, durch einen Autor nachgewiesen wird (Gedanken- bzw. Sentenzenvergleich).14 Hier kann i.d.R. nicht von einem imitatio- bzw. aemulatio-Verhältnis gesprochen werden, die Parallele wird einfach wertneutral als gedankliche Entsprechung konstatiert.
Apologetischen Charakter haben die Stellen, an denen im Abgleich mit der auctoritas der „alten“, zumeist lateinischen Dichter eine Besonderheit im Sprachgebrauch – i.d.R. ein Abweichen vom sermo vulgaris bzw. von der consuetudo der Gegenwart im Bereich der verba – gerechtfertigt wird (Vergleich mit sprachlichen Autoritäten).15 Zu erwähnen ist außerdem noch der singuläre Vergleich verschiedener Gattungen der Historiographie in Gell. 5, 18 (Gattungsvergleich).16
Im engen Zusammenhang mit der Frage nach literarischer Abhängigkeit steht diejenige nach unlauteren Übernahmen aus anderen Schriften (Plagiat). Gellius kommt auf dieses Thema relativ selten zu sprechen. Immerhin referiert er in 3, 17, 4–6 den Vorwurf des Timon gegen Platon, wonach dessen Timaios zur Gänze einer pythagoreischen Lehrschrift nachgebildet sei.17 Das Gegenstück zum Plagiat, die Falschattribuierung eines nicht authentischen Werks an einen bekannten Autor, spielt hingegen eine weitaus wichtigere Rolle bei Gellius, etwa wenn es darum geht, die echten Stücke im Corpus Plautinum von den falschen zu scheiden (Pseudepigraphie).18
Ein benachbartes Gebiet von gleichwohl hoher Relevanz für die i.e.S. synkritischen Partien der Noctes Atticae ist die Übersetzung aus dem Griechischen und damit verbundene Fragen (Übersetzungsvergleich).19 Bilinguismus und Bikulturalität stellen bekanntlich eine kulturelle Konstante in der Entstehungszeit der Noctes Atticae dar.20 Gellius reflektiert an verschiedenen Stellen über die Übersetzbarkeit bestimmter Texte aus dem Griechischen ins Lateinische und stellt konkrete Übersetzungsvergleiche an.21 Praktischen Erwägungen folgen die bilinguen Synopsen griechischer und lateinischer Termini aus diversen Spezialdisziplinen, die Gellius der bequemen Übersicht willen zusammenstellt.22
4.1.3 Die synkritischen Kapitel in den Noctes Atticae
In einer ganzen Reihe von Kapiteln in den Noctes Atticae stellt der Textvergleich nicht einen gelegentlichen methodischen Zugriff auf bestimmte Texte dar, sondern er wird zum Thema des betreffenden Abschnitts selbst.1 Dies kommt z.T. schon in der Formulierung der Kapitelüberschriften zum Ausdruck. So ist Gell. 2, 23 etwa mit den beiden Begriffen Consultatio diiudicatioque locorum … überschrieben, die auf den analytischen (consultatio) und synkritischen (diiudicatio) Charakter des Abschnitts hinweisen.2 In den anderen tituli werden zwar nicht diese Termini, aber bedeutungsähnliche substantivische bzw. verbale Umschreibungen verwendet, wie aus der folgenden Übersicht zu ersehen:
Gell. 2, 23: Caecilius Statius und Menander (Consultatio diiudicatioque locorum facta ex comoedia Menandri et Caecilii, quae Plocium inscripta est)
Gell. 2, 27: Demosthenes und Sallust (Quid T. Castricius existimarit super Sallustii verbis et Demosthenis, quibus alter Philippum descripsit, alter Sertorium)
Gell. 9, 9: Vergil, Theokrit und Homer (Quis modus sit vertendi verba in Graecis sententiis; deque his Homeri versibus, quos Vergilius vertisse aut bene apteque aut inprospere existimatus est)
Gell. 10, 3: Cato d.Ä., C. Gracchus und Cicero (Locorum quorundam inlustrium conlatio contentioque facta ex orationibus C. Gracchi et M. Ciceronis et M. Catonis)
Gell. 11, 4: Ennius und Euripides (Quem in modum Q. Ennius versus Euripidis aemulatus sit)
Gell. 13, 27: Vergil, Parthenios und Homer (De versibus, quos Vergilius sectatus videtur, Homeri ac Partheni)
Gell. 17, 10: Vergil und Pindar (Quid de versibus Vergilii Favorinus existumarit, quibus in describenda flagrantia montis Aetnae Pindarum poetam secutus est; conlataque ab eo super eadem re utriusque carmina et diiudicata)
Gell. 19, 9: Römische und griechische Kleindichtung (titulus nicht überliefert)
Gell. 19, 11: Ps.-Platon und ein lateinischer Anonymus (titulus nicht überliefert)
Die Zahl von Kapiteln in den Noctes Atticae, die dem synkritischen Textvergleich gewidmet ist, legt es nahe, in diesen Fällen geradezu von einer eigenständigen literaturkritischen Kleinform zu sprechen. Inwieweit diese Annahme auch durch das Vorliegen gemeinsamer inhaltlicher und formaler Merkmale gerechtfertigt ist, soll im Folgenden durch eine knappe Analyse derjenigen Texte, die sich nicht speziell mit dem Homer-Vergil-Vergleich auseinandersetzen – vgl. zu diesen → Kap. 4.2 und 4.3 –, untersucht werden.
Das erste synkritische Kapitel der Noctes Atticae ist Gell. 2, 23,Gellius2, 23 der Vergleich einer griechischen Komödie Menanders (Πλόκιον)3 mit ihrer – heute ebenso wie das griechische Original verlorenen – lateinischen Übertragung durch Caecilius Statius.4
Die Unterschiede zwischen Menander und Caecilius werden in vier bzw. sechs Schritten erarbeitet: Nachdem Gellius in der Einleitung (I) seine Vorliebe für die Lektüre lateinischer Komödien nach griechischen Originalen (Menander, Poseidippos, Apollodoros, Alexis etc.) bekundet und festgestellt hat, dass nach ihrer Lektüre die griechischen Stücke in seinen Augen