Homer und Vergil im Vergleich. Philipp Weiß

Homer und Vergil im Vergleich - Philipp Weiß


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rigorosen Selektions- und Bearbeitungsvorgang der ursprünglichen Hervorbringung charakterisiert.33 Die Produkte des ingenium verlangen nach tractatio und cultus, d.h. ars, bevor sie ihre endgültige Gestalt erlangen – Vergil wird folgerichtig als vir[…] iudicii subtilissimi bezeichnet.34 Dieses Produktionsprinzip lasse sich besonders gut am Beispiel der Aeneis studieren, die – wie sich auch aus der angeblichen testamentarischen Verfügung Vergils, dass das Epos nach seinem Tod verbrannt werden soll, ergebe – die letzte Bearbeitungsstufe nicht erreicht habe und daher in der überlieferten Form sowohl ausgearbeitete als auch nur vorläufig abgeschlossene Partien enthalte.35 Die Synkrisis der beiden Ätnabeschreibungen hat demnach eine argumentative Funktion und soll ein Beispiel für die Stellen liefern, an die Vergil nicht mehr letzte Hand36 anlegen konnte.

      Fragt man nach den konkreten Beurteilungskriterien, auf die sich Favorinus in 17, 10, 13–19 stützt, so lassen sich die für Pindar in Vorschlag gebrachten positiven ästhetischen Kriterien folgendermaßen zusammenfassen:

       (1.) Realismus (1: … Pindarus veritati magis obsecutus id dixit, quod res erat quodque istic usu veniebat quodque oculis videbatur …)

       (2.) Differenzierte Darstellung von Einzelaspekten (12: Vergilius … utrumque tempus nulla discretione facta confundit)

       (3.) Transparenz i.S.v. Verständlichkeit (13: Atque ille Graecus quidem … luculente dixit)

      Dem stehen auf der Seite Vergils eine Reihe von Negativkriterien gegenüber, die sich z.T. als korrespondierende vitia den o.g. Positivkriterien zuordnen lassen:

       Einsatz von Klangmitteln auf Kosten des Inhalts (12: Vergilius autem, dum in strepitu sonituque verborum conquirendo laborat …)

       Unklarheit in der Verbindung von Vorstellungsbereichen ↔ Positivkriterium (3) (14: at hic noster ‘atram nubem turbine piceo et favilla fumantem’ ῥόον καπνοῦ αἴθωνα interpretari volens crasse et inmodice congessit)

       Verstöße gegen die eigentliche Wortbedeutung bei der Übertragung (15: ‘globos’ quoque ‘flammarum’, quod ille κρουνούς dixerat, duriter et ἀκύρως transtulit)

       Mangel an Anschaulichkeit bzw. konkreter Vorstellung ↔ Positivkriterium (2) (16: Item quod ait ‘sidera lambit’, vacanter hoc etiam … accumulavit et inaniter; 17–18: Neque non id quoque inenarrabile esse ait et propemodum insensibile, quod ‘nubem atram fumare’ dixit ‘turbine piceo et favilla candente.’ …)

       Unglaubwürdigkeit bzw. „Monstrosität“ ↔ Positivkriterium (1) (19: … hoc … nec a Pindaro scriptum nec umquam fando auditum et omnium, quae monstra dicuntur, monstruosissimum est.)

      Entscheidend für die Beurteilung ist wieder, dass Favorinus vom ästhetischen status quo der Vorbildstelle, d.h. vom besonderen poetischen Stil Pindars (vgl. 17, 10, 8: … qui nimis opima pinguique esse facundia existimatus est), ausgeht, und Vergils Nachbildung explizit an diesem Standard misst. Der „reiche bzw. volle“ – und das heißt hier: der erhabene – Stil schlägt bei nicht kunstgemäßer Handhabung um in „Schwulst“ (ebd.: insolentior … tumidiorque sit). Deutlich ist, dass Favorinus hier, wenn er einleitend auf die sententiae und verba als Gegenstände des Vergleichs hinweist, auf die rhetorische Lehre von den Redestilen hinauswill: Insbesondere der Gesichtspunkt der Unglaubwürdigkeit in der διάνοια bzw. der sententia wurde von den Rhetorikern als Kennzeichen des ψυχρόν ~ frigidum angesehen, aber auch Auffälligkeiten in der Klangwirkung, wie sie Favorinus an Vergil beanstandet bzw. registriert, fielen in diesen Bereich.37 Die Kritik in 17, 10 ist also auf einen anerkannten stilistischen Standard, nämlich den hohen Stil Pindars, bezogen, was auch heißt, dass sie sich nicht primär auf die sachlichen Unglaubwürdigkeiten und Unstimmigkeiten in der vergilischen Ätnabeschreibung richtet und sich damit auf traditionelle Realienkritik reduzieren ließe. Stattdessen wendet sie sich gegen eine für jeden Leser erkennbare, im Ergebnis misslungene aemulatio, die den genannten Standard zwar zu erreichen bzw. zu übertreffen versucht, dies mangels letzter künstlerischer Sorgfalt aber nicht umzusetzen vermag.

      Die beiden letzten synkritischen Kapitel der Noctes Atticae, Gell. 19, 9 und 19, 11, unterscheiden sich von den bislang behandelten in zweifacher, nämlich thematischer und methodischer, Hinsicht: Sie sind durch das gemeinsame Thema der Nachbildung bzw. Übersetzung griechischer Kleindichtung (Lyrik und Elegie) aufeinander bezogen und verzichten beide auf eine eingehende ästhetische Würdigung von Modell und Nachahmung. Stärker als bisher berührt gerade das erste der beiden Kapitel (Gell. 19, 9)Gellius19, 9 grundsätzliche Fragen des Kulturvergleichs zwischen Griechenland und Rom und des literaturhistorischen Stellenwerts der fraglichen Gedichte. Gellius verhandelt diese Themen, indem er für seine Gegenüberstellung exemplarischer Liebesgedichte eine komplexe Szenerie entwirft.

      Anlass ist die Geburtstagseinladung eines reichen, anonymen Jünglings (adulescens) aus dem Ritterstand, der, aus Asien stammend, sich allgemein durch seine Begabung, besonders aber durch seine Liebe zur Musik (res musica) auszeichnet.38 Er lädt Freunde und Lehrer zu einem Symposium bzw. einer cena auf sein Landgut „vor der Stadt“ – gemeint ist Athen – ein (19, 9, 1), unter ihnen Antonius Julianus, der an dieser Stelle als Rhetor – d.h. öffentlicher (Rede-)Lehrer –, beredter Kenner der Altertümer und der älteren römischen Literatur, vor allem aber als Spanier charakterisiert wird: … Antonius Iulianus rhetor, docendis publice iuvenibus magister, Hispano ore florentisque homo facundiae et rerum litterarumque veterum peritus (19, 9, 2).39 Auf Bitten des Julianus lässt der Gastgeber seinen gemischten Chor, den er für musikalische Darbietungen unterhält, Gedichte von Anakreon, Sappho sowie von jüngeren, nicht näher benannten Elegikern vortragen.40 Zitiert wird ein 15 Verse umfassendes Gedicht bzw. Gedichtfragment in katalektischen jambischen Dimetern, das Gellius dem Anakreon zuschreibt.41

      In 19, 9, 7–9 erfolgt dann im Anschluss an diese griechischen Darbietungen die direkte Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe von literaturkundigen Griechen – ihre Kompetenz auch auf dem Gebiet der lateinischen Literatur wird eigens betont (19, 9, 7: … et nostras quoque litteras haut incuriose docti …) – und Antonius Julianus. Ihr Vorwurf richtet sich gegen zwei Eigenschaften des Julianus, nämlich seine für die Griechen wenig respektable Herkunft aus der spanischen Provinz (… tamquam prorsus barbarum et agrestem, qui ortus terra Hispania foret …) und seine Tätigkeit als Lehrer der Rhetorik in der lateinischen Sprache, die für die Feinheiten griechischer (Liebes-)Dichtung ungeeignet sei (… clamatorque tantum et facundia rabida iurgiosaque esset eiusque linguae exercitationes doceret, quae nullas voluptates nullamque mulcedinem Veneris atque Musae haberet). Immerhin schränken sie dieses Urteil wieder ein, indem sie auf „einige wenige Stücke“ (pauca) der Neoteriker Catull und Calvus verweisen, die ihren Vorstellungen von guter Dichtung entsprechen. An den Zeitgenossen der beiden Dichter lasse sich aber der grundsätzliche Mangel an Anmut in der lateinischen Sprache klar erkennen.42

      Antonius Julianus entgegnet, dass seine Gegner an Liederlichkeit sogar den Alkinoos43 überträfen, wobei er charakteristischerweise – und ganz als Redelehrer, dem Catos Devise vom vir bonus dicendi peritus geläufig ist – Lebensführung und Poesie miteinander in Verbindung bringt: cedere equidem … vobis debui, ut in tali asotia atque nequitia Alcinoum vinceretis et sicut in voluptatibus cultus atque victus, ita in cantilenarum quoque mollitiis anteiretis (19, 9, 8). Mit dem Hinweis auf Alkinoos verfolgt Julianus sicherlich wie auch mit der folgenden sprechenden Geste den Zweck, seine Kompetenz auf dem Feld griechischer litterae zu beweisen. Er setzt den Angriff gegen seine Person mit einem Angriff gegen die lateinische Sprache (und Literatur) gleich (… nos, id est nomen Latinum …) und bedeckt sein Haupt mit dem pallium, dem traditionellen Gewand der Philhellenisten unter den Römern (19, 9, 9).44 Mit dieser Geste hatte – Julianus weist eigens darauf hin – der verschämte Sokrates in Platons Phaidros auf die Aufforderung seines Gesprächspartners reagiert, nach einer eben rezitierten Lysiasrede über die Liebe einen eigenen λόγος ἐρωτικός zu halten (Phaidr.


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